13.08.2020

Made in Prato

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Made in Prato

Die traditionsreiche Textilstadt in der Toskana ist schon lange berüchtigt für ihre chinesischen Fabriken. Nach vielen Skandalen und einem tödlichen Brand kämpft der Bürgermeister für ein neues Image.

von Jordan Pouille und Lei Yang

Prato, 19. Juni 2014: Besuch vom Carabiniere FABRIZIO GIOVANOZZI/picture alliance
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Kaum war die Epidemie in China ausgebrochen, da wurde Prato in den italienischen Medien zum poten­ziel­len Infektionsherd erklärt – irrtümlicherweise, wie Bürgermeister Matteo Biffoni am 7. April im chinesischen Staatssender CCTV klarstellte: „Tatsächlich haben wir eine sehr viel niedrigere Infektionsrate als der Rest des Landes, und vor allem hat sich kein chinesischer Mitbürger mit dem Virus angesteckt.“ Viele von ihnen seien zwar am 25. Januar zum chinesischen Neujahrsfest nach Hause gefahren, doch die Rückkehrer hätten sich danach sofort in freiwillige Quarantäne begeben, lobte er das vorbildliche Verhalten. „Wir haben ihnen zu danken“, zitierte auch die Nachrichtenagentur Xinhua voller Stolz den italienischen Bürgermeister.

Schon Ende Januar hatte Zhou Rong Jing, Präsident des chinesischen Unternehmerverbands in Prato, mit den 18 anderen Organisationen der chinesischen Diaspora eine „Spezial-Task-Force Covid“ eingerichtet, die lange vor der römischen Regierung über tausende chinesische Arbeitskräfte eine Ausgangssperre verhängte und die Maskenpflicht einführte. Ehrenamtliche kümmerten sich darum, dass die Regeln von der ganzen Diaspora eingehalten wurden und verteilten überall in Prato kostenlos Masken.

„Letztlich wurde die chinesische Methode angewandt. Der einzige Unterschied ist, dass die zivilen Freiwilligen weder Westen noch rote Armbinden trugen“, hieß es in der Beijing Youth Daily, dem Presseorgan der Kommunistischen Jugendliga Pekings. Mit keinem Wort wurden darin allerdings die sechs chinesisch-evangelischen Kirchen in Prato erwähnt, deren Gemeindemitglieder ebenfalls sehr engagiert mitgeholfen hatten.

Vor rund 25 Jahren kamen die ersten Chinesen nach Prato. Sie kauften die maroden Textilfabriken auf und kurbelten die Produktion wieder an. Heute sind rund 31 000 der 195 000 Einwohner Pratos Chinesinnen und Chinesen – schätzungsweise ein Viertel von ihnen hat keine gültigen Papiere.1 Bei der Handelskammer waren im letzten Jahr 5850 chinesische Firmen regis­triert, zumeist Kleinunternehmen, von denen 4280 in der Textilbranche tätig sind. Alle naselang wird ein neuer Betrieb gegründet, der nach durchschnittlich zwei Jahren wieder eingeht.

Die meisten Einwanderer stammen aus der Hafenstadt Wenzhou. Als Mitte der 1990er Jahre Chinas Staatsunternehmen umstrukturiert wurden und infolgedessen die Arbeitslosigkeit massiv anstieg, suchten viele im Ausland ihr Glück. Sie heuerten Schleuser an, die sie mit ihrem ersten Lohn bezahlten. Manche landeten im Pariser Viertel Belleville, um 15 Stunden am Tag in der Küche zu stehen und ohne Vertrag und Sozialversicherung Teigtaschen für asiatische Restaurants herzustellen; andere gingen nach Italien, um 20 Kilometer nördlich von Florenz schnell und billig Prêt-à-porter-Bekleidung zu nähen.

Dieses System der sogenannten Pronto Moda (Just-in-time-Fashion) ist auf die Bedürfnisse der europäischen Einzelhändler zugeschnitten, die nicht zwei Monate auf eine Kleiderbestellung aus China warten und vom Etikett „­Made in Italy“ profitieren wollen.2 Die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter essen und schlafen sogar in den Fabriken, während ihre Arbeitgeber, die ebenfalls aus Wenzhou stammen, auf großem Fuß leben und mit Luxuskarossen durch die Straßen von Prato kutschieren. Im Laufe der Jahre ist hier ein regelrechtes Chinatown entstanden, mit Boutiquen, chinesischen Restaurants, Spielhallen und Teesalons.

Die Finanzkrise von 2008 beschleunigte den Niedergang der letzten italienischen Fabriken für Luxusmode, während die chinesischen Unternehmen prosperierten. Gleichzeitig flog ein Finanzskandal auf. Steuerfahnder entdeckten Schwarzgelder von geschätzt 1 Milliarde Euro, die jährlich aus der Toskana nach China flossen. Zwei Drittel davon kamen aus Prato. 2009 gewann in der einstigen Hochburg der Kommunisten der Kandidat der Berlusconi-Partei Forza Italia, Roberto Cenni, mit einer Kampagne gegen die chinesischen Unternehmer und deren „30 000 Sklaven“ die Bürgermeisterwahl.

Im Dezember 2013 brach in der Textilfabrik Teresa Moda ein Feuer aus. Sieben chinesische Arbeiterinnen und Arbeiter starben in den Flammen, weil es wie in vielen dieser Fabriken keinen Notausgang gab. Die Stadt erklärte einen offiziellen Trauertag, und Alessandro Fabrizzi, der örtliche Generalsekretär des mächtigen Gewerkschaftsbunds CGIL, mahnte, Prato dürfe nicht länger eine „Stadt der Illegalität“ sein.3 Überall in der Stadt tauchten Graffiti auf, die zu sofortigem Handeln aufriefen.

Einige Monate später ließ sich Matteo Biffoni vom Partito Democratico (PD) mit dem Versprechen zum Bürgermeister wählen, dem Recht wieder mehr Geltung zu verschaffen. Seit Biffonis Amtsantritt 2014 fanden in den chinesischen Fabriken etwa 10 000 Polizeirazzien statt. Ins Visier gerieten auch italienische Buchhaltungsbüros, die für die chinesischen Unternehmer Gehaltszettel, Bilanzen und Beschäftigungsnachweise fälschten, um die Aufenthaltsgenehmigungen der Arbeiter verlängern zu lassen. Anschließend wurden diese zum Schein entlassen und danach illegal weiterbeschäftigt.

Wir treffen uns mit Wen Jun Hui (Name geändert), der einen Großhandel in der Nähe der Via Toscanini führt. Bei einem Jasmintee klagt er über die „Faulheit“ der Italiener, über die chinesischen Arbeitskräfte, die zu teuer geworden seien, und das unqualifizierte Personal aus Pakistan und Afrika. Er empfiehlt uns – noch vor Corona –, den buddhistischen Pu-Hua-Tempel auf der Piazza Gualchierina zu besuchen. Tempelwächter Huang Shulin, der zu seinen Mokassins der Edelmarke Versace einen passenden Borsalino trägt, stellt uns drei Mönche aus Ningbo vor und zeigt uns die letzten spendenfinanzierten Tempelverschönerungen.

Der prunkvolle Tempel bildet einen scharfen Kontrast zu der schäbigen Einkaufsstraße Via Filzi, in der die Mülleimer und Parkuhren mit handgeschriebenen Kontaktanzeigen auf Mandarin beklebt sind.

Was früher eine italienische Bar war, ist heute eine chinesische Arbeiterkantine, wo man sich bei einer Schale Nudeln mit Schweinefleisch die Castingshows auf Zhejiang TV anschaut. Nebenan in der Via Pistoiese befinden sich die ältesten chinesischen Textilfabriken von Prato. Die Fenster in den heruntergekommenen, verlassen wirkenden Gebäuden sind teilweise verbarrikadiert, damit die leuchtenden Neonlampen nicht verraten, dass hier auch nachts gearbeitet wird. Neun Kilometer weiter südlich, in Seano, am Fuß der Weinberge, stehen die Stoffballen und Nähmaschinen in neuen Hangars hinter adretten Häusern, die von ihren italienischen Besitzern teuer vermietet werden.

Eine dieser Pronto-Moda-Zwerg­fa­bri­ken gehört der 34-jährigen Lu Hong, die in Turnschuhen und einem Luxus­anorak über der Schulter die Bestellung von 1800 Flanellkleidern vorbereitet, die sie am nächsten Tag mit ihrem Lieferwagen zu einem Händler in der Pariser Rue Popincourt fahren will. „Ein Chinese wie ich. Seine wohlhabende Familie ist pleitegegangen, und er musste wieder bei Null anfangen.“

Lu Hong selbst hat vor zehn Jahren als Näherin begonnen, für 800 Euro im Monat. „Davor war ich Buchhalterin in einem Telekommunikationsunter­nehmen, zu Hause in Fujian“, erzählt sie. Lu hat Großes vor. Sie hat eine Lagerhalle erworben, die von chinesischen Dekorateuren zu acht Showrooms ausgebaut wurde, die sie vermieten will. „Die Einnahmen werden erst mal niedrig sein, denn ich weiß schon, dass es Bußgelder hageln wird.“

Lu Hong stellt uns Gao Dong vor, einen ihrer drei Angestellten. Der 40-jährige Bügler wird pro Stück bezahlt. „Frau Lu zahlt mir 15 Cent pro Kleid. Ich kann in zwölf Stunden bis zu 600 Kleider bügeln. Das sind 90 Euro am Tag. Nicht schlecht, oder?“

Der Bauernsohn aus Hebei hat früher in einer Fabrik in der Gegend von Shenzhen für 700 Euro im Monat für die Firma Bally Schuhe hergestellt. 2017 besuchte ihn während der Neujahrsferien eine Art Jobhunter. Er versprach einen besseren Lohn inklusive Schlafplatz und drei Mahlzeiten am Tag. Gao willigte ein, bezahlte den Mann für dessen Dienste und fand sich einen Monat später in Italien wieder. Seine Frau folgte ihm wenig später. „Sie fand Arbeit in einer Knopf­fa­brik zehn Kilometer von hier. Sie schläft dort auch, in einem von der Fabrik gestellten Zimmer, das sie sich mit einer anderen Arbeiterin teilt. Wir sehen uns einmal im Monat.“

Mittlerweile sind viele Beschäftigte nach China zurückgekehrt, weil es dort bessere Jobs für sie gibt. Afrikaner und Pakistaner sind an ihre Stelle getreten. Man begegnet ihnen zum Beispiel ab 7 Uhr morgens auf der Via del Molinuzzo vor einem kükengelben Imbisswagen, der Nudeln für 1 Euro und Teeeier für 50 Cent verkauft. „Sie essen in der Hocke auf dem Bürgersteig wie richtige Chinesen“, amüsiert sich der chinesische Koch, der früher in Sesto Fiorentino in einer Lederfabrik gearbeitet hat. Die Lagerhallen – 15 Kilometer von Prato und 10 Kilometer von Florenz entfernt – waren in enge Räume unterteilt, in denen einige hundert Arbeiter schufteten, erzählt er.

Noch immer werden dort ausschließlich Handtaschen für den Groß- und Einzelhandel gefertigt, so auch von der Familie Hui. Eine ältere blonde Dame im Pelzmantel führt uns zu deren verschlagartigen Arbeitsraum. Sie legt einen Umschlag ab und verschwindet. „Das ist ein Vorschuss“, erklärt Frau Hui. 14 Euro bekommen die Hersteller für die Markentasche, die im Handel 220 Euro kostet.

In diesem Gewirr von winzigen, durch Gitter und Mäuerchen unterteilten Werkstätten laufen wir auch etwa 20 afrikanischen Arbeitern über den Weg. Einer von ihnen ist der 28-jährige Senegalese Sidy. Er näht hier seit kaum zwei Wochen. „Es ist ziemlich entspannt hier. Mein Boss ist der Typ an der Nähmaschine hinter mir. Ich arbeite von 7 bis 21 Uhr, dafür bekomm ich 30 Euro am Tag. Ich wechsle von einer Werkstatt zur nächsten. Wenn einer der Chefs eine SMS schickt, mach ich mich sofort auf den Weg.“

Am Abend kehren wir nach Prato zurück. Vor einem Haus unter Schirmpinien begegnet uns Amin mit einem Sixpack Energydrinks unter dem Arm. Der 23 Jahre alte Pakistaner arbeitet seit sieben Monaten in einer Textil­fa­brik, nachdem er fast drei Jahre in einem Flüchtlingslager in Süditalien verbracht hat. „So lange hat es gedauert, bis ich politisches Asyl bekam. Ich bin da fast durchgedreht, aber ich hab Italienisch gelernt.“ Der junge Mann wuchs in einem Dorf in Wasiristan auf, der Bergregion im Nordwesten Pakistans, die die Taliban als Rückzugsgebiet nutzen. Seine Mutter sei tot, sein Vater behindert, erzählt er: „Jetzt kann ich ihm monatlich 300 Euro schicken.“

Sein Chef kommt aus Wenzhou, „aber es läuft alles über meinen Vorarbeiter, einen Pakistaner, der mir auch ein Bett für 150 Euro im Monat besorgt hat“. Amin lebt in einem Haus mit sechs Zimmern, in jedem wohnen vier junge Männer. Der Vermieter, der auf diese Weise 3600 Euro im Monat kassiert, ist ein italienischer Rentner, der über unsere Anwesenheit nicht sonderlich erfreut ist.

„Die afrikanischen oder pakistanischen Arbeiter haben in der Regel eine Aufenthaltsgenehmigung, aber sie arbeiten viele Stunden am Tag, obwohl sie nur Teilzeitverträge haben“, erzählt der Bürgermeister. „Auch wenn in Prato zukünftig wieder weniger Chinesen leben sollten, bleiben wir eine multikulturelle Gesellschaft. In Prato ist jeder willkommen – solange er sich an die Regeln hält.“

Im Mai 2019 wurde Biffoni wiedergewählt und hat mit dem Telekommunikationsingenieur Marco Wong und der Unternehmerin Teresa Lin erstmals zwei Angehörige der zweiten Generation chinesischer Einwanderer in den Gemeinderat geholt. Die 24-jährige Lin, die in den USA Wirtschaft studiert hat, leitet bereits das familieneigene Pronto-Moda-Unternehmen.4

1 www.statistica.comune.prato.it.

2 Vgl. Antonella Ceccagno, „City Making and Global Labor Regimes: Chinese Immigrants and Italy’s Fast Fashion Industry“, London (Palgrave MacMillan) 2017.

3 Louise Munkholm, „Re-inventing Labour Law Enforcement: a Socio-legal Analysis“, London (Bloomsburry) 2020.

4 Dario di Vico, „Teresa Lin e Marco Wong, la storia dei primi due consiglieri cinesi eletti a Prato (oltre l’integrazione)“, Corriere della Sera, 10. Juni 2019.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Jordan Pouille und Lei Yang sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 13.08.2020, von Jordan Pouille und Lei Yang