Populisten und Experten
Einst kämpfte die populistische Bewegung in den USA für sozialen Fortschritt – und ihre Eliten-Kritik war alles andere als wissenschaftsfeindlich
von Thomas Frank
Die eigentliche politische Krise in diesem Seuchenjahr liege, so heißt es oft, in der hartnäckigen Weigerung gewöhnlicher US-Amerikaner, die Autorität von Experten anzuerkennen. Da wütet eine Pandemie – und die Massen toben im Schwimmbad herum. Sie plappern dumme Verschwörungstheorien nach, verbreiten zweifelhafte medizinische Empfehlungen über soziale Medien, machen ihre Besorgungen ohne Maske, feiern auf der Straße. Und dann der Idiot von einem Präsidenten, der den Rat seiner Fachleute in den Wind schlägt, jeden außer sich selbst für die Katastrophe verantwortlich macht und eine Behandlung mit Desinfektionsmittel empfiehlt.
Dieser fundamentale Konflikt zwischen Ignoranten und Aufgeklärten ist schon seit Jahren ein Leitmotiv der Politik in den USA.1 Liberale, so glauben wir, seien der objektiven Wirklichkeit näher, sie hören auf das, was hochdekorierte Wissenschaftler sagen. Republikaner dagegen lebten in einer Welt der Mythen und Fabeln, in der die Wahrheit nichts gilt. Der Klub unserer Meinungsmacher verteilt entsprechende Punkte: Wir sind die Schlauen, die anderen die Dummen.
Die Pandemie hat dem Konflikt eine nie dagewesene Dringlichkeit verliehen. Vernünftige Amerikaner erklären feierlich ihren ewigen und unbeirrbaren Glauben an die Wissenschaft, und führende Politiker der Demokraten mahnen unser heimgesuchtes Land, die Erkenntnisse medizinischer Spezialisten so zu beherzigen, als wären sie das Wort Gottes.
Unsere „Vordenker“ haben auch eine Theorie zum Verständnis von ignorantem, krankheitsförderndem Verhalten entwickelt: Die Menschen, die ein solches an den Tag legten, seien nicht einfach dumm, sondern einer ausgefeilten Philosophie des Anti-Expertentums namens Populismus aufgesessen. Deren Vertreter – die Populisten – seien ungebildete Idioten, die Gebildete verachten und Fachkundige verhöhnen.2 Sie glaubten an Vorahnungen statt an Gelehrsamkeit, sie würden den Rat der Ärzteschaft missachten, sie priesen die Weisheit des Pöbels und seien allesamt Rassisten. Der Populismus sei der Feind der Wissenschaft, im Krieg mit dem gesunden Menschenverstand; ein Wegbereiter für Krankheiten, wenn nicht gar die Krankheit selbst.
So verlockend ist dieser Syllogismus, dass Mitglieder der denkenden Klasse unseres Landes nur allzu gern immer wieder darauf zurückkommen. Die Medizin liegt so offensichtlich richtig und der Populismus so offensichtlich falsch, dass das Feiern der einen und das Lamentieren über den anderen für sie zu einer der großen Erzählungen3 der Epoche geworden ist.
Doch: Der Grund unseres verheerenden Versagens bei der Bekämpfung des Coronavirus liegt zuallererst nicht in der außerordentlichen Dummheit Donald Trumps – auch wenn diese durchaus eine Rolle gespielt hat –, sondern in unserem Gesundheitssystem, dem die Gesundheit der Bevölkerung gleichgültig ist und das medizinische Versorgung als Luxusgut behandelt. Es treibt Menschen mit den Kosten für eine ganz normale Behandlung in den Ruin, verweigert ihnen den Zugang, wenn sie nicht versichert sind, und entzieht ihnen die Versicherung, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren – und Millionen verlieren durch die Pandemie gerade ihren Job.
Dass dieses System ist, wie es ist, hat einen einfachen Grund: Die organisierte Medizinerschaft nutzt seit fast einem Jahrhundert das Prestige ihres Fachwissens dafür, ein öffentliches Gesundheitssystem zum unerreichbaren Traum zu machen. Der Populismus hingegen war einst der Reformimpuls, der vergeblich versuchte, das System so zu verändern, dass es den einfachen Menschen dient.
Beginnen wir mit dem Begriff „Populismus“ selbst. Geprägt wurde er 1891 in Kansas durch eine neue Bauern- und Arbeiterpartei, der Populist Party, die eine moderne Währung unabhängig vom Goldstandard, den Kampf gegen Monopole und die Verstaatlichung der Eisenbahn forderte. Nach kurzzeitigen Erfolgen verkümmerte die Partei wieder. Dennoch war der Einfluss des Populismus noch Jahrzehnte danach spürbar. Seine Ideen prägten die Sozialistische Partei Amerikas, den New Deal der 1930er und 1940er Jahre4 und die Kampagnen von Bernie Sanders in den Jahren 2016 und 2020.
Die ersten Populisten waren mitnichten Gegner der Gelehrsamkeit. Im Gegenteil: Sie haben Hommagen an die Technik, an die Wissenschaft und Bildung verfasst, die so ernsthaft und kunstvoll waren, dass heutige Leser von ihnen peinlich berührt sind. Ihre Vorstellungen von staatlicher Regulierung und Wohlfahrt sahen sie in voller Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Zugleich aber standen sie im dauernden Kampf mit den wirtschaftlichen und akademischen Eliten, die die etablierte Ordnung für eine göttliche hielten. Die Populisten betrachteten alle Privilegien mit Misstrauen, auch das Prestige, das den akademischen Berufen Autorität verlieh. Im Skulpturengarten „Garden of Eden“ in Lucas, Kansas, der als installative Fibel populistischer beziehungsweise sozialistischer Prinzipien angelegt wurde, gibt es eine Darstellung der „Gekreuzigten Arbeiterschaft“. Als diejenigen, die den arbeitenden Menschen zu Tode quälen, zeigt die Skulptur die honorigen Spitzen der Gesellschaft: Bankier, Jurist, Arzt und Pfarrer.
Das populistische Denken war radikal demokratisch: Der Mensch kommt zuerst. Den Experten schrieben die ursprünglichen Populisten die Rolle zu, den Leuten zu dienen und sie zu informieren, während diese ihrem Tagwerk als Bürger in einer Demokratie nachgingen.
Zum Gesundheitswesen hatte die ursprüngliche populistische Bewegung kaum etwas zu sagen. In den 1890er Jahren hatte es sich noch nicht zu dem überaus kostspieligen bürokratischen Labyrinth verdichtet, das wir heute kennen. Aber als medizinische Behandlungen in den folgenden Jahrzehnten für die meisten Menschen unbezahlbar wurden, schufen Bauern, Gewerkschaften und Wohltätigkeitsorganisationen diverse alternative Strukturen, mit dem Ziel, die medizinische Versorgung für gewöhnliche, arbeitende Menschen erschwinglich zu machen.
Eine dieser neopopulistischen Initiativen entstand 1929 in Elk City in Oklahoma, einem Bundesstaat, in dem es einst eine starke populistische Strömung gegeben hatte. Die Idee war, ein genossenschaftliches Gesundheitssystem zu etablieren, in das Bauernfamilien jedes Jahr eine bescheidene Summe für den garantierten Zugang zu Ärzten, Zahnärzten und einer modernen Regionalklinik zahlen sollten. Die Mitglieder, also die Farmer, würden den Vorstand wählen und sich um die geschäftliche Seite der Genossenschaft kümmern.
Die Genossenschaftsklinik von Elk City
Ausgedacht hatte sich dieses System ein Arzt namens Michael Shadid, umgesetzt wurde es von der Farmers Union, die der alten Populistischen Partei entsprungen war. Shadid, ein Einwanderer aus dem Libanon und einstiges Mitglied der Sozialistischen Partei, hatte zwar ungewöhnliche politische Ansichten, war aber beileibe kein Quacksalber. Seine medizinischen Standards waren hoch. Was ihn von seinen Kollegen unterschied, war seine Kritik an den räuberischen Methoden, mit denen in Gegenden wie dem ländlichen Oklahoma ärztlich praktiziert wurde. Er verstand sich selbst als „Doktor für das Volk“,5 der das anhaltende amerikanische Problem der teuren Behandlungen und einer gesundheitlich angeschlagenen Bevölkerung lösen wollte.
„In Kriegs- und Friedenszeiten, in Zeiten der Panik und des Wohlstands, bei gutem und bei schlechtem Wetter gelten folgende unumstößliche Tatsachen“, schrieb Shadid: „Arme Menschen werden schneller krank, bleiben länger krank, brauchen am ehesten medizinische Hilfe und bekommen sie am wenigsten. Manche sind arm, weil sie krank sind. Andere sind krank, weil sie arm sind.“6
Er handle, so heißt es in einer anderen seiner Schriften, im Namen des amerikanischen Volkes, das darum kämpfe, „sich von der Herrschaft der Privilegien zu befreien, die dieses Land in Diktatur und Chaos führt“. Mit „Privilegien“ bezog sich Shadid vermutlich auf den Ärztebund American Medical Association (AMA). Dieser hatte ihm nach der Eröffnung seiner Genossenschaftsklinik den Krieg erklärt und setzte dem neopopulistischen Reformer aufs Bösartigste zu mit der Begründung, sein Projekt sei „unethisch“, da es Laien geschäftliche Entscheidungen übertrug. Erst versuchten die Standesgenossen, Shadid die Approbation entziehen zu lassen, dann warfen sie ihn aus dem AMA-Ortsverband, was zur Folge hatte, dass er seine Berufshaftpflichtversicherung verlor. Ärzte, die er einstellen wollte, wurden davor gewarnt, sich seinem Vorhaben anzuschließen, was diese tatsächlich auch fernbleiben ließ.
Die AMA wehrte mehrere Versuche einer Demokratisierung des Gesundheitswesens ab. Sie organisierte etwa den Boykott eines Molkereiunternehmens, um eine mit der Firma verbundene karitative Stiftung von ihren Forschungen zur Medizinökonomie abzubringen. Und als in Washington, D. C., eine ärztliche Genossenschaft nach dem Oklahoma-Modell gegründet wurde, berichtet der Historiker Paul Starr, „drohte die AMA mit Repressalien gegen alle Ärzte, die für das Projekt arbeiteten. Sie verhinderte, dass diese Ärzte Sprechstunden durchführen konnten und Überweisungen erhielten, und konnte jedes Krankenhaus im District of Columbia davon überzeugen, ihre Patienten nicht aufzunehmen“.7
Auf diese Ungeheuerlichkeit reagierte die US-Regierung mit einem Kartellverfahren gegen die AMA. Aber dadurch ließ diese sich nicht aufhalten. Immerhin gehörten ihr die größten medizinischen Koryphäen an, die verlangten, dass die Gesellschaft ihnen die Achtung entgegenbrachte, die ihnen zustand. So zog der AMA-Vorsitzende 1938 sogar gegen eine Studie der Regierung zur Reform des Gesundheitswesens zu Felde. Alle sozialen Hierarchien würden umgestoßen, wenn Ahnungslose den Ärzten diktieren wollten, was diese zu verschreiben hätten. „So eine Medizin ist weder wissenschaftlich noch wirtschaftlich vernünftig“, höhnte er.
Der Demokrat Harry S. Truman gewann die Präsidentschaftswahl 1948 mit einer Kampagne, die viel populistischer war als die von Trump 2016 – mit einer allgemeinen Krankenversicherung als zentralem Thema. Nach wenigen Monaten im Amt stellte er dem Kongress sein Programm vor, wobei er die Fortschritte der modernen Medizin ausdrücklich würdigte und darauf hinwies, dass diese sehr teuer geworden sei. „Es sind nicht mehr nur die Armen, die die notwendige medizinische Versorgung nicht bezahlen können – eine solche Versorgung ist für alle außer den oberen Einkommensgruppen unerschwinglich.“8
Die AMA schoss zurück, indem sie Trumans Plan als unamerikanisch und „diskreditiertes System dekadenter Nationen“ bezeichnete. Ärzte – hochgebildete Mitglieder eines hoch geehrten Berufsstandes – kämen unter die Fuchtel „einer gigantischen Bürokratie von Beamten, Sachbearbeitern, Buchhaltern und berufsfremden Ausschüssen“. Um Truman, diesem Landei aus Missouri, Einhalt zu gebieten, füllten die Standesvertreter ihre Kriegskasse mittels einer Sonderabgabe von ihren – recht wohlhabenden – Mitgliedern und engagierten eine kalifornische Firma namens Campaigns Inc., die erste Agentur für Politikberatung in der US-Geschichte. Die ließ einen Hagel von Pamphleten, Briefen und Karikaturen auf das Land niedergehen. Die „vergesellschaftete Medizin“, so die Botschaft, bedeute unwiderruflich das Ende der individuellen Freiheit. Trumans Projekt scheiterte, und so ging es jedem späteren Versuch, eine allgemeine Krankenversicherung in den Vereinigten Staaten einzuführen.
Im Nachbarland Kanada setzte sich die populistische Revolte der 1890er Jahre noch über mehrere Jahrzehnte fort, wie der Historiker Robert McMath berichtet,9 und führte während der Weltwirtschaftskrise zur Gründung einer radikalen Bauernpartei namens Co-operative Commonwealth Federation (CCF). Nach ihrem Wahlsieg 1944 in der Provinz Saskatchewan bildete die CCF bekanntlich die „erste sozialistische Regierung in Nordamerika“. Sie gewann auch die nachfolgenden Wahlen, so die des Jahres 1960, bei der sie versprach, eine allgemeine Gesundheitsversorgung für die gesamte Provinz aufzubauen. Im Juli 1962 war die CCF-Regierung so weit, Medicare, die erste gesetzliche Krankenkasse Kanadas, auf den Weg zu bringen.
Nun fuhr das medizinische Establishment schweres Geschütz auf. An dem Tag, an dem die Kasse ihre Arbeit aufnahm, traten die Ärzte der Provinz in den Ausstand. Es waren nur etwa tausend: Eine gebildete und gut bezahlte Minderheit wollte dem Rest des Volkes Respekt beibringen.
Bei diesem Showdown zwischen einer kleinen, aber angesehenen Berufsgruppe und den Arbeitern und Angestellten Saskatchewans kamen viele der bewährten Tricks der AMA, die über die US-kanadische Grenze hinweg die Saskatchewan Medical Association finanziell und beratend unterstützte, zur Aufführung.10 Deren Mitglieder leisteten ebenfalls eine Sonderabgabe zur Bezahlung von Propaganda. Die Handelskammer der Provinz und andere Berufsvereinigungen unterstützten den Ärztestreik. Die regionale Presse stellte sich mit überwältigender Mehrheit auf die Seite der Mediziner und prophezeite Kommunismus und Krankheiten. Selbst rechtsextreme Aktivisten machten bei der „Keep Our Doctors“-Bewegung mit, die gegen die Krankenkasse kämpfte: mit Massenkundgebungen und gezielter Hetze gegen Linke und Ausländer – Letzteres, weil die neopopulistische Regierung die Streikenden durch Ärzte aus Großbritannien ersetzte.
Offensichtlich war die Kernfrage auch bei diesem Konflikt, welcher Platz Experten in einer Demokratie gebührt. Damals hatten Ärzte das alleinige Entscheidungsrecht über Behandlungen und Kosten. Sie waren niemandem rechenschaftspflichtig außer ihren Kollegen. Das Projekt der CCF in Saskatchewan – ähnlich wie das Oklahoma-Modell und der Plan von Truman – drohte diese Macht zu schmälern, indem es der gemeinen Bevölkerung eine gewisse Autorität gegenüber einer der ranghöchsten Gesellschaftsgruppen einräumte. Die Ärzte seien die „Hohepriester“ unserer Welt, schrieb die Washington Post über die Ereignisse in Saskatchewan. „Und diese ‚Hohepriester‘ sind es nicht gewohnt, Befehle von Regierungsvertretern entgegenzunehmen.“
Der britische Arzt Stephen Taylor, der als Schlichter des Ärztestreiks in die kanadische Provinz berufen wurde, benutzte dafür ein medizinisches Vokabular: Die AMA, schrieb er 1974, „reagierte hysterisch auf Medicare; und sie versuchte, nicht ganz erfolglos, die Ärzte und die Öffentlichkeit in Saskatchewan mit ihrer Hysterie anzustecken“.11
Das Ergebnis war etwas, das ich als „Demokratie-Angst“ bezeichnen möchte: Die Angehörigen einer gesellschaftlichen Gruppe mit hohem Status waren überzeugt, dass die entfesselte Volksmasse ihre Privilegien gefährdete. Zu den wiederkehrenden Symptomen dieser Angst gehören die Darstellung von Demokratie als einer Form der Tyrannei, die Behauptung, die unteren Schichten mischten sich in Dinge ein, die sie nicht verstünden (Wirtschaft, Außenpolitik oder in diesem Fall Medizin), und eine Einstimmigkeit in den Medien.
All diese Elemente ließen sich beispielsweise auch bei dem großen Ausbruch von Demokratie-Angst 1896 beobachten, als die Führungsschicht in den USA mit fast einmütiger Unterstützung der Zeitungen überzeugt war, sie werde von einem blutrünstigen Proletariat bedroht. Als Anführer wurde der damalige demokratische Präsidentschaftskandidat William Jennings Bryan ausgemacht, ein vermeintlicher Radikaler, der auch die Unterstützung der Populistischen Partei genoss. Von der Empore der Ostküstenpresse herab prangerten die gebildeten Männer der 1890er Jahre die Populistenbewegung als einen Aufstand irregeleiteter Dummköpfe und Verrückter an.
Der Ärztebund als Besitzstandswahrer
Manchmal erfüllt die Demokratie-Angst durchaus ihren Zweck. 1962 jedoch war der große Streik des obersten einen Prozents in Saskatchewan ein gewaltiger Flop. Nachdem sich die erste Welle der Angst gelegt hatte, begann die Unterstützung für die Ärzte zu schwinden. Die Rhetorik mancher ihrer Verbündeten – ein Radioprediger forderte gar, es müsse Blut fließen – schreckte viele Leute ab.12 Innerhalb eines Monats war der Streik vorbei. Fünf Jahre später hatte jede Provinz Kanadas ein Gesundheitssystem wie Saskatchewan. Heute gilt Medicare als eine der größten Errungenschaften der kanadischen Gesellschaft.
Keine der von mir hier dargestellten Reformbemühungen hat die Bedeutung der Forschung oder bestimmter wissenschaftlicher Erkenntnisse infrage gestellt. Die Neopopulisten schätzten allesamt die moderne Medizin. Sie wollten sie nur für alle, auch die Ärmsten, zugänglich machen. Zwei Visionen einer Gesellschaft standen einander gegenüber: Privilegien versus Gleichheit.
„Das zentrale Thema des Konflikts zwischen der Regierung und den Ärzten in Saskatchewan ist nicht die Krankenversicherung, sondern die Demokratie“, stellte die in Toronto ansässige Zeitung The Globe and Mail nach Streikbeginn fest. „Die Experten egal welcher Fachrichtung müssen letztlich immer den Laien unterstellt sein, sonst kann die Demokratie nicht funktionieren.“
Genau das sei aber doch das Problem mit der Demokratie, hielten andere dagegen, denn sie gebe den ungebildeten Laien Macht über Leute, die ihnen überlegen seien. Der US-amerikanische Kolumnist George Sokolsky begründete seine wortgewaltige Unterstützung für die streikenden Ärzte von Saskatchewan damit, dass diese „in dieser Ära der Pöbelherrschaft einen Kampf für alle Experten führen“.
In den Augen des erbitterten Antikommunisten Sokolsky rangen Ärzte darum, den Kopf über Wasser zu halten, während der Rest der Welt im Meer der Gleichheit unterging. „Früher wurden Menschen dafür respektiert, was sie wert waren, heute scheint das Motto zu lauten: ‚Ich bin genauso gut wie du‘.“ Das aber sei eine falsche und verhängnisvolle Denkweise, wütete der Kolumnist. Es könne sich ja jeder äußern, aber da die Welt immer komplexer werde, „kann nur der Experte zur zunehmenden Zahl von Sachfragen eine Meinung haben“.
Sokolsky stand am äußersten rechten Rand, er war ein begeisterter Anhänger des Kommunistenjägers McCarthy; die CCF von Saskatchewan war eine linke Arbeiter-und-Bauern-Partei. Heute ist es genau andersherum: Harry Trumans Demokratische Partei ist zum Sprachrohr für wohlhabende und hochgebildete Fachleute geworden. Sie rettet pflichtbewusst die Finanzgenies an der Wall Street. Sie hört brav auf die Ökonomen, die den Freihandel glorifizieren. Und wenn unsere modernen Demokraten schon eine Gesundheitsreform planen, dann so, dass sie die Experten aller betroffenen Bereiche das System unter sich neu ausmachen lassen. Und am Ende wundern sie sich, dass die Öffentlichkeit darauf mit Empörung reagiert.
Auch im Gesundheitswesen haben sich die Parameter geändert. Die AMA ist nicht mehr das mächtige Bollwerk des medizinischen Lagers. Andere – private Klinikbetreiber und Versicherungen sowie Pharmakonzerne – haben sie im Kampf gegen eine allgemeine Krankenversicherung in den Hintergrund gedrängt.
Die größte Veränderung aber hat sich in den Köpfen vermeintlich Progressiver vollzogen. Ihre missbräuchliche Definition des Begriffs „Populismus“ zeigt, wie weit sie sich von den demokratischen Traditionen des Liberalismus entfernt haben. Sie finden inzwischen selbst Zensur mitunter durchaus sinnvoll13 und sehnen sich zurück in die gute alte Zeit, als die Firmenbosse unsere Politiker für uns auswählten. Demokratie sei ein Problem, denn sie erlaube den einfachen Leuten, die Autorität des Fachwissens zu ignorieren. Diese ungehorsame Demokratie sei für Trump verantwortlich. Ihretwegen könne nichts gegen den Klimawandel getan werden und bekäme man die Covid-19-Pandemie nicht in den Griff. „Wir, das Volk“, wie uns die Verfassung anruft, seien an allem schuld.
Die politische Landschaft steht kopf, aber der Konflikt ist derselbe. Das Expertentum, das jetzt eher mit der eisigen moralischen Reinheit der Linken als mit dem steinzeitlichen Antikommunismus der Rechten assoziiert wird, wütet gegen jene, die sich seiner Macht zu widersetzen wagen.
Lässt man die eigennützigen Fantasien unseres modernen Klubs der Meinungsmacher allerdings beiseite, kann man durch den Nebel liberaler Selbstgerechtigkeit immer noch die alte politische Gleichung erkennen. Schließlich ist es der unverhohlen populistische Senator Bernie Sanders, der heutzutage am stärksten mit dem Konzept einer allgemeinen Gesundheitsversorgung in Verbindung gebracht wird. Und es sind die Kräfte des organisierten Expertentums und der privatisierten Macht, die das Vorhaben immer wieder torpediert haben. Populismus ist nicht die clevere neue Bezeichnung dessen, was uns quält; Populismus, in seiner alten Bedeutung, kann das Mittel sein, um es loszuwerden.
2 Scott Leigh, „Time to end populism’s war on expertise“, Boston Globe, 7. April 2020.
6 Ders., „Doctors of today and tomorrow“, New York Cooperative League of the U.S.A., 1947.
10 medium.com/history-of-yesterday/medicare-opposition-2d57c93e50c0.
Aus dem Englischen von Nicola Liebert
Thomas Frank ist Journalist und Historiker sowie der Autor von „People, No: A Brief History of Anti-Populism“, New York (Metropolitan Books) 2020.