13.08.2020

Auf der Suche nach Walter Rodney

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Auf der Suche nach Walter Rodney

von Hélène Ferrarini

Walter Rodney, der Internationalist aus Guyana The Pulse Institute
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Sieh mal einer an!“, rief die Zollbeamtin, als sie unsere Tasche durchsuchte. Wir wollten gerade über den Flughafen von Georgetown, der Hauptstadt von Guyana, ausreisen, als bei der Gepäckkontrolle etwas verdächtig Rechteckiges auf den Röntgenaufnahmen aufgetaucht war. Für die Kontrolleure gab es keinen Zweifel: Das mussten Kokainpäckchen sein, die klassische Schmuggelware auf einer der Hauptrouten für südamerikanische Drogen nach Europa. Die Zollbeamtin fand allerdings kein weißes Pulver, sondern eine Biografie über den guyanischen Historiker Walter Anthony Rodney (1942–1980). „Wie kommt es, dass Sie ihn kennen?“, staunte sie. „Niemand hier interessiert sich mehr für ihn.“

Als wir nach Georgetown kamen, hofften wir eigentlich das Gegenteil zu erfahren. Die Hauptstadt von Guyana liegt unterhalb des Meeresspiegels. Das Bauland wurde durch gigantische Entwässerungssysteme aus Feuchtgebieten gewonnen. Auf der Straße entlang der Küste – wo 90 Prozent der 750 000 Einwohner Guyanas leben – stehen Ortsschilder mit englisch, niederländisch und französisch klingenden Städte­namen.

Bis zum 17. Jahrhundert hatten Spanien und Portugal den südamerikanischen Kontinent weitgehend unter sich aufgeteilt. Übrig blieb nur das, was die Seefahrer damals die „Wilde Küste“ nannten: die Guyanas, ein Mangrovendickicht zwischen dem Amazonas und dem Orinoko, an dem die europäischen Schiffe im 16. Jahrhundert nur haltmachten, um mit den Einwohnern Handel zu treiben. Die europäische Kolonisierung begann erst im 17. Jahrhundert und führte nach zwei Jahrhunderten Krieg zur Aufteilung der Region in einen französischen Teil im Osten (Französisch-Guyana), einen nie­derländischen in der Mitte (Surinam) und einen britischen im Westen (Guyana).

Im Stadtzentrum angekommen, war unser erstes Ziel die National­bi­blio­thek. In den Regalen stand zwar kein einziges von Rodneys Büchern, doch wir konnten welche aus dem Magazin bestellen. Als wir uns hilfesuchend an die Bibliothekarin wandten, korrigierte sie uns gleich: „Sie meinen bestimmt Walter Roth.“ Während unseres Aufenthalts ist sie nicht die Einzige, die den Intellektuellen mit dem britischen Kolonialverwalter verwechselt, nach dem ein ethnologisches Museum im Zen­trum benannt ist.

In der einzigen Buchhandlung fanden wir immerhin zwei Exemplare eines Rodney-Buchs, dessen Preis allerdings über dem durchschnittlichen Tageslohn liegt (Guyana hat den nie­drigsten Human Development Index) in Südamerika und, nach Haiti, den zweitniedrigsten in der Karibik).

Auf dem zwischen zwei Durchgangsstraßen im Stadtzentrum eingekeilten Friedhof Le Repentir suchten wir lange und am Ende erfolglos Rodneys Grab. Um zu den vollkommen überwucherten Gräbern zu gelangen, musste man einen schlammigen Kanal auf wackeligen Holzbrettern überqueren. Auf dem Hauptweg hockte zwischen zwei Palmenreihen ein Mann mit Dreadlocks und bearbeitete ein Stück Holz. Rodney? Der Name sagte ihm nichts. Die letzte Ruhestätte des Historikers blieb unauffindbar.

Warum erinnert sich hier niemand mehr an Walter Rodney? „Vielleicht, weil wir all jene ignorieren, die uns ein Gefühl dafür gegeben haben, was Freiheit bedeutet“, mutmaßt Charlene Wilkinson, Professorin an der Universität von Guyana.

Walter Rodney stammt aus einer Arbeiter­familie. Er studierte in Jamaika und in London, wo er den Autor C. L. R. James kennenlernte. Dort begann er sich für die Geschichte der Sklaverei zu interessieren und promovierte über den Sklavenhandel in Westafrika.1 ­Später ging Rodney bewusst nicht an eine der renommierten Universitäten in den USA oder Großbritannien, sondern lehrte in Jamaika und Ostafrika.

In Tansania beteiligte er sich unter dem sozialistischen Präsidenten Ju­lius Nyerere „am Aufbau der entkolonisierten afrikanischen Sozialwissenschaften“, schreibt der beninische Historiker Amzat Boukari-Yabara.2 ­Rodney wollte das Wissen aus der Universität heraustragen. In Jamaika ging er in die Arbeiterviertel von Kingston, wo er auf die Rastafari-Bewegung traf, und in Tansania unterhielt er sich mit den Bauern in ihrer Landessprache Kisuaheli. 1974 kehrte Rodney nach Guyana zurück und begann sich politisch zu engagieren. Er wollte die seit Jahrzehnten bestehenden sozialen Gräben überwinden.

Der unbequeme Historiker fiel einem Anschlag zum Opfer

Mehr als zwei Jahrhunderte lang wurden Guyanas europäische Kolonisa­toren durch den Sklavenhandel mit Arbeitskräften aus Afrika versorgt. Nach der Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1838 verließen viele Arbeiter die Zuckerrohrplantagen und erwarben teilweise gemeinschaftlich Land. Unterdessen begannen die Plantagenbesitzer in Schuldknechtschaft geratene Arbeiter aus Madeira, aus China und vor allem aus Britisch-Indien zu beschäftigen.

Die Ankunft zehntausender Inder schwächte die Verhandlungsmacht der um höhere Löhne kämpfenden Afro­guyaner und legte damit den Grundstein für den Antagonismus zwischen den beiden Hauptbevölkerungsgruppen Guyanas, die „in einen wirtschaftlichen Wettbewerb gezwungen wurden“, schrieb Walter Rodney in einem posthum veröffentlichten Buch, dem ersten Band einer unvollendeten So­zial­geschichte Guyanas.3

Darin beschreibt der Historiker die ethnische Aufteilung der Wirtschaftssektoren, die durch diverse Vorschriften der Kolonialverwaltung gefördert wurde. Die indischstämmigen Arbeiter bildeten die Mehrheit der Landarbeiter in der Zuckerbranche. Einige ließen sich als Reisbauern nieder. Die Nachkommen der Afrikaner hingegen arbeiteten vor allem im Bergbausektor – Gold, Diamanten und Bauxit – oder wanderten in die Städte ab.

Anfang der 1950er Jahre war es der Unabhängigkeitsbewegung noch gelungen, die gesamte guyanische Arbeiterschaft zu mobilisieren. Doch als Rodney 1974, acht Jahre nach der Unabhängigkeit von Großbritannien, in sein Land zurückkehrte, dominierten wieder die alten ethnischen Spaltungen die Politik.

Die People’s Progressive Party (PPP), die den Unabhängigkeitskampf angeführt hatte, wurde von Cheddi Jagan geleitet, der aus einer indischen Familie stammte und im Kalten Krieg zum Marxisten geworden war. Ihr gegenüber stand der People’s National Congress (PNC) unter Forbes Burnham. Obwohl dieser offiziell als Sozialist firmierte, genoss er den Rückhalt durch die USA. Der PNC stützte sich auf die Wählerschaft aus der afroguyanischen Community und hielt sich durch manipulierte Wahlen an der Macht.

Rodney beteiligte sich damals an der Gründung der Working People’s Alliance (WPA), deren Ziel es war, „politisches Bewusstsein zu schaffen und ethnische Politik durch revolutionäre Organisationen auf der Grundlage der Klassensolidarität zu ersetzen“.4 Sechs Jahre später kam er bei einem Attentat ums Leben, das mutmaßlich von Präsident Burnham in Auftrag gegeben worden war.

An seiner Beerdigung nahmen 35 000 Menschen teil. In Georgetown wurde ihm wenige Meter vom Ort des Sprengstoffanschlags entfernt ein Denkmal errichtet. Zwischen Kokospalmen, deren Stämme in den Nationalfarben Rot, Gelb und Grün bemalt sind, steht ein schmiedeeiserner Bogen mit den Initialen W. A. R., rechts und links auf den Steinsockeln des Bogens sind die Titel und Erscheinungsdaten von acht seiner Bücher eingraviert.

Trotzdem ist Rodney heute im Ausland besser bekannt als in Guyana. Seine Bücher stehen in den Handapparaten englischsprachiger Universitäten auf der ganzen Welt – nicht zuletzt auch durch die guyanische Diaspora, die mit schätzungsweise 800 000 Menschen annähernd genauso groß ist wie die Bevölkerung des Landes selbst.

Neben seinen Schriften interessieren sich immer mehr Menschen auch für den Werdegang dieses Intellektuellen und Aktivisten, für den Geschichtsverständnis und politisches Handeln Hand in Hand gingen. „Fast vierzig Jahre nach seinem Tod brauchen wir solch brillante Vorbilder, die zeigen, was es heißt, ein entschlossener Intellektueller zu sein: dass nämlich Wissen dazu befähigt, unsere soziale Welt zu verändern“, schrieb unlängst Angela Davis im Vorwort zur Neuauflage von Rodneys längst zum Klassiker gewordenen Werk „How Europe Underdeveloped Africa“.5

„Es ist eine Schande, dass Rodney nicht mehr in den Lehrplänen auftaucht“, klagt der guyanische Soziologe Wazir Mohamed. Nur wenige Schülerinnen und Schüler kommen hier überhaupt in den Genuss von Geschichtsunterricht. Und wenn, dann geht es nur um die Geschichte der Karibik als Ganzes: Das in der Sekundarschule verwendete Lehrbuch widmet Guyana nur wenige Zeilen. Und Walter Rodney wird gar nicht erwähnt.6

1 Walter Rodney, „A study of the Upper Guinea Coast“, Oxford (Oxford University Press) 1970.

2 Amzat Boukari-Yabara, „Walter Rodney, un historien engagé (1942–1980)“, Paris (Présence africaine) 2018.

3 Siehe Walter Rodney, „A History of the Guyanese Working People, 1881–1905“, Baltimore (Johns Hopkins University Press) 1981.

4 Steve Garner, „Ethnicity, Class and Gender: Guyana 1838–1985“, Kingston (Ian Randle Publishers) 2008.

5 Walter Rodney, „How Europe Underdeveloped Africa“, Mit einem Vorwort von Angela Davis, London/New York (Verso), Neuauflage 2018. Auf Deutsch: „Afrika – Die Geschichte einer Unterentwicklung“, Berlin (Wagenbach) 1973.

6 Kevin Baldeosingh und Radica Mahase, „Caribean History for CSEC“, Oxford (Oxford University Press) 2011.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert

Hélène Ferrarini ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2020, von Hélène Ferrarini