Das Geheimnis von Arsamas-16
Die Forschungsstädte des sowjetischen Atomprogramms waren auf keiner Landkarte verzeichnet. Einige von ihnen sind bis heute Sperrgebiet
von Christophe Trontin
Jahr für Jahr pilgern rund 50 000 Gläubige nach Diwejewo, um auf den Spuren des Heiligen Seraphim von Sarow (1754–1833) zu wandeln. Tief im Wald liegt der Felsen, auf dem der russische Asket tagelang gebetet haben soll. Ganz in der Nähe entspringt eine Quelle, an der die Pilger ihre Flaschen füllen. Die eifrigsten von ihnen lassen es sich nicht nehmen, im nahen See gleich ganz in das eisige Quellwasser einzutauchen.
Die nächste Station ist der Platz vor der Kirche, wo sich alle bekreuzigen. Aber weiter kommen sie nicht. Die 12 Kilometer entfernte Stadt Sarow und das Sarower Kloster mit der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale – dem Ort, an dem Seraphim der Überlieferung nach seine Wunder vollbracht hat – sind Sperrgebiet. Die Stadt hat zwar ihren Codenamen Arsamas-16 vor einiger Zeit abgelegt, ist aber immer noch von Stacheldrahtzäunen umgeben, die vom Militär bewacht werden.
Zu Sowjetzeiten war der Ort von den offiziellen Landkarten gelöscht. Seine handverlesenen Bewohner waren nach 1945 unter strengster Geheimhaltung damit beschäftigt, „den atomaren Schutzschild des Landes zu schmieden“. Auch heute noch ist der Zugang nach Sarow streng reglementiert. Nur die knapp 100 000 Einwohner und Besucher mit spezieller Genehmigung dürfen den Kontrollposten passieren.
Die Bürgerinnen und Bürger von Sarow müssen zuerst einen persönlichen Badge einscannen und einen sechsstelligen Code eingeben, bevor ihre Identität noch einmal kontrolliert wird. Akkreditierte Besucher werden aufgefordert, ihre Handys, Fotoapparate und sonstige Kommunikationsgeräte abzugeben. Erst dann werden sie zum Protokollchef des Unternehmens vorgelassen, dessen Gäste sie sind.
Erstaunlicherweise findet sich die orthodoxe Kirche mit den Zugangsbeschränkungen zum Wallfahrtsort klaglos ab. 2007 hat Präsident Wladimir Putin in einer feierlichen Zeremonie in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale an die Versöhnung zwischen Militäringenieuren und Kirchenoberen im Jahr 1990 erinnert. Damals hatten die Sarower Hüter des Atoms der Kirche die noch erhaltenen Klostergebäude zurückgegeben; im Gegenzug hatte der Patriarch von Moskau den Mönch und Mystiker Seraphim zum Schutzheiligen der Atomwissenschaftler ernannt.
Doch für das moderne Sarow war die wissenschaftliche Forschung viel wichtiger als die Ergründung der Geheimnisse der Schöpfung. Bei der Konferenz von Jalta im Februar 1945 hatte Stalin gegenüber Churchill und Roosevelt die Befürchtung geäußert, seine westlichen Bündnispartner könnten auf einen Konflikt mit Moskau zusteuern. Tatsächlich begann man in Washington und London gleich nach dem Fall von Berlin zu überlegen, wie man die strategische Überlegenheit gegenüber der geschwächten Sowjetunion ausnutzen könnte.
Stalins Ängste schienen sich zu bestätigen, als am 16. Juli 1945 in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe gezündet wurde. Im August folgte mit der Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki der endgültige Beweis, dass die USA zum Einsatz der neuartigen Waffe entschlossen waren.
In Moskau wurde das als direkte Warnung verstanden. Aus sowjetischer Sicht erschien die Bedrohung durch die ehemaligen Verbündeten genauso groß wie die durch Nazideutschland vier Jahre zuvor. Am 20. August 1945 beschloss der Ministerrat, die nukleare Forschung voranzutreiben, um das strategische Gleichgewicht mit dem Westen wiederherzustellen – und das unter strengster Geheimhaltung, um der Gefahr eines feindlichen Präventivschlags vorzubeugen.
Höchste Priorität hatte deshalb die Suche nach einem geeigneten Ort für die Ansiedlung der ultrageheimen zentralen Forschungsstätte. Die für die Projektumsetzung verantwortliche Arbeitsgruppe unter der Leitung von Lawrenti Beria1 entschied sich am Ende für das 350 km östlich von Moskau gelegene Dorf Sarow.
Der Ort wurde zusammen mit einigen Siedlungen und Dörfern aus der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Mordwinien herausgelöst und aus allen öffentlich zugänglichen Dokumenten gelöscht. Ein Teil der insgesamt 9500 Einwohner wurde bei der auf Granatenproduktion spezialisierten Rüstungsfabrik Nr. 550 angestellt. Diese Beschäftigten konnten bleiben, der Rest der Bevölkerung wurde in Orte jenseits der verbotenen Zone umgesiedelt.
Durch den Zustrom weiterer Arbeitskräfte und Spezialisten wuchs Sarow zu einer kleinen Stadt heran. Zunächst wurden Werkswohnungen errichtet, dann ein Krankenhaus, ein Stadion, ein Kulturhaus, eine Bibliothek, ein Theater. Der Bau der ganzen Anlage erfolgte recht chaotisch und ohne Plan. Teile der Labors wurden provisorisch in den Klostergebäuden untergebracht. Bei den Bauarbeiten wurden Strafgefangene eingesetzt, die offiziell als „Spezialkontingente“ bezeichnet wurden.
Politische Häftlinge mussten das Uran abbauen
Die Arbeitskräfte wurden bei ihrer Einstellung vom Sicherheitsapparat durchleuchtet. Bei allen Kandidaten – ob Ingenieur in der Forschungsabteilung „KB-11“ oder Arbeiter auf einer der vielen Baustellen – wurde der politische Stammbaum „bis in die dritte Generation“ überprüft. Die Beschäftigten durften den Standort nur mit Erlaubnis des Sicherheitsdienstes verlassen, der Reisen aus persönlichen Gründen nur selten bewilligte. Urlaub außerhalb der Zone war verboten. Zum Ausgleich gab es Gratifikationen wie höhere Löhne und ein besseres Warenangebot als jenseits der Sperrzone.
Nachdem man Sarow den Tarnnamen Arsamas-16 verpasst hatte, konnte die Verwendung des ursprünglichen Namens zu einer Anklage wegen Geheimnisverrats führen. Der private Briefverkehr lief über das Sonderpostfach „Moskau-Zentrum 300“. Als Straßennamen wurden solche gewählt, die es auch in Moskau gab. So konnten Wissenschaftler aus dem Bereich KB-11 bei ihren Reisen Polizeikontrollen passieren, ohne dass ihr tatsächlicher Wohnort offenbar wurde.
Die in Arsamas-16 arbeitenden Menschen reagierten auf die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit und die Geheimhaltungspflicht ganz unterschiedlich. Der Physiker Andrej Sacharow zum Beispiel, der später zum bekanntesten Dissidenten der Sowjetunion wurde und 1975 den Friedensnobelpreis erhielt, beklagt in seinen Memoiren den „belastenden Freiheitsentzug“.2 Andere lobten hingegen die Flexibilität, die das Sicherheitspersonal in Grenzfällen zeigte.3
Dass die Ausgangsbeschränkungen streng waren, ist jedoch unbestritten. Insofern erlebten die Ingenieure ihr Sarow ganz ähnlich wie viele Generationen von Mönchen vor ihnen: als ein von der Außenwelt abgeschiedenes Kloster. Vom heiligen Seraphim ist der Ausspruch überliefert: „Echter Glaube darf nicht untätig sein, wer wirklich glaubt, hat immer etwas zu tun.“ So hätte auch die Maxime der Sarower Wissenschaftler lauten können, die selbst in ihrer Freizeit noch über Fragen der kritischen Masse und Neutronenkonzentration diskutierten.
Ein weiterer Motivationsschub war für die Forscher die Erklärung von US-Präsident Harry S. Truman vom 12. März 1947, die als Truman-Doktrin in die Geschichte einging und den offiziellen Beginn des Kalten Kriegs markierte. Alsbald begannen im Pentagon die Planungen für die Operation „Dropshot“, die Anfang 1950 abgeschlossen waren. Das Szenario sah einen Überraschungsangriff auf die Sowjetunion vor, mit dem Ziel, „die wichtigsten Industrie-, Militär- und Forschungszentren der UdSSR“ durch 200 bis 300 nukleare und rund 30000 konventionelle Bomben zu zerstören.
Auf sowjetischer Seite erbrachte die koordinierte Zusammenarbeit der prominentesten Wissenschaftler, Ingenieure und Konstrukteure – unter Beihilfe der Geheimdienste und einiger „Atomspione“ innerhalb von nur vier Jahren den angestrebten Erfolg: die erste sowjetische Atombombe mit dem Codenamen RDS-1. Einer der Projektleiter, Juli Chariton, erinnerte sich Jahrzehnte später an diese „Zeit von unbeschreiblicher Intensität, Kreativität und Selbstverleugnung“, in der es den „Helden“ von Arsamas-16 gelungen sei, „das amerikanische Monopol auf die Atombombe zu brechen“.4
Innerhalb der nächsten vier Jahre gelang den Wissenschaftlern in Sarow auch die Entwicklung einer Wasserstoffbombe – womit sie bei der Entwicklung von Kernwaffen quasi mit den USA gleichzogen. Dies war umso bemerkenswerter, als die durch den Zweiten Weltkrieg verwüstete und ausgeblutete Sowjetunion zeitgleich den Wiederaufbau meistern musste, während die vom Krieg viel weniger gebeutelten USA über kolossale Finanzmittel und einen beispiellosen Militär- und Industrieapparat verfügten.5
Das Modell einer abgeriegelten, direkt neben einer Produktionsstätte gelegenen Stadt wurde auf die vielen anderen Stützpunkte des sowjetischen Atomprogramms übertragen. In Sarow, wo die Grundlagenforschung konzentriert war, liefen die Fäden zusammen. Die Produktion wichtiger Grundstoffe wurde bereits 1945 auf mehrere Kleinstädte im Ural und in Sibirien verteilt. Ab 1948 produzierte ein vom Wissenschaftlich-Technischen Institut Majak errichteter Reaktor atomwaffenfähiges Plutonium in der Sperrzone der geschlossenen Stadt Osjorsk bei Tscheljabinsk, die den Codenamen Tscheljabinsk-65 erhielt.6 Und 1949 lief in der ebenfalls geschlossenen Stadt mit der Tarnbezeichnung Tomsk-7 das streng geheime Programm zur Produktion von Uran 235 an.
Zu den gefährlichsten Arbeiten – Abbau von Uranerz und Aufarbeitung zu Spaltmaterial – wurden politische Häftlinge und andere Strafgefangene aus dem Gulag abkommandiert. Das zynische Motto Stalins, wonach „die Feinde des Volkes beim Aufbau des Sozialismus ihre eigene Rolle zu spielen haben“, bedeutete nach dem Befund des Historikers Juri Fjodorow, dass von 1945 an 13 dem sowjetischen Innenministerium NKWD unterstehende Arbeitslager mit 103 000 Häftlingen dem Atomprojekt zu dienen hatten. Weitere 190 000 Häftlinge wurden als Zwangsarbeiter zum Abbau wichtiger Erze eingesetzt.7 Nur wenige von ihnen haben ihre Familien je wiedergesehen.
Nachdem die theoretische Forschung entscheidend vorangekommen und die Versorgung mit den erforderlichen Grundstoffen gesichert war, musste man ein geeignetes Testgelände finden. Die Wahl fiel auf die kasachische Steppe nahe der Stadt Semipalatinsk, wo eine weitere Großbaustelle entstand. In abgestufter Entfernung zum geplanten Epizentrum wurden Gebäude, Bunker und Metrostationen errichtet, um die Zerstörungskraft der Bombe zu testen. Und 100 Kilometer vom Testgelände entfernt entstand eine neue, vollkommen geheime Stadt namens Moskau-400, in der Biologen, Physiker und andere Spezialisten die zerstörerische Wirkung von Druckwellen und Strahlung erforschten.
Heute kann man diesen Ort ohne spezielle Genehmigung besuchen. Beim Gang durch das Städtchen mit seinen rund 1000 Einwohnern, das nach dem wissenschaftlichen Direktor des sowjetischen Atomprogramms in Kurtschatow umbenannt wurde, lässt der Anblick der stalinistischen Architektur und einiger altmodischer Hotels kaum noch erahnen, dass hier mal mehr los war. Auf dem früheren Versuchsgelände betreibt das Institut für Atomphysik noch einen Forschungsreaktor, wo in Zusammenarbeit mit einem japanischen Wissenschaftlerteam verschiedene Krisensituationen durchgetestet werden. Ein weiteres Überbleibsel der sowjetischen Ära ist das Institut für Strahlensicherheit, das nicht für die Öffentlichkeit zugänglich ist.
Dafür kann man das Museum des Testgeländes besuchen, in dem anhand von Generalstabskarten und Schwarz-Weiß-Fotos die Entwicklung der sowjetischen Atombombe dokumentiert wird. Seismografen, Geigerzähler, altmodische Kameras, alles ist da, sogar der Kommandostand, von dem aus der Feuerbefehl erteilt wurde. Alles wirkt angestaubt, aber immer noch bedrohlich. Im ersten Stock präsentiert der Museumsführer das „Büro von Kurtschatow“, das der Leiter des Atomprogramms während der kurzen Testphasen benutzte.
Das System der geschlossenen Atomstädte konstituierte eine umfassende Gemeinschaft von Wissenschaftlern, Forschern, Ingenieuren und Versuchsleitern, die alle für dasselbe Ziel arbeiteten: den Schutz des Vaterlandes vor neuen Bedrohungen. Der Historiker Wladimir Matjuschkin schreibt in seiner Chronik von Sarow: „So paradox es klingt, diese abgeschottete Stadt war über 1000 Fäden mit hunderten Organisationen und Betrieben auf dem Staatsgebiet der Supermacht verbunden.“ Viele Mitglieder dieser Gemeinschaft seien zudem „viel näher am Puls der restlichen Welt“ gewesen als ihre sowjetischen Mitbürger, erläutert Matjuschkin: „Jeder Einwohner der Stadt spürte, und sei es unbewusst, welchen Platz Sarow in der Geschichte hatte und wie der Ort mit den Ereignissen auf der Welt in Verbindung stand – und alle waren stolz darauf.“8
Diese stolze Zeit konnte nicht ewig dauern. Früher oder später musste die totale Mobilisierung der Kräfte das System auszehren. An der Spitze des Staates lösten sich mehrere altersschwache Generalsekretäre ab. Ein rigider, von oben verordneter Konformismus lähmte das Land. Das Produktionssystem stagnierte und baute zusehends ab. Die arbeitende Bevölkerung hatte ein Regime satt, das Gleichheit und Brüderlichkeit predigte, ihr aber nur ständig weitere Leistungssteigerungen abforderte. Und das den Menschen unter Verweis auf Notlagen und Krisen permanent die Konsumgüter vorenthielt, von denen sie träumten.
Michail Gorbatschow hatte das Problem richtig diagnostizierte, konnte den Verfall aber nicht aufhalten. In den 1990er Jahre folgten riskante Experimente mit dem Ziel, eine Marktwirtschaft auf den Trümmern der Planwirtschaft zu errichten und zugleich das Land zu demokratisieren. Während ausländische wie russische Ökonomen über die Vor- und Nachteile verschiedener „Transformations“-Modelle sinnierten, schufen die Oligarchen Fakten und rissen sich Staatsunternehmen, Erdölkombinate, Stahl- und Aluminiumhütten, Bergwerke und Chemiefabriken unter den Nagel.
Eine Pleite jagte die andere; die Arbeitslosigkeit explodierte; die Belegschaften der überlebenden Unternehmen erhielten ihre Löhne in inflationär entwerteten Rubel ausgezahlt. In allen Bereichen griff die Rette-sich-wer-kann-Mentalität um sich, während dem Staat das Geld ausging: für das Gesundheitssystem, für Polizei und Justiz, für das Bildungswesen.
Das alles nährte Hass, Ressentiments und separatistische Tendenzen. Bezeichnend war, dass der Tschetschenienkrieg in der gedemütigten Bevölkerung keine Begeisterung, sondern nur üble Rachegefühle weckte. Als die widerspenstige Republik wider Erwarten nicht kapitulierte, fand sich die russische Armee in einen blutigen Guerillakrieg verwickelt.
Die Reste der Kommunistischen Partei waren angesichts ihrer historischen Bilanz – der „Säuberungen“ in der stalinistischen Ära, der Internierungslager und der Repression – politisch in der Defensive. Da nützte es ihr auch nichts, auf die schockierende Bilanz der postsowjetischen Ära zu verweisen. Etwa auf die katastrophalen Auswirkungen von 15 Jahren Neoliberalismus auf die demografische Lage.
Zwischen 1992 und 2008 verzeichnete Russland 11 Millionen mehr Todesfälle als Geburten. Die Gründe waren vielfältig: das marode Gesundheitssystems, die explodierende Kriminalität, die Zunahme von Selbstmorden, Unfällen und Katastrophen jeder Art, der Tschetschenienkrieg. Allein zwischen 1990 und 1994 sank die Lebenserwartung der russischen Bevölkerung bei den Männern von 65 auf 58 Jahre und bei den Frauen von 74 auf 71 Jahre, um danach nur langsam wieder anzusteigen.
Vor diesem Hintergrund wirkten die geschlossenen Städte wie die letzten intakten Überbleibsel eines zugrunde gegangenen Reichs, boten noch ein relativ gutes Leben. Zwar gab es auch hier Korruption, aber in Maßen; von der Mafia und von überbordender Kriminalität blieben die Bewohner verschont. Vor allem aber waren die dortigen Forschungseinrichtungen, die andernorts zu Schleuderpreisen verkauft wurden, dem Zugriff der zum Liberalismus konvertierten Machthaber entzogen. Die Wissenschaftler und Techniker erfüllten weiter ihre zentralen Aufgaben: Herstellung von Spaltmaterial für militärische und zivile Zwecke, Wiederaufbereitung abgebrannter Kernbrennstoffe, Abrüstung und Entwicklung neuer Waffen.
Ursprünglich waren diese Städte als einfache Schlafsiedlungen für die Beschäftigten der „Firmenstädte“ konzipiert, deren Bewohner fast ausschließlich für das Projekt arbeiteten. Jetzt aber entstanden Geschäfte, Restaurants, Kinos, Einkaufszentren und sogar Reise- und Immobilienbüros. Und weil der Forschungsbetrieb infolge der postsowjetischen Wirtschaftskatastrophe zurückgefahren wurde, wanderten immer mehr Arbeitskräfte in lukrativere zivile Bereiche ab. Die Zuständigkeiten für öffentliche Dienstleistungen (Strom, Wasser, öffentlicher Verkehr) wie auch für Kultur- und Sporteinrichtungen gingen auf die Stadtverwaltungen über oder an Privatunternehmen. Und auch in den weiterhin abgeriegelten Wissenschaftsstädten, deren Sonderstatus erhalten blieb, normalisierte sich das Leben.
Die Einwohner sind gegen die Öffnung ihrer Stadt
Die Bürgerinnen und Bürger von Sarow jedoch lehnen die Öffnung ihrer Stadt nach wie vor entschieden ab. Obwohl die Privilegien aus der sowjetischen Ära längst nicht mehr existieren und von einem „geheimen Ort“ keine Rede mehr sein kann, möchten sie auch weiterhin unter sich bleiben. Die Veteranen der heroischen Epoche leben nicht mehr, doch ihre Kinder und Enkel sind größtenteils geblieben.
Etwa die Hälfte der Bewohner der Firmenstädten arbeitet immer noch bei den jeweiligen Hauptunternehmen ihrer Stadt. Als Angestellte in Atomforschungsinstituten und Wiederaufbereitungsanlagen für Brennelemente suchen sie zum Beispiel nach Wegen zu einer „sauberen zivilen Nutzung der Atomenergie“. Das ist zwar ein unerreichbares Ziel, aber die Anlagen unterliegen heute zumindest der Aufsicht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) und müssen viel strengere Standards einhalten als zu Sowjetzeiten, als die radioaktiven Abfälle einfach im nahen Fluss landeten.
Die andere Hälfte der Bewohner hat in den vielen Start-up- und Zulieferfirmen, die dem Hauptunternehmen zuarbeiten, eine Beschäftigung gefunden. In Sarow unterstützt ein Inkubator seit rund 15 Jahren diverse Hightech-Projekte wie die Entwicklung von Intraokularlinsen, von neuen Techniken zur Qualitätskontrolle von Walzstahlblechen oder von Sicherheitssensoren für Atomkraftwerke. Das überragende Bildungsniveau, die ruhige „wissenschaftliche“ Atmosphäre in der geschlossenen Stadt, aber auch die Nähe zu anderen hochspezialisierten Unternehmen sorgen dafür, dass immer neue Hightechprojekte gestartet werden. Kein Wunder also, dass in Sarow die Arbeitslosenquote unter dem Durchschnitt vergleichbarer Städte liegt.
Die Subkultur der Abgeschlossenheit wird vom Club der geschlossenen Städte gepflegt, die untereinander Schüleraustausche, Praktika und gemeinsame Ferienlager organisieren. Einige der ehemals geheimen Städte haben allerdings ihren Sonderstatus verloren. Zum Beispiel Obninsk, wo das erste zivile Atomkraftwerk entwickelt wurde, oder Dubna, der Standort eines Teilchenbeschleunigers, und auch Zagorsk-7, ehemals ein Zentrum zur Erforschung bakteriologischer Waffen.
Dasselbe gilt für die Siedlungen rund um die Raumforschungszentren, die ab 1986 ins „zivile Leben“ entlassen wurden. Die rund 40 Städte, die bis heute geschlossen sind, unterstehen ausnahmslos dem Verteidigungsministerium oder sind an Rosatom, dem für die gesamte zivile Nutzung der Kernenergie zuständigen Staatsunternehmen, angegliedert.
Rosatom kontrolliert ein Dutzend geschlossener Städte und deren Forschungsinstitute und Anlagen, die der Urananreicherung und der Wiederaufbereitung von Brennelementen dienen. Das Unternehmen betreut derzeit den Bau von 30 Atomkraftwerken, unter anderem in Iran, Indien, China und Bangladesch. Der Gesamtwert der Rosatom-Aufträge beläuft sich aktuell auf rund 100 Milliarden US-Dollar.
In Bereich der Raumfahrt hat sich die robuste russische Technologie so gut bewährt, dass sie für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf der Internationalen Raumstation ISS von zentraler Bedeutung ist. Und US-amerikanische wie europäische Raketen bedienen sich seit Langem zahlreicher russischer Systeme – vom Sicherheitsmodul bis hin zum Raketentriebwerk.
Die in jüngerer Zeit unternommenen Bemühungen, auch in Bereichen wie künstliche Intelligenz, Supercomputer, Nanotechnologie oder Medizinforschung technologische Durchbrüche zu erzielen, waren jedoch weniger erfolgreich. Zum Beispiel sollte der 2011 gegründete Staatsbetrieb Rosnano9 die Entwicklung von Technologien auf Nanoteilchenbasis vorantreiben. Doch die groß angekündigte technologische Revolution blieb aus; stattdessen wurde das Unternehmen vom russischen Rechnungshof wegen unberechtigter Inanspruchnahme von Mehrwertsteuerbefreiungen gerügt.
Ist Russland gar nicht mehr in der Lage, ähnliche wissenschaftliche Erfolge zu erzielen wie in der viel härteren und mühseligeren sowjetischen Nachkriegszeit? Hat der Übergang zum Kapitalismus dem Riesenland die wissenschaftlichen Flügel gestutzt?
An ambitionierten Versuchen hat es sicher nicht gefehlt. Seit der Jahrtausendwende kann jede Stadt, jede Region und jede große Staatsfirma, die etwas auf sich hält, ihren eigenen Inkubator oder ihr eigenes Technologie-, Forschungs- oder Gründerzentrum vorweisen. Diese „Technoparks“, die teilweise an Forschungsinstitute angeschlossen sind und häufig im Rahmen öffentlich-privater Partnerschaften finanziert werden, sind seit Mitte der 1990er Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen.
Ende 2019 gab es in Russland 169 solcher Infrastrukturprojekte, die kreativen Unternehmern ein günstiges Umfeld für die Entwicklung ihrer Projekte bieten sollen. Dennoch meldet der Verband der Technoparks jedes Jahr für die Start-up-Unternehmen eine eher geringe Erfolgsquote: Insgesamt haben nur 27 Prozent den Förderzeitraum überlebt, in den USA liegt die entsprechende Erfolgsquote bei 87 Prozent und in Europa bei 88 Prozent.
Unter Umständen liegt das auch daran, dass die Legenden von kleinen verkannten Genies, die in einer Garage an bahnbrechenden Ideen tüfteln, um die Welt zu revolutionieren, in Russland geglaubt werden. Dabei wissen wir inzwischen längst, dass weder Bill Gates noch Steve Jobs noch Mark Zuckerberg die Technologien, die sie so meisterhaft zu vermarkten wissen, selbst erschaffen haben.
Am Anfang solcher success stories steht nicht etwa die Garage. Ihre Basis ist vielmehr, wie die Geschichte der geschlossenen Städte in Russland oder des Silicon Valley in den USA zeigt, eine langfristig mit öffentlichen Geldern finanzierte Grundlagenforschung. Dies aber ist das genaue Gegenteil all der unkoordinierten Initiativen, die sich seit Jahren in Russland beobachten lassen.
2 Andre Sacharow, „Mein Leben“, München (Piper) 1991 (Originalausgabe 1978).
7 Juri Fjodorow, „Der Atom-Gulak“, Tradition Russlands (Onlinezeitung), Prag, 30. September 2015.
8 Wladimir Matjuschkin, „Alltag in Arsamas-16“, Moskau (Molodaia-Guardia-Verlag) 2008.
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Christophe Trontin ist Journalist.