Ägyptens unersättliche Armee
Das Wirtschaftsimperium des Militärs erobert immer mehr Branchen
von Jamal Bukhari und Ariane Lavrilleux
Das Militär hat einen Fernsehspot gedreht: Infanteristen versprühen Desinfektionsmittel, andere verteilen zu einem Soundtrack, wie man ihn aus B-Movies kennt, Atemschutzmasken vor einer Kairoer Metrostation, Kameradrohnen filmen eine provisorische Coronaklinik, und eine Stimme aus dem Off preist die Kapazitäten der Armeefabriken, in denen pro Tag 100 000 OP-Masken hergestellt würden (für ein Land mit 100 Millionen Einwohnern).
Die martialische Inszenierung soll davon künden, dass die ägyptische Armee im Kampf gegen das Coronavirus keine Mühen scheut. Bereits am 7. April hatte Präsident Abdel Fattah al-Sisi erklärt, dank der „Behörde für den Zentraleinkauf medizinischen Materials“ verfüge man über strategische Reserven an sanitärer Schutzausrüstung. Offiziell untersteht die 2015 eingerichtete Behörde Ministerpräsident Mustafa Madbuli, doch de facto wird sie von Generalmajor Bahaa el-Din Zaidan geleitet.
Al-Sisis Erklärung vergrößerte die Befürchtungen vieler Ägypter, dass die Armee die Coronakrise dazu nutzen könnte, ihren Einfluss auf die Wirtschaft noch weiter auszubauen. Seit dem Staatsstreich der „Bewegung der freien Offiziere“ 1952 hat sich das ägyptische Militär schrittweise zu einem der wichtigsten Wirtschaftsakteure im Land entwickelt.
Laut Verfassung ist die Armee der „Garant für die Demokratie und ihre Institutionen“. Doch seit der Machtübernahme al-Sisis 2013 hat sich der Einfluss der Armee vervielfacht. Der Präsident zieht aus dieser Entwicklung einen doppelten Vorteil: Erstens traut er der als weniger bürokratisch geltende Armee am ehesten zu, große Infrastrukturprojekte schnell umzusetzen. Zweitens wird al-Sisis Position gestärkt, weil der wirtschaftliche Einfluss des Militärs neue Einnahmen für das wachsende Offizierskorps bedeutet, das im Gegenzug das Regime stützt.
Seit 2016 müssen alle Bestellungen der staatlichen Krankenhäuser über die Behörde von General Zaidan abgewickelt werden – auch die der in der Covid-19-Pandemie besonders nachgefragten Masken, Handschuhe und Beatmungsgeräte. Zaidans Amt sucht die aus- oder inländischen Lieferanten aus, verhandelt den Einkaufspreis und bestellt in großen Mengen, um die Waren mit einem Aufschlag an das ägyptische Gesundheitsministerium weiterzuverkaufen. Und wehe dem, der sich widersetzt: „Unsere Bestellung von Beatmungsgeräten wurde blockiert, weil wir direkt beim Hersteller angefragt haben“, berichtet der Leiter einer Privatklinik, der anonym bleiben möchte.
Theoretisch soll der bedarfsgerechte Zentraleinkauf die Preise für Importwaren senken. Tatsächlich führt er jedoch zu teils lebensgefährlichen Engpässen. Seit den Reformen fehlen „30 Prozent der für Herzoperationen nötigen Ausrüstung, etwa künstliche Herzklappen in Sondergrößen“, berichtet Ali M., der ein Krankenhaus leitet. Rund 2000 ägyptische Hersteller und Importeure medizinischer Ausrüstung erhielten keine öffentlichen Aufträge, weil sie der Zaidan-Behörde nicht genehm waren. All diese Firmen mussten schließen, hat die Kammer dieser Branche ermittelt.
Der Gesundheitssektor ist nur ein Beispiel von vielen. Früher begnügte sich die Armee mit Profiten aus der Produktion von Brot, Nudeln oder Mineralwasser. Mittlerweile betätigt sich das Militär auch im EDV-Sektor und in diversen Dienstleistungsbereichen. Seit 2013 betreibt es zudem Fischzucht, Zementfabriken und sogar ein Messeunternehmen. Zu diesem Imperium gehören 93 Firmen, von denen ein Drittel in den letzten sieben Jahren gegründet wurde.
Doch das Herzstück der Expansionsstrategie ist die Abschöpfung öffentlicher Aufträge. Alle Ministerien und selbst die islamische Al-Azhar-Universität mussten Kaufverträge mit den Unternehmen der Armee abschließen.1 Die Preise sind nicht verhandelbar, berichtet Azraq T., ein Universitätslehrer: „Die Militärs sind die einzigen Zwischenhändler. Sie verkaufen uns importierte Computer, deren Preise 20 Prozent über dem Marktwert liegen.“
Im Klientelystem der Mubarak-Ära (1981–2011) nahm die Geschäftswelt an den Privilegien der Armee keinen Anstoß, weil sie ihren Teil vom Kuchen abbekam. Doch heute wird der ökonomische Einfluss der Streitkräfte häufig beklagt. Sie verschafften sich „gegenüber normalen Unternehmen ungerechtfertigte Vorteile“, sagt der Milliardär Naguib Sawiris, was eine „Wettbewerbsverzerrung“ bedeute.2 Die Unternehmen der Armee zahlen weder Steuern noch Importzölle, und auch von der Ende 2019 eingeführten Erhöhung des Strompreises wurden sie ausgenommen.
Lukrative Restaurierung der Pyramiden
Dieser militärisch-industrielle Komplex stützt sich auf drei Säulen: das Ministerium für Militärproduktion, das Verteidigungsministerium mit quasi autonomen Nebenbehörden und die Arabische Organisation für Industrialisierung (AOI).
Einzig das 1954 gegründete Ministerium für Militärproduktion veröffentlicht Zahlen über seine rasant wachsenden Wirtschaftsaktivitäten. Es betreibt 17 Fabriken und 20 Unternehmen, die Einkünfte sind zwischen 2014 und 2019 von 4,2 Milliarden auf 13,2 Milliarden ägyptische Pfund (etwa 720 Millionen Euro) gestiegen, also um 215 Prozent.3
Das Verteidigungsministerium kontrolliert unter anderem die krakenartige National Service Products Organization (NSPO). Anfangs sollte die 1979 unter Präsident Anwar as-Sadat gegründete NSPO nur die Militäreinheiten beliefern, um durch das Ausschalten von Zwischenhändlern den Staatshaushalt zu entlasten. Heute besitzt sie etwa 30 Unternehmen und betreibt im ganzen Land Tausende Kioske und Läden für billige Lebensmittel. Diese NSPO-Geschäfte arbeiten extrem kostengünstig, weil dort ständig 7500 Wehrpflichtige für einen Monatssold von umgerechnet 19 Euro beschäftigt sind, während die private Konkurrenz ihren Angestellten mehr als 100 Euro zahlt.
Die NSPO expandiert, aber ihre Umsätze bleiben ein Geheimnis. Seit 2013 hat der „bevorzugte Unternehmer der Regierung“ 4 öffentliche Aufträge im Wert von insgesamt 1,5 Milliarden Euro an Land gezogen – von der Restaurierung des Pyramidenplateaus in Gizeh über den Bau von Wasseraufbereitungsanlagen bis hin zur Einrichtung von Videoüberwachung.
Zudem bekam die NSPO lukrative Mautlizenzen für Autobahnen zugesprochen, und zwar gleich für 50 bis 99 Jahre. Anfang 2000 gab es erst ein paar Dutzend NSPO-Tankstellen, heute sind es mehr als 300. Fast alle Grundstücke entlang der Nationalstraßen sind im Besitz der Armee. Und wenn Parzellen, die das Militär begehrt, bereits genutzt werden, lässt die Zwangsräumung nicht lange auf sich warten.
Im Sommer 2019 tauchten die Bulldozer der Armee in einem Vorort Alexandrias auf, um eine Autobahn und ein Einkaufszentrum zu bauen. Dabei wurde eine Fabrik des Tiefkühlkostproduzenten Givrex abgerissen, womit 1500 Menschen ihren Job verloren. Ein Gericht konnte den Abriss zwar verzögern, letztlich aber nicht verhindern. Und nachdem der Gouverneur von Alexandria versprochen hatte, den Abriss zu verhindern, wurde er durch einen General ersetzt.
Die Armee schreckt auch nicht davor zurück, der einheimischen Industrie Konkurrenz zu machen oder sie gar zu verdrängen. Ihr Einstieg in die Zementbranche hat nach Einschätzung der Investmentbank Pharos Holding zur Schließung von zwei Staatsunternehmen mit insgesamt 3000 Arbeitsplätze geführt, drei weitere Fabriken stehen auf der Kippe. Seitdem schaffte es die Armee trotz harter Konkurrenz, ihren Marktanteil in der Zementbranche auf 13 Prozent zu erhöhen. Das verdankt sie unter anderem der Bevorzugung bei Infrastrukturprojekten, die von Präsident al-Sisi angestoßen wurden. Auf ähnliche Weise gelang ihr der Einstieg in die Marmor- und Granitproduktion, die sie seit 2016 zu 40 Prozent kontrolliert.
Eine Strategie lässt sich dennoch nicht erkennen. In den meisten Fällen geht es der Armee offenbar weniger um wirtschaftliche Effizienz als um die Kontrolle der Märkte und ein dynamisches Image. Das zeigt insbesondere die Entwicklung der AOI, die ihre Umsätze zwischen 2012 und 2018 vervierfacht hat.
Dabei konkurrieren die zwölf AOI-Betriebe jedoch teilweise mit Unternehmen des Ministeriums für Militärproduktion. Die Profitrate des AOI ist mit 14 Prozent des Gesamtumsatzes (von 110 Millionen Euro im Jahr 2018) nicht sonderlich imposant – die letzte offizielle Bilanzprüfung hat bei etlichen AOI-Betrieben sogar beunruhigende Defizite aufgedeckt, die auf die überhöhten Gehälter der leitenden Angestellten, die niedrige Produktivität und eine geringe Wertschöpfung zurückzuführen sind.
Die neue Hauptstadt – eine riesige Fehlinvestition
Neben den Aufträgen der verschiedenen Ministerien war die Armee 2018 Generalunternehmer für mindestens 2300 große Projekte, die von Präsident al-Sisi persönlich abgesegnet wurden.5 Dabei hat sie die Aufträge für diese Projekte zwischen privaten Unternehmen (deren Loyalität durch den Geheimdienst verifiziert werden muss) und ihren eigenen Unternehmen verteilt. Die Militäragentur für Projektplanung, die auf Brücken- und Straßenbau spezialisiert ist, konnte ihr Auftragsvolumen von 2014 bis 2016 um 367 Prozent steigern.
Zu den Projekten gehören 50 neue Städte. Ein Symbol für das ausufernde Engagement der Armee ist vor allem die neue Verwaltungshauptstadt, die 45 Kilometer östlich von Kairo mitten in der Wüste entsteht. Die zweite Bauphase musste mangels Investoren bereits verschoben werden. Selbst für die ersten Bauten – einige Glastürme und vereinzelte Wohnhäuser – interessierte sich kaum ein Investor, wie einer der bekanntesten Bauunternehmer Ägyptens, Hussein Sabbour, bestätigt. Auch Sabbours Immobilienkonzern hat kein einziges Grundstück gekauft: „Die Preise sind zu hoch, nur ein paar Newcomer haben bezahlt, die ins Baubusiness einsteigen wollen. Aber diese Blase wird platzen, damit werden eine Menge Skandale aufgedeckt werden.“
Auch für die Zulieferbetriebe, die von der Armee mit Aufträgen beglückt werden, ist die Situation oft schwierig: „Die Rechnungen werden erst sechs Wochen nach Ablauf der Frist beglichen“, berichtet der Vertreter eines großen europäischen Konzerns. „Oft können wir unsere Ansprüche nur dadurch durchsetzen, dass wir die Arbeiten einstellen.“
Die große Frage ist, ob die umfangreichen Wirtschaftsaktivitäten der Armee dem Land zugutekommen. Der Bauboom hat zwar das Wachstum angekurbelt (das laut Weltbank im Finanzjahr 2018/19 bei 5,6 Prozent liegt), aber dafür musste sich der Staat auch kräftig verschulden. Bereits vor der Covid-19-Krise machten die Kreditbestände von umgerechnet 96 Milliarden Euro eine Schuldenquote von knapp 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.6 Die Arbeitslosenquote ist zwar offiziell von 2018 bis 2019 von 9,9 auf 8,9 Prozent gesunken, aber das erklärt sich vor allem durch das Streichen von 1,3 Millionen Frauen aus der Arbeitslosenstatistik. Die staatliche Statistikbehörde Capmas (Central Agency for Public Mobilization and Statistics) wird seit 2019 von einem General geleitet.
Die Zahlen zeigen, dass das Wirtschaftswachstum so gut wie keine neuen Stellen geschaffen hat – während sich zugleich die Zahl der Beschäftigten im informellen Sektor ohne Sozialversicherung seit 2006 verdoppelte.7
Die Gier der Armee beunruhigt viele ägyptische Experten, die im privaten Gespräch erkennen lassen, dass sie sich einen allmählichen Rückzug des Militärs aus bestimmten Branchen wünschen. Dafür würde man der Armee sogar, wenn es sein muss, eine gewisse Kompensation anbieten. Dass es dazu kommt, dürfte in nächster Zukunft allerdings höchst unwahrscheinlich sein.
2 Middle East Monitor, 21. Mai 2020.
3 Nach Aussagen des Ministers für Militärproduktion, Al Mal und Al-Masry al-youm, Mai 2018.
5 Laut einem Armeesprecher, 2. September 2019.
6 Französische Botschaft in Kairo, „Lettre économique d’Égypte“, Nr. 105, Februar 2020.
Aus dem Französischen von Jakob Farah
Jamal Bukhari und Ariane Lavrilleux sind Journalisten.