13.08.2020

Von der Hofberichterstattung zum Blätterkrieg

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Von der Hofberichterstattung zum Blätterkrieg

Eine kurze Geschichte der arabischen Presse im 19. Jahrhundert

von Arthur Asseraf

Zeitungslektüre in Tunis GÉRARD DEGEORGE/akg
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Von Rabat bis Bagdad können theoretisch alle Menschen – unabhängig vom Staat, in dem sie leben – die gleiche Zeitung lesen. Das liegt schlicht und ergreifend daran, dass sie dieselbe Schriftsprache (Hocharabisch oder fu­sha) teilen. Ganz anders in Europa: Folgt man etwa dem Historiker Benedict Anderson, war es im 19. Jahrhundert gerade die Zeitungslektüre, die das Gefühl der nationalen Zugehörigkeit begründete. Beim Morgenkaffee, wenn die Leserinnen und Lesern in ihrer jeweiligen Landessprache mehr oder weniger gleichzeitig von demselben Ereignis in Kenntnis gesetzt wurden, „erfanden sie sich als Nation“.1

So erklärt sich auch, warum sowohl die Verfechter als auch die Gegner einer politisch geeinten arabischen Welt oft angenommen haben, die Presse könne zur Herstellung eines Nationalgefühls beitragen. Während die einen meinten, „die“ Araber müssten sich in einem Staat vereinen, und eine gemeinsame Presse auf Hocharabisch forderten, wollten die anderen gar keine Zeitungen mehr in fusha publizieren. Stattdessen sollten Presseerzeugnisse nur noch in den diversen Dialekten verfasst sein, um eine spezifisch ägyptische, marokkanische oder syrische Leserschaft zu schaffen. Beide Seiten gingen von derselben Hypothese aus: Die arabische Presse stelle eine Anomalie dar, Sprache, Medien, Staat und Nation hätten übereinzustimmen.

In der Geschichte der arabischen Presse ist häufig kaum zu trennen, was „national“ und was „international“ bedeutet. Die 1828 in Kairo gegründete al-Waqai al-Misriyya (Die Ereignisse Ägyptens) gilt als erste arabischsprachige Zeitung, wobei es sich streng genommen um ein Bulletin für ägyptische Beamte handelte, in dem ab und zu auch allgemeine Nachrichten auftauchten. Die Auflage lag bei ein paar hundert Stück. Kurze Zeit später wurde im Osmanischen Reich eine ähnliche Publikation gegründet: Der Takvim-i Vekayi (Kalender der Ereignisse) erschien zuerst in osmanischem Türkisch, dann auch in anderen Sprachen, unter anderem auf Arabisch.

Den Machthaber in Kairo und Konstantinopel dienten diese Blätter dazu, die Kontrolle des Staats sowohl in seinen modernisierenden wie autoritären Reformbestrebungen auszuweiten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging es den Behörden nicht darum, den Informationsfluss zu demokratisieren oder die Bildung einer öffentlichen Meinung zu fördern. Vielmehr wollten die Herrschenden einseitig ihre Ideen verbreiten oder über ihre Aktivitäten informieren. Mit Nationalismus oder Panarabismus hatte das indes noch nichts zu tun.

In der übrigen arabischsprachigen Welt wurden die ersten Zeitungen oft durch die Kolonialregierungen gegründet. Ähnlich wie die osmanischen und ägyptischen Behörden nutzten sie die Presse als Kommunikator. Ob Muhammad Ali in Kairo, Mahmud II. in Konstantinopel oder Louis-Philippe in Paris – keiner von ihnen beherrschte Arabisch als Schriftsprache. Die Presse diente ihnen dazu, ihre arabischsprachigen Untertanen direkt zu adressieren.

Nach der Eroberung Algiers im Juli 1830 versuchte die Regierung in Paris wiederholt eine arabischsprachige Publikation zu etablieren. Im 1832 gegründeten Moniteur Algérien erschienen neben Artikeln auf Französisch auch welche auf Arabisch; ab 1847 kam dann in Algier die arabischsprachige al-Mubachir (Der Bote) heraus. Diese Zeitung, die zweimal im Monat erschien, wurde von dem Saint-Simonisten Ismael Urbain geleitet, der nach mehrfachen Aufenthalten in Kairo 1835 zum Islam konvertiert war. Sie wurde vor allem an die muslimischen Beamten verteilt.

In seiner ersten Ausgabe verkündete al-Mubachir, Ziel der Zeitung sei es, die Algerier enger an den französischen König zu binden: „Sie wissen, dass die Könige der christlichen Nationen jeden Tag zu ihren Völkern sprechen, durch Schriften, die sie über die Entscheidungen der Regierung und Neuig­kei­ten aller Art informieren. Der Sultan von Konstantinopel und der Pascha von Kairo sind diesem Beispiel gefolgt, und ihren Untertanen geht es sehr gut.“

Unter der Chefredaktion Urbains, der als unehelicher Sohn eines Marseiller Kaufmanns in Guyana geboren wurde und seit 1840 mit einer Algerierin verheiratet war, wurden bald auch Artikel über Alltagsthemen veröffentlicht. Sie wurden von französischen Beamten verfasst und ins Arabische übersetzt.2 Später, bis die Zeitung 1928 aufgelöst wurde, schrieben auch muslimische Journalisten für al-Mubachir. So wurde die Zeitung zur ersten Journalistenschmiede des muslimischen Algeriens.

Sprachrohr der Kolonialregierungen

Von Anfang an kursierten diese Zeitungen über nationale Grenzen hinweg. Das erste in Tunesien veröffentlichte Blatt war 1860 al-Ra’id al-Tunisi (Der tunesische Vorkämpfer). Die Publikation sollte zwar vor allem dazu beitragen, das neue Straf- und Gewohnheitsrecht an den tunesischen Gerichten zu etablieren. Aber schon auf der Titelseite wurde darüber informiert, dass ein Abonnement nicht nur in den größeren Städten Tunesiens möglich war, sondern auch in Algier, Tripolis, Alexan­dria oder Beirut.

Die Leserschaft erstreckte sich also über den gesamten arabischsprachigen Mittelmeerraum. Von der Levante bis zum Maghreb las die – männliche – Öffentlichkeit die per Schiff angelieferten Zeitungen. In Algier kaufte man ab den 1870er Jahren die ägyptische Presse in einer Buchhandlung in der Rue de la ­Lyre im unteren Teil der Kasbah.

Auch der Inhalt der Zeitungen war alles andere als national. Elektrische Telegrafen und Nachrichtenagenturen sorgten dafür, dass überall weitgehend gleichlautende Informationen eintrafen, egal ob man in Beirut, Rom oder Buenos Aires die Zeitung aufschlug.

In den 1860er Jahren wurden die ersten Unterseekabel im Mittelmeer verlegt. Nachrichtenagenturen wie Havas oder Reuters gründeten Büros in Alexandria und Tunis. Die Arbeit der Redakteure vor Ort bestand nun hauptsächlich darin, die aus Europa telegrafierten Depeschen ins Arabische zu übersetzen. Die Artikel wurden teils ohne Quellenangabe aus anderen Zeitungen abgeschrieben. Urheberrechte waren zu dieser Zeit weitgehend unbekannt.

Die Redakteure dieser neuen Blätter kamen aus unterschiedlichen Ländern. Oft wurden libanesische Maroniten eingestellt, die in den religiösen Seminaren ihres Heimatlands Hoch­ara­bisch, mehrere europäische Sprachen und den Umgang mit der Druckerpresse gelernt hatten.

Die ägyptische al-Waqai al-Misriyya wurde in den 1830er Jahren von dem libanesischen Schriftsteller und Journalisten Farès Chidiac (1804–1887) geleitet. Später reiste Chidiac nach Europa, wurde in Frankreich Sozialist und gründete 1860 eine gleichartige Publikation in Tunesien. Nur ein Jahr später ließ er sich auf Einladung von Sultan Abdülmecid I. in Konstantinopel nieder und wurde Herausgeber der Wochenzeitung al-Dschawa’ib (Kursierende Nachrichten), die nach dem Vorbild der großen europäischen Zeitungen auch über literarische und kulturpolitische Themen schrieb und von der osmanischen Regierung finanziert wurde.

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts gründeten libanesische oder syrische Emigranten einige der wichtigsten Zeitungen der arabischsprachigen Welt – je nach politischer Wetterlage erschienen sie an wechselnden Orten. 1875 riefen die libanesischen Brüder Salim und Bishara Tekla in Ägypten das Blatt al-Ahram (Die Pyramiden) ins Leben, in dem die führenden Köpfe der Nahda-Bewegung (Renaissance) publizierten, darunter Dschamal ad-Din al-Afghani und Muhammad Abduh. Al-Ahram ist bis heute eine Referenz in der arabischen Welt.

In Tanger wurde 1907 die erste private Zeitung in arabischer Sprache, Lissan al-Maghrib (Die Sprache Marokkos), ebenfalls von einem libanesischen Brüderpaar gegründet. Zunächst war die Zeitung von Farajallah und Arthur Nemmour das inoffizielle Sprachrohr des marokkanischen Hofs, bevor sie zum Organ der lokalen Elite gegen die französische und spanische Kolonialmacht wurde.3

Auswanderungswellen in die beiden Amerikas sorgten dafür, dass sich auch São Paulo und Philadelphia zu wichtigen Zentren der arabischsprachigen Presse entwickelten. 1914 gab es allein in Brasilien 14 arabische Zeitungen. Und New York besaß mit Kawkab Amirka (Stern Amerikas) bereits ab 1898 eine arabischsprachige Zeitung, also lange vor der heiligen Stadt Mekka oder dem marokkanischen Fez mit der ältesten Universität der Welt.

Allerdings waren nicht alle Zeitungen überall frei verfügbar. In den meisten arabischen Staaten betrachtete man „ausländische“ Blätter als Bedrohung der staatlichen Souveränität, wurden sie doch an Orten publiziert, die sich der eigenen Kontrolle entzogen und von denen subversive Ideen ausgehen konnten.

Zeitungsschmuggel an der algerischen Grenze

Staaten waren also oft versucht, arabische Zeitungen zu verbieten, die nicht im eigenen Land gedruckt wurden. Teilweise wurden solche Publikationen auch zensiert oder deren Leserschaft überwacht. 1897 verbot die französische Kolonialregierung in Algerien zum Beispiel die ägyptische Zeitung al-Mu’ayyad (Der Unterstützer), nachdem die Redaktion eine leidenschaftliche Kampagne gegen den westlichen Kolonialismus in Ägypten und im Rest der arabischen Welt gestartet hatte.

Für die Kolonialverwaltungen war es allerdings schwierig, ein effektives Kontrollsystem aufzubauen, weil die Zeitungen oft versteckt zwischen anderen Waren ins Land kamen. Ein regelrechter Zeitungsschmuggel existierte an der Grenze zwischen dem annektierten Algerien und dem französischen Protektorat Tunesien, wo die Zensur weniger streng war.

Einige Regierungen sahen sich deshalb veranlasst, ihre im Ausland zirkulierenden Blätter zu subventionieren, um dort an Einfluss zu gewinnen. Ende des 19. Jahrhunderts lieferten sich die britischen und französischen Konsuln in Ägypten einen veritablen Blätterkrieg. Die Kontrahenten waren die profranzösische al-Ahram und die probritische al-Muqattam (benannt nach einer Hügelkette südöstlich von Kairo). Selbst die sich unabhängig gebende Presse wurde oft von der nationalen oder einer ausländischen Regierung unterstützt.

Reine Propagandablätter wurden ebenfalls gegründet. So finanzierte das französische Außenministerium zahlreiche arabischsprachige Zeitungen und beklagte sich gleichzeitig über die Einflussnahme ausländischer Mächte auf die Presse. Unter den Pionieren des arabischen Journalismus fand sich so auch eine Zeitung, die ab 1880 in Cagliari erschien: L’avvenire di Sardegna (Die Zukunft Sardiniens). Die italienische Regierung und die sardische Geschäftswelt wollten seinerzeit im benachbarten Tunesien eine Kolonie errichten. Das führte zu Spannungen mit der französischen Regierung, die um die Sicherheit Algeriens fürchtete.

Um die tunesische und arabische Öffentlichkeit zu beeinflussen und zu verhindern, dass Frankreich die Kon­trol­le über Tunesien übernahm, engagierte der Avvenire-Redakteur Giovanni de Francesco den libanesischen Dichter Yousouf Bakhus, die arabischsprachige Zeitung al-Mustaqil (Der Unabhängige) zu gründen. Die Bemühungen waren allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Im Mai 1881 marschierten die Franzosen in Tunesien ein.

Die französische Presse verurteilte die subversive Ausrichtung des pro-italienischen Blatts, und Bakhus ging später nach Paris, um bei al-Bassir (Der Scharfsinn) zu arbeiten, einer Wochenzeitung, die die gebildete arabische Öffentlichkeit im Sinne Frankreichs beeinflussen sollte. Der Figaro begrüßte damals Bakhus’ Kehrtwende: In al-Bassir stehe „genau das Gegenteil dessen, was der abscheuliche al-Mustaqil verbreitet hatte“.4

Und wie reagierte die arabische Öffentlichkeit? Die zu offensichtlich propagandistischen Blätter wurden meist geschmäht und hatten keine lange Lebensdauer: Langweilig, teils schlecht aus europäischen Sprachen ins Arabische übersetzt und in einem schwülstigen Stil verfasst, fanden sie keinen Anklang bei einer gebildeten Öffentlichkeit auf der Suche nach guter Unterhaltung. Im Kosmos der Cafés zwischen Fez und Basra sezierte man die neuesten Meldungen, studierte die offiziellen Verlautbarungen und versuchte stets, zwischen den Zeilen zu lesen.

Zu einer Zeit, in der es im arabischsprachigen Raum viele intellektuelle Zentren gab, verlangte auch die Leserschaft nach unabhängigen und freien Stimmen. Doch solche Beiträge konnten die Regierungsblätter der Kolonialmächte meist nicht liefern.

1 Siehe Benedict Anderson, „Die Erfindung der Nation“, Berlin (Ullstein) 1998; siehe auch Gabriel Tarde, „Masse und Meinung“, Konstanz (University Press) 2015 (Original: „L’Opinion et la foule“, 1901).

2 Siehe Charles-Robert Ageron, „De l’Algérie française à l’Algérie algérienne“, Algier (Editions Bouchène) 2005.

3 Siehe „Aux origines de la presse officielle avec ‚Lissan ul-Maghrib‘“, Zamane, Casablanca, 29. Januar 2019.

4 Pierre Giffard, „Joseph Bokhos“, Le Figaro, 19. Dezember 1881.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Arthur Asseraf ist Historiker und lehrt an der Cambridge University. Zuletzt erschien von ihm „Electric News in Colonial Algeria“, Oxford (University Press) 2019.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2020, von Arthur Asseraf