09.07.2020

Am Beispiel Senegal

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Am Beispiel Senegal

Die Erzählung vom aufstrebenden Afrika ist ein Mythos

von Ndongo Samba Sylla

Obelisk zum Gedenken an die Unabhängigkeit, Dakar, 25. November 2019 XINHUA/picture alliance
Am Beispiel Senegal. Die Erzählung vom aufstrebenden Afrika ist ein Mythos
Kasten: Rohstoffkrise und Nepotismus

Die Idee eines aufstrebenden afrikanischen Kontinents ist bereits mehrere Jahrzehnte alt. „The Emergence of Africa“ lautete der Titel eines Berichts, den Richard Nixon 1957 Präsident Eisenhower vorlegte: Der damalige US-amerikanische Vizepräsident war gerade von einer Afrikarundreise zurückgekehrt, auf der er etwa ein Dutzend Staatschefs getroffen hatte – darunter Kwame Nkrumah (Ghana) und Gamal Abdel Nasser (Ägyp­ten).

Für Nixon lautete die zentrale Frage damals: Welchen Weg wird Afrika angesichts der bevorstehenden Unabhängigkeit vieler ehemaliger Kolonien einschlagen? Nixons befürchtete offensichtlich, die sowjetische „Propaganda“ und die prekäre Situation der Schwarzen in den USA könnten das postkoloniale Afrika in die Arme des Kommunismus treiben. Zwei Jahrzehnte später machte sich die Finanzwelt den schwammigen Begriffs emergence zu eigen, um damit Entwicklungsländer mit wirtschaftlichem Aufstiegspotenzial zu bezeichnen.

Der bis dahin gängige Ausdruck „Dritte Welt“ klang für potenzielle Investoren nicht wirklich attraktiv, wurde er doch stets mit Bildern einer von Armut geprägten Region assoziiert. Daher bevorzugte man Anfang der 1980er Jahre den neuen und zweifellos dynamischer klingenden Begriff ­emerging markets, (aufstrebende Märkte).

Während der Französischen Revolution habe das emporstrebende Bürgertum neue Wörter geschaffen, um Bestehendes zu töten, schrieb vor 125 Jahren der marxistische Journalist Paul Lafargue.1 In der neoliberalen Ära musste man zur Veränderung der Realität nicht erst Begriffe erfinden. Viel probater war es, auf den vieldeutigen Ausdruck emergence zu setzen, der maximalen Ertrag bei minimalem Risiko versprach. „Aufstreben“ wurde so zum übergeordneten Ziel von Ländern, die dazu bestimmt waren, den Wachstums- und Rentabilitätserwartungen der globalen Finanzwirtschaft zu entsprechen.

Von 1980 bis 2000 wurde Afrika vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der Weltbank in den Schwitzkasten der Strukturanpassungsprogramme genommen; damit war den einzelnen Ländern der Aufstieg in die Gruppe der emerging ­markets verwehrt. Es entstand der Mythos, der Kontinent sei – mit Ausnahme Südafrikas, das zu den Brics-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) zählte, und vielleicht der Maghrebstaaten und Ägyptens – im Zuge der rasanten Globalisierung abgehängt worden.

Die vermeintlichen Ursachen dieser „Marginalisierung“ im Welthandel wurden in wissenschaftlichen Arbeiten und den Mainstreammedien breit erörtert.2 Es ist nicht ohne Ironie, dass dieselben Akteure, die ein solches Narrativ zur Rechtfertigung einer stärkeren wirtschaftlichen, kommerziellen und finanziellen Liberalisierung verbreiteten, von einem Tag auf den anderen ein Loblied auf das aufstrebende Afrika (­Africa rising) sangen. Dabei hatte sich an der wirtschaftlichen Spezialisierung des Kontinents nichts geändert.

Nachdem der Economist im Jahr 2000 einen „Kontinent ohne Hoffnung“ beschrieben hatte, titelte die Zeitschrift – dem Zeitgeist folgend – elf Jahre später: „The hopeful continent: Africa ­rising“ (Ein Kontinent voller Hoffnung: das aufstrebende Afrika). Das Beratungsunternehmen McKinsey Global Institute stieß in dasselbe Horn und sprach 2010 von „Lions on the ­move“ (Löwen in Bewegung). Wie ist es zu dieser veränderten Sicht gekommen?

Nach zwei Jahrzehnten erzwungener Sparpolitik fand die Wirtschaft Afrikas Ende der 2000er Jahre wieder auf Wachstumskurs zurück. Ermöglicht wurde dies durch die höhere politische Stabilität sowie stark angestiegene Preise für afrikanische Exportgüter und vor allem Rohstoffe.

Zu dem neuen Image trug auch der rapide Ausbau der kommerziellen und finanziellen Beziehungen zwischen den afrikanischen Staaten und China bei. Plötzlich erschien der ganze Kontinent als Reservoir „ungenutzter“ Ressourcen und als riesiger, vielversprechender Markt für ausländische Unternehmen, die ihre Waren, Dienstleistungen und Infrastrukturprojekte an eine junge, stark wachsende Bevölkerung verkaufen wollten.

Der Eindruck des „aufstrebenden Afrikas“ wurde durch die Zunahme lokaler Vermögen gestärkt: Zwischen 2008 und 2012 stieg die Zahl der Afrikaner mit einem zu investierenden Vermögen in Höhe von mindestens 1 Million US-Dollar von 95 000 auf 140 000.3

Rapide steigende Auslandsverschuldung

Auf globaler Ebene kamen die Auswirkungen der Finanzkrise von 2007/08 hinzu: Die von den Zentralbanken der nördlichen Hemisphäre eingeleitete Nullzinspolitik bewirkte, dass viel Kapital in die „aufstrebenden Märkte“ drängte, die mit attraktiven Renditen lockten. Dabei ließen sich einige afrikanische Länder dazu verleiten, Eurobonds, das heißt Staatsanleihen in ausländischer Währung, zu emittieren.

„Wir müssen heute unseren Fokus auf ein vollständig in die Globalisierung integriertes Afrika richten“, hieß es 2013 in einem Bericht des französischen Senats unter dem Titel „Afrika ist unsere Zukunft“.4 Die frankofonen Staaten Afrikas vernahmen die schmeichelhafte Botschaft und versuchten sich möglichst attraktiv darzustellen. 13 der 14 Staaten, die den CFA-Franc nutzen, ergriffen die Gelegenheit und legten ein spezifisches Konjunkturprogramm auf.

Am Beispiel Senegal lässt sich zeigen, welche Sackgasse die Idee der „aufstrebenden Märkte“ für viele Länder bedeutet. 2014 wurde der „Plan für einen aufstrebenden Senegal“ (Plan Sénégal Émergent, PSE) mit einem Zeithorizont bis 2035 aufgelegt. Dass der Plan auf neoliberale Vorstellungen beruht, zeigt sich schon an dem erklärten Ziel, das Land bis 2020 unter die Top 50 der von der Weltbank geführten „Doing Business“-Rangliste zu befördern – wobei die Indices dieser Rangliste zumindest fragwürdig sind.

Als Hauptkriterium für den „aufstrebenden“ Charakter Senegals wird im PSE wie in anderen afrikanischen Ländern das jährliche Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) herangezogen. Obwohl es bei der Umsetzung von Phase eins (2014–2018) des Plans zu Verzögerungen kam, wuchs die senegalesische Wirtschaft dank des niedrigen Ölpreises, der im afrikanischen Vergleich moderaten Zinsen und einer günstigen Niederschlags­bilanz seit 2012 jährlich um rund 6 Prozent.

Diese Wachstumszahlen, von denen die Industrieländer nur träumen können, sind jedoch mit Vorsicht zu genießen: 2015 lag das reale BIP pro Kopf nicht höher als im Jahr 1960, als Senegal noch 3,2 Millionen Einwohner hatte und nicht gut 14 Millionen wie 2015.

Mit anderen Worten: Das Wirtschaftswachstum beruht im Wesentlichen auf einem Nachholeffekt, der die Einbußen der „verlorenen Jahrzehnte“ seit 1960 kompensiert. Die wirtschaftliche Expansion ging zudem mit einem Abbau der Arbeitsplätze im formellen Sektor der Wirtschaft einher. Deren Zahl sank von 390 420 im Jahr 2012 auf 300 284 im Jahr 2018.5 Wir haben es also mit einem Wachstum ohne positive Beschäftigungseffekte zu tun.

Wegen der großen Bedeutung des ausländischen Kapitals stieg der Anteil des entgangenen Primäreinkommens (Zinszahlungen auf Auslandsschulden, Transfer von Gewinnen und Dividenden, Bezahlung ausländischer Experten) am BIP zwischen 2010 und 2017 laut Weltbank von 2,2 Prozent auf 4,4 Prozent. Diese Mittel fehlten dem Land also für die Entwicklungsfinanzierung.

Parallel dazu stieg die Auslandsverschuldung wieder rapide an, nachdem sie Anfang der 2000er Jahre im Rahmen der HIPC-Initiative für hoch verschuldete arme Länder (heavily indebted poor countries) und der multilateralen Entschuldungsinitiative (Multilateral Debt Relief Initiative, MDRI) teilweise abgebaut worden war. Von 2008 bis 2018 erhöhte sich die Schuldenlast gegenüber dem Ausland von 2,8 Milliarden auf 12,5 Milliarden US-Dollar. Allein 7 Milliarden davon entfielen auf den Zeitraum von 2014 bis 2018, also auf die Phase eins des „Plans für einen aufstrebenden Senegal“.6

Zwar haben arme Haushalte und Menschen mit Behinderung von Beihilfen profitiert. Doch eine allgemeine Krankenversicherung für die Mehrheit der Senegalesen gibt es bis heute nicht, obwohl man sie schon 2013 offiziell eingeführt hatte. Auch deshalb ist Senegal immer noch nicht aus der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder aufgestiegen.

Zehn Jahre Wachstum, aber kein sauberes Wasser

In der Rangliste des Indexes menschlicher Entwicklung (Human Development Index, HDI), der vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Na­tio­nen (UNDP) ermittelt wird, lag das Land 2019 auf Platz 166 von 189 Staaten. Damit gilt der Senegal als ein Land mit „geringer menschlicher Entwicklung“.

Auch der Begriff „inklusives Wachstum“ ist ein reiner Mythos. Was bedeuten schon zehn Jahre hohen Wachstums, wenn bis heute 52 Prozent der Haushalte auf dem Land keinen Zugang zu sauberem Wasser haben?7 Und wenn selbst in vielen Vierteln der Hauptstadt Dakar die Wasserversorgung immer wieder zusammenbricht?

Das Coronavirus hat in Senegal – wie in den meisten anderen afrikanischen Staaten – im Gesundheitsbereich bisher relativ wenige Probleme verursacht. Wirtschaftlich hat die Pandemie allerdings die Grenzen des „Plans für einen aufstrebenden Senegal“ schonungslos aufgezeigt. Die Behörden schlossen Grenzen und Schulen, verboten Versammlungen einschließlich Gottesdiensten und unterbanden den Verkehr zwischen den Städten. Außerdem gilt eine Maskenpflicht für den öffentlichen Dienst, in Geschäften und in Bussen und Zügen. Auch haben die Behörden die Schließung der Märkte in Dakar an Samstagen und Sonntagen verfügt.

Ein totaler Lockdown ist allerdings unmöglich. Ein solcher Stillstand würde auch die finanziellen Möglichkeiten der Regierung übersteigen, die auf die Solidarität der Gesellschaft angewiesen ist, um das bescheidene Niveau der Unterstützung für die bedürftigsten Bevölkerungsschichten – in Form von Lebensmittelhilfen oder Stromzuschüssen – zu kompensieren.

Doch die Pandemie hat immerhin einen Vorteil: Sie deckt schonungslos auf, wie sehr das Land finanziell von außen dominiert wird. Da es sein Defizit nicht in der Nationalwährung finanzieren kann, ist es mehr denn je von internationaler Unterstützung durch Zahlungsaufschübe und die Gewährung neuer Kredite abhängig. Im Gegenzug für die kürzlich vom IWF gewährten Darlehen hat sich Dakar verpflichtet, schnellstmöglich wieder zu einem strengen Sparkurs zurückzukehren.

Dasselbe droht vielen anderen afrikanischen Staaten, etwa Ghana, Kenia, Sambia, Äthiopien und Angola, deren Auslandsverschuldung sich in den Jahren von 2008 bis 2018 vervierfacht hat. Rückblickend lässt sich sagen: Die Euphorie für das „aufstrebende Afrika“ konnte nur andauern, so lange die afrikanischen Staaten hohe Preise für ihre Exportgüter erzielten und das „Vertrauen“ ihrer Gläubiger besaßen.

Die Covid-19-Pandemie setzt dem Kapitel des emerging Africa jetzt auf dramatische Weise ein Ende. Das schärft allerdings auch das Bewusstsein der Völker Afrikas für die Kosten der fehlenden Währungssouveränität, die Gefahren der Auslandsverschuldung, die Freihandelsfalle und die Notwendigkeit einer autonomen Nahrungsmittelversorgung. Und es zeigt, wie wichtig es ist, dass Afrika angesichts eines zunehmend brüchigen multilateralen Systems zusammenhält.

1 Paul Lafargue, „La langue française avant et après la Révolution. Études sur l’origine de la bourgeoisie moderne“, 1894, www.marxists.org.

2 Alexander J. Yeats u. a., „What caused Sub-Saharan Africa’s marginalization in world trade?“, Finance and Development, Bd. 33 (4), IWF, Washington, D. C., Dezember 1996.

3 World Wealth Report 2013, Capgemini and RBC Wealth Management.

4 Jany Lorgeoux und Jean-Marie Bockel, „L’Afrique est notre avenir“, Rapports d’Information, Nr. 104 (2013–2014), französischer Senat, Paris, 29. Oktober 2013.

5 „Analyse diagnostique de l’emploi au Sénégal“, Stu­dien­zentrum für Entwicklungspolitik, Dakar 2020.

6 International Debt Statistics, Weltbank, Washington, D. C., 2020.

7 „Enquête démographique et de santé continue“, Staatliche Agentur für Statistik und Demografie, Dakar 2017.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Ndongo Samba Sylla ist Ökonom und Autor (zusammen mit Fanny Pigeaud) von „L’arme invisible de la Françafrique. Une histoire du franc CFA“, Paris (La Découverte) 2018.

Rohstoffkrise und Nepotismus

Die rapide wachsende Verschuldung Afrikas rührt daher, dass externe Faktoren beteiligt sind, vor allem der Verfall der Rohstoffpreise und des Werts der afrikanischen Währungen gegenüber dem US-Dollar. Hinzu kam die Finanzkrise von 2008, die die wirtschaftliche Dynamik bremste, zugleich aber Banken und private Investoren des globalen Nordens veranlasste, überschüssige Liquidität in Staatsanleihen von Ländern des Südens anzulegen.

In diesen Ländern ist die Relation zwischen Bedienung der Auslandsschulden und staatlichen Einnahmen seit 2010 um 85 Prozent gestiegen; sie liegt heute im Durchschnitt bei 12,2 Prozent.

Auch interne Faktoren haben den Schuldenberg vergrößert: fehlende Investitionen in Infrastruktur und Produktion, geringe Steuereinnahmen, Versickern öffentlicher Gelder, Spekulation mit inländischen Staatsanleihen, Kapitalflucht, Korruption, Nepotismus.

Dies sind jedoch keineswegs spezifisch afrikanische Erscheinungen, sondern Merkmale eines globalen Wirtschaftssystems, das von internationalen Finanzinstitutionen (Weltbank, IWF) und informellen Gruppen (G20, Pariser Club) dominiert wird.Milan Rivié

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von Ndongo Samba Sylla