Babels Rätsel
Eine Kurzgeschichte
von Yan Lianke
Der Junge ging in die Stadt.
Die Stadt lag im Osten wie der Morgen.
Die Sommerferien waren so schnell gekommen wie der Schweiß an einem heißen Tag. Die letzte Stunde gestern war so leicht gewesen wie eine Matheaufgabe, die man auf Anhieb versteht.
Im Nu war der Unterricht zu Ende gewesen.
Ferien.
Beschwingt war der Junge aus dem Klassenzimmer gelaufen und hatte sich all die kleinen Zettel angeschaut, die neben dem Schultor am Schwarzen Brett hingen. Darauf standen Botschaften wie „Liebe Sowieso, ich liebe dich so sehr, dass ich jede Nacht komme“ oder „Bruder Zhang, du schuldest mir noch die drei Yuan, die du dir in diesem Halbjahr von mir geliehen hast“. Auch eine Zeile, die er nicht verstand, war darunter. Sie war auf Englisch geschrieben, mit dickem schwarzem Kugelschreiber auf dunkelrotem Papier:
„I fuck your mom“.
Die Worte sprangen ihn an wie ein Schwarm Gänse, also nahm er die Gänse mit nach Hause. Von dort ging er weiter zum Grundschullehrer, der hinter dem Dorf wohnte. Der Lehrer fütterte gerade seine Schweine. Als der Junge ihm den Zettel reichte, errötete der Lehrer und sagte drei Sätze:
„Das kann ich wirklich nicht lesen.“
„Du musst damit auch zu niemand anderem gehen, sowieso kommst du ja bald in eine höhere Klasse und lernst Englisch.“
Den dritten Satz sagte er erst, als der Junge schon wieder auf dem Weg nach Hause war. Der Lehrer kam ihm hinterhergelaufen und rief: „He, frag niemanden mehr danach, denn das hat bestimmt nichts Gutes zu bedeuten!“
Jetzt wollte der Junge erst recht fragen. Er wollte nun unbedingt erfahren, was „I fuck your mom“ bedeutete. Also entschloss er sich, am nächsten Morgen in die Stadt zu gehen und den Englischlehrer zu fragen. Kaum war er aufgestanden, hatte das Frühstück gegessen, das seine Mutter ihm zubereitet hatte, und das Taschengeld eingesteckt, das sein Vater ihm gegeben hatte, da machte er sich auch schon auf den Weg. Die Sonne war eben erst aufgegangen.
Nach ein, zwei Kilometern mündete der schmale Weg in eine breite Straße, und er setzte sich unter einen alten Schnurbaum und wartete auf eines der Motorräder, die hier vorbeikamen, um Fahrgäste mitzunehmen. Da schwirrte ein Schwarm Marienkäfer wie der Blitz an ihm vorbei, und ein paar Schmetterlinge flatterten auch noch vorüber. Prompt ging er doch lieber zu Fuß. Er lief ein Stück und verschnaufte, lief und verschnaufte, bis er endlich in der Stadt ankam. Da war ihm zumute, als hätte er seinen Traum schon mit Händen gepackt.
Ein paar mehrstöckige Gebäude, ein paar Reihen neuer Häuser und eine besonders breite Straße mit einem großen Gedenktor, dazu Läden und Stände an der Straße und Leute, die zum Markt gingen – das war das Ziel seiner Reise. Der Junge war ein bisschen erschöpft, aber kaum dachte er daran, dass er vielleicht schon bald den hiesigen Englischlehrer finden würde, war all seine Müdigkeit verflogen. Er zog den roten Zettel, auf dem „I fuck your mom“ geschrieben stand, aus der Tasche und betrachtete ihn, und nachdem er sich vergewissert hatte, dass der Zettel und die englischen Worte immer noch da waren, marschierte er durch das Gedenktor und folgte für ein paar Dutzend Meter der Straße. Dann sah er eine junge Frau, die am Straßenrand Röcke verkaufte. Er fragte sie, wo der Englischlehrer wohnte, aber sie wusste es nicht. Da kam hinter ihr ein junger Bursche mit einem Bündel Kleidung hervor, legte die Kleidung auf dem Boden ab und fragte den Jungen: „Suchst du Herrn Zhao, unseren Englischlehrer?“
Der Junge schaute ihn nur mit großen Augen an.
„Das ist mein Vetter“, sagte der Bursche. „Aber in seiner Wohnung wirst du ihn nicht finden. Heute ist Markttag, da ist er bestimmt in dem Elektroladen in der Zweiten Straße und verkauft Haushaltsgeräte.“
Der Junge wusste nicht recht, ob er ihm glauben sollte. Aber schließlich ging er doch zur Zweiten Straße, um den Elektroladen zu suchen. Die Straße war gut einen Kilometer lang, und an ihrem Ende fand er tatsächlich das Geschäft, von dem der Bursche gesprochen hatte, und darin den Englischlehrer. Das Geschäft gehörte der Familie des Lehrers und wurde normalerweise von seinem älteren Bruder und dessen Frau betrieben, aber in den Schulferien stellte sich der Lehrer selbst hinter den Ladentisch. Er war um die vierzig und mittelgroß, trug einen Bürstenschnitt und ein weißes Hemd, schwarze Lederschuhe, die ein bisschen schmutzig und zerknittert waren, und eine Jeans, die weder neu noch alt war. Er sah genauso aus wie in der Schule.
Der Laden bestand aus drei großen Räumen, und auf den Regalen standen lauter Reis- und Wasserkocher, Glühbirnen, Steckdosen und dergleichen mehr. Auf dem Boden an den Wänden reihten sich alle möglichen Fernseher aneinander, große und kleine, chinesische und ausländische. Ein Junge, der ein paar Jahre älter war als der Junge vom Dorf, schlenderte gemächlich vor der Theke umher und schaute sich um. Der Englischlehrer unterhielt sich gerade vor einem großen Fernseher mit einem alten Ehepaar.
Da trat der Junge ein.
Vor lauter Schüchternheit blieb er an der Tür stehen und wagte nicht weiterzugehen, sondern wartete geduldig darauf, dass der Lehrer sein Verkaufsgespräch beendete. Endlich entschloss sich das Ehepaar, den Fernseher nicht zu kaufen, und der Lehrer brachte die beiden alten Leute bis vor die Tür. Als er wieder zurückkam und sah, wie ihn der Junge mit rotem Gesicht anschaute, da fragte er ihn: „Was suchst du denn?“
„Ich gehe auf die Mittelschule“, sagte der Junge und hielt dem Lehrer den säuberlich zusammengefalteten roten Zettel hin. „Ich möchte Sie fragen, was das Englisch hier bedeutet.“
Der Lehrer nahm ihm den Zettel aus der Hand und faltete ihn auseinander. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, legte sich ein Schatten auf sein Gesicht. „Wer hat das für dich geschrieben?“, fragte er den Jungen.
„Gestern, nach der letzten Stunde vor den Ferien, habe ich das am Schwarzen Brett beim Schultor gefunden“, antwortete der Junge.
Der Lehrer fixierte ihn durchdringend. „Und du weißt wirklich nicht, was das bedeutet?“
„Wir lernen erst ab dem nächsten Schuljahr Englisch.“
Der Lehrer gab ihm den Zettel zurück. „Dann wirst du es im nächsten Halbjahr schon verstehen.“
Ohne den Zettel zu nehmen, protestierte der Junge hastig mit lauter Stimme: „Aber ich bin extra zehn Kilometer von zu Hause gelaufen, um Sie das zu fragen!“
Ungläubig starrte der Lehrer ihn an, als wollte er ihn mit seinem Blick durchbohren. „Zehn Kilometer?“
„Ja.“
Zufrieden bemerkte der Junge, wie verdutzt der Lehrer dreinschaute, und fügte hinzu: „Ich bin auch in die Stadt gekommen, um im Buchladen ein paar Bücher zu kaufen.“
Nun war der Lehrer erleichtert. „Wenn du sowieso in den Buchladen gehen willst“, sagte er und tätschelte dem Jungen den Kopf, „dann kauf doch auch gleich ein Englisch-Wörterbuch. Darin musst du nur nachschlagen, und schon weißt du Bescheid. Ich habe mein Wörterbuch leider nicht dabei, deshalb kann ich dir im Moment wirklich nicht sagen, was diese englischen Worte auf Chinesisch bedeuten.“ Er lächelte zerknirscht, als wäre er von großem Bedauern erfüllt, faltete den Zettel wieder zusammen und drückte ihn dem Jungen in die Hand.
Enttäuscht verließ der Junge den Laden. Vor der Tür blieb er wie verloren stehen. Auf der Straße wimmelte es jetzt von Leuten, die zum Markt gingen. Über der kleinen Stadt machte sich die Glut des Juni breit, und überall in der Luft waberte der Geruch von heißem Schweiß. Zögernd machte sich der Junge auf den Weg zum Buchladen, da kam plötzlich jemand von hinten herbeigelaufen und klopfte ihm auf die Schulter.
Der Junge blieb stehen und drehte sich um. Vor ihm stand der Junge, den er eben im Laden gesehen hatte. Der andere war fast einen halben Kopf größer als er und drei oder vier Jahre älter. „Ich weiß, was das Englisch bedeutet, das du eben Herrn Zhao gezeigt hast“, sagte der Ältere und streckte seine Hand aus, um den roten Zettel an sich zu nehmen. Der kleine Junge gab ihm den Zettel. Der Große faltete den Zettel auseinander und warf einen Blick darauf, ehe er mit einem komischen Grinsen verkündete: „Ich sage dir, was da steht, aber dafür musst du mir eine Wassermelone kaufen.“
Der Kleine starrte den Großen nur an.
Der Große schaute sich um und zog den Kleinen zu einem Melonenstand am Straßenrand. Der Händler lud die Melonen gerade vom Wagen ab. Davor stand ein kleiner Tisch, auf dem eine frisch aufgeschnittene Wassermelone so rot leuchtete wie die erste Morgensonne. Mit geübter Hand suchte sich der Große eine Melone vom Boden aus und ließ sie wiegen. Nachdem der Kleine für ihn die drei Yuan und zwei Mao, die die Melone kostete, bezahlt hatte, zog der Große ihn wieder zur Seite, entfaltete den Zettel von Neuem und betrachtete ihn kurz. Dann verkündete er mit ruhiger Stimme: „Diese Worte bedeuten: Ich ficke deine Mutter.“
Als hätte er nicht verstanden, starrte der Kleine zu dem Großen hinauf.
Voller Ernst wiederholte der Große: „Wirklich: Ich ficke deine Mutter!“
Aus Angst, der Kleine könnte ihm nicht glauben, wiederholte er ein weiteres Mal: „Ich ficke deine Mutter!“, nachdem er vorher auch noch das Englische vorgelesen hatte.
Der Kleine starrte ihm noch immer bloß ins Gesicht, aber um seine Mundwinkel zuckte es, und als der andere ihm den Zettel zurückgeben wollte, drehte er sich zum Stand um, schnappte sich das lange, scharfe Melonenmesser und stieß es dem Großen in den Bauch. Das alles geschah so schnell, wie ein Wassertropfen herunterfällt.
Der Große spürte keinen Schmerz, er war bloß verdutzt, wie es so weit hatte kommen können, und seufzte matt, während ihm die Melone aus dem Arm fiel. Dann sackte er auf die Knie, und das Blut und der Melonensaft vermischten sich zu einer einzigen großen Lache, in der man das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden konnte.
Gleich nachdem er zugestochen hatte, marschierte der Kleine davon. Er ging nur ein klein bisschen schneller als sonst, aber als er in den Menschenstrom auf der breiten Straße eintauchte, war nicht mehr Zeit vergangen, als ein Tropfen von einem Dachvorsprung zum Boden braucht.
An diesem Tag im Juni herrschte eine Gluthitze wie in einem Backofen. Überall stank es faulig nach Schweiß. Gegen Mittag kehrte der Junge mit einem Motorrad aus der Stadt zurück. Seine Eltern saßen im Hof und aßen. Sie fragten ihn, ob er denn gar nicht auf dem Markt gewesen sei.
„In der Stadt sind viel zu viele Leute, das macht keinen Spaß“, antwortete er und verschwand in der Küche, wo er kühles Brunnenwasser in eine Schüssel schöpfte und es gluckernd hinunterstürzte.
Als er wieder in den Hof hinausgegangen war und vor seinen Eltern stand, schrillte vom Dorfeingang her eine schneidend kalte Polizeisirene, begleitet von allerlei Fußgetrappel. Anscheinend fuhr das Polizeiauto geradewegs auf das Haus des Jungen zu. Seine Eltern spitzten neugierig die Ohren, er jedoch sagte mit bleichem Gesicht, aber lächelnd zu ihnen auf Englisch:
„Dad, mom, I love you!“
Peking, 20. Mai 20201
Aus dem Chinesischen von Marc Hermann
Yan Lianke gehört zu den bedeutendsten chinesischen Schriftstellern der Gegenwart. Einige seiner Romane wurden sofort nach Erscheinen verboten, für andere hat er die wichtigsten Preise Chinas gewonnen. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt „Die vier Bücher“, übersetzt von Marc Hermann, Frankfurt am Main (Eichborn) 2017. Die hier abgedruckte Erzählung hat er exklusiv für Le Monde diplomatique geschrieben.