11.06.2020

Die Mobilitätsfalle

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Die Mobilitätsfalle

Die Coronapandemie hat den modernen Nomaden zur Immobilität verdammt. Doch zum Glück nähert sich mit dem 15. Juni der europäische „D-Day des Tourismus“, wie der italienische Außenminister jubelt. Endlich dürfen sich die vom Homeoffice ausgebrannten Workaholics wieder in Bewegung setzen.

von Simon Borja, Guillaume Courty und Thierry Ramadier

WOLFRAM STEINBERG/picture alliance
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Für die Vereinten Nationen ist Mobilität der „Motor der menschlichen Entwicklung“. Geldhäusern oder, noch naheliegender, Transportunternehmen wie der französischen Staatsbahn SNCF dient der Begriff als Werbeslogan, zum Beispiel in „Hallo Bank! So mobil wie Sie“ oder dem SNCF-Motto „Liberté, égalité, mobilité!“

Und die Forschung wittert gleich ein neues Paradigma. Menschen (Studierende, Arbeitnehmer, Migranten), Güter (Waren, die quer durch die ganze Welt transportiert werden), Kompetenzen (Beweglichkeit, Aufgeschlossenheit), Informationen (Medien, Handykommunikation, Vernetzung) und Ideen (Politik und Wissenschaften) – nichts und niemand kommt mehr um die Mobilität herum.

Nach den zurückhaltenden 1970er Jahren tauchte der Begriff in den 1980er und 1990er Jahren immer häufiger auf. In den ersten Jahren des neuen Millenniums wurden Loblieder auf die Mobilität gesungen, und sie avancierte zum Bezugspunkt der herrschenden kapitalistischen Ideologie.

Doch während der Begriff im politisch-wissenschaftlichen Diskurs zunehmend problematisiert und hinterfragt wurde („Mobilität als Kapital“, „Kritische Annäherungen an den Begriff Mobilität“), versah ihn die aufstrebende Berater- und Coachingindustrie mit einem affektiv aufgeladenen Bedeutungsüberschuss. So wandelte sich die Mobilität von einer biophysikalischen Notwendigkeit zum Merkmal der „Selbstverwirklichung“ als Lebensziel.

Bereits in den 1920er Jahren erfand der russisch-amerikanische Soziologe Pitirim Sorokin (1889–1968) den Begriff der „sozialen Mobilität“. Der aus der UdSSR verbannte Sorokin emigrierte 1923 in die USA, wo er über das Wachstum der US-amerikanischen Mittelklasse und die Durchlässigkeit von Gesellschaften forschte. Laut Sorokin sei das Streben des Einzelnen nach Leistung und persönlicher Entfaltung der entscheidende Motor gewesen.

Etwa zeitgleich entwickelte sich auf dem Feld der Stadtplanung eine raumbezogene Sicht auf Fortbewegung (die damals freilich noch nicht „Mobilität“ hieß). Als in den 1930er Jahren die ersten Verkehrsingenieure auf den Plan traten, begannen sie die städtischen Bewegungsströme statistisch zu erfassen und auf dieser Grundlage Aussagen über das menschliche Fortbewegungsbedürfnis zu treffen.

Ab Mitte der 1970er Jahre setzten sich Ingenieure in Zusammenarbeit mit Geografen, Wirtschaftswissenschaftlern und Psychologen mit dem individuellen Fortbewegungsverhalten auseinander: Wie nahmen die Einzelnen ihre Fortbewegung zeitlich, räumlich und unter Kostenaspekten wahr, und was beeinflusste ihre Entscheidungen? In den 1980er und 1990er Jahren ließen sich dann auch allgemeine Bewegungsmuster dank wachsender Rechenkapazitäten immer leichter analysieren und auswerten.

Bald kam es zu einer weiteren Verschiebung: Wurde die Mobilität in den 1970er Jahren als „mehr oder weniger ausgeprägter Trend zur Fortbewegung“ definiert, steht der Begriff in den 2000er Jahren dafür, dass alles – der einzelne Mensch und die Gesellschaft insgesamt – immer beweglicher wird. Mit der Aneignung von „Kompetenzen“ könne jede und jeder die „Potenziale“ der Fortbewegung ausschöpfen. Geografische Fortbewegung und berufliche Entfaltung verschmolzen zu „der“ Mobilität.

Doch allein mithilfe der Wissenschaft hätte dieser Begriff sich nicht derart erfolgreich durchsetzen können. Dass er so viele Bilder und positive Assoziationen weckt, ist vor allem den Künsten zu verdanken. Maler, Literatinnen und Dichter beschrieben, beschworen, erwanderten und durchstreiften seit dem 19. Jahrhundert die modernen Städte und schufen Figuren und Gestalten, die das Instabile und den Wandel feierten.

Vom Flaneur bei Charles Baudelaire, Franz Hessel oder Walter Benjamin über Jules Vernes U-Boot „Nautilus“, dessen Kapitän Nemo sich das Motto „Mobilis in mobile“ gab, über die Pariser Streifzüge der Dadaisten bis hin zu Marcel Duchamps „Akt, eine Treppe herabsteigend“ avancierte das befreiende, schöpferische oder auch rebellische Sichfortbewegen zum Signum einer sich wandelnden Gesellschaft.

Um den Ersten Weltkrieg herum bekam diese Art, die Welt zu sehen, durch die Begeisterung für den technischen Fortschritt neue Nahrung. Die Urbanisierung weckte Aufstiegshoffnungen und löste damit Wanderungsbewegungen aus. In einer vom Automobil, dem Ausbau des Zugverkehrs und der Luftfahrt in Gang gesetzten Vorstellungswelt wurde das Loblied auf die Bewegung zum Allgemeingut. Fortbewegung bedeutete immer auch Fortschritt.

„Ich male die Straßenbahnen und Züge meiner Jugendzeit“, erklärte Paul Del­vaux, „und glaube, dass ich so die Frische dieser Epoche festhalten kann.“ Die Futuristen entwickelten eine Faszination für die Stadt „als lärmende Baustelle voller Bewegung und Dynamik“, während der Suprematismus „das neue metallische, mechanische Leben, das Brausen der Automobile, das Leuchten der elektrischen Lampen, das Brummen der Propeller“ begrüßte, weil es „die Seele wachgerüttelt hat“.1

Daran anknüpfend löste eine philosophisch-humanistische Lesart nach dem Zweiten Weltkrieg die konservative Gegenüberstellung von Flucht, die die Armeen und Nationen als Verrat verurteilten, und Kampf ab.2 Man feierte die individuelle Bewegung als widerspenstigen Akt des Körpers, den die kapitalistische Entfremdung zum Gefangenen gemacht hatte: Der französische Neurologe Henri Laborit veröffentlichte seinen vielbeachteten Essay „Lob der Flucht“, Guy Debord und die Situationisten erkundeten das „Umherschweifen“ im Stadtraum, Gilles Deleuze und Félix Guattari prägen den Begriff der „Deterritorialisierung“.

Der Begriff Mobilität umfasst heute eine Summe von Vorstellungen, die permanent aktualisiert werden. Ausgehend von dem Grundsatz, dass alle Bevölkerungsgruppen immer schon in Bewegung waren, werden mit dem Begriff die Wanderungsbewegungen zu Beginn der Menschheitsgeschichte, Invasionen, Migration oder die Fahrt zur Arbeit aus demselben Blickwinkel betrachtet und unter dem „Gesamtphänomen Mobilität“ zusammengeführt. Mobilität ist zugleich Fortschritt, Modernität, Marktwirtschaft und Globalisierung. Und wer mit diesem Begriff hantiert, befindet sich automatisch auf der Gewinnerseite.

Schon in den 1960er Jahren begann die Politik auf der Suche nach einem neuen „Sound“ Mobilität als Schlagwort zu benutzen. Aus Sicht der Europäischen Kommission ist Mobilität eine „Chance“ und ein „bewährtes Verfahren“. Als die EU 2006 zum „Europäischen Jahr der Mobilität der Erwerbstätigen“ ausrief, wurde vor allem betont, wie wichtig die „Fähigkeit der europäischen Arbeitnehmer, sich an die strukturellen und wirtschaftlichen Veränderungen anzupassen“, ist. Der Imperativ der Flexi-, nein, Mobilität ist ein weiteres Herrschaftsinstrument gegenüber dem Arbeitnehmer.

Wie um das Marx’sche Diktum zu bestätigen, dass „die Ideologen alles auf den Kopf stellen“, rückt auch die Mobilitätsideologie nur die positiven Seiten ins Blickfeld. Mobilität transportiert einen Weltentwurf der Eliten und wird zur glaubenstiftenden Kategorie. Sie geht von oftmals minoritären Sachverhalten aus, stellt einen Sollzustand der Welt über die realen sozialräumlichen Bezüge und bemüht dafür Zahlen, die den Eindruck erwecken, es handele sich um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Dabei lebt die Bevölkerungsmehrheit außerhalb dieser Vorstellungswelt.

Nur ein geringer Prozentsatz der europäischen Studierenden nutzt im Grundstudium das Erasmus-Programm, während es das französische Parlament in einem Bericht 2014 als eine „erfolgreiche Initiative im Dienste einer breiten Zielgruppe“ feierte. Ähnlich klaffen Rhetorik und Realität auseinander, wenn es um die Gruppe der sogenannten grands mobiles geht. Das sind Pendler, die jeden Tag berufsbedingt mehr als zwei Stunden unterwegs sind oder mehr als 60-mal im Jahr auswärts übernachten. „In der Region Île-de-France fahren über 170 000 Erwerbstätige mehr als 80 Kilometer zur Arbeit“, erklärte das Institut für Stadtplanung und Raumordnung der Re­gion Paris für das Jahr 2014 und schätzte, dass „diese Erwerbstätigen jedes Jahr insgesamt 4,9 Millionen Fahrten absolvieren“.3 Tatsächlich sind nur 4 Prozent der Berufstätigen „grands mobiles“.

Diese Zahlen verdecken die Pro­ble­me, die die Mobilität mit sich bringt und die mit der Macht über den Körper zusammenhängen – einer Form der Herrschaft, die dem Einzelnen als mobilem Akteur die Verantwortung für seine und die gesellschaftliche Zukunft überträgt. Diese bisher letzte Bedeutungsverschiebung bringt eine mobilitäre Ordnung hervor, mit deren Hilfe der Kapitalismus die „Ausbeutung der Unbeweglichen durch die Beweglichen“4 betreibt und seine Fähigkeit stärkt, auf die eigenen Widersprüche zu reagieren. Denn diese Kategorie vollbringt das Kunststück, den Einzelnen in eine Verräumlichung der so­zia­len Beziehungen einzubinden, in der er selbst im Homeoffice dankbar den Platz einzunehmen hat, der ihm zugewiesen wird.

1 Siehe Antonio Sant’Elia, „L’Architettura Futurista. Manifesto“, Lacerba, Florenz 1914, und Kasimir Malewitsch, Écrits, Paris (Gérard Lebovici) 1986.

2 Siehe Laurent Jeanpierre, „La place de l’exterrito­rialité“, in: Mark Alizart und Christophe Kihm (Hg.), „Fresh Théo­rie“, Paris (Léo Scheer) 2005.

3 Bericht „Voyages franciliens“ (PDF), Institut d’aménage­ment und d’urbanisme de l’Île-de-France, Februar 2014.

4 Luc Boltanski und Eve Chiapello, „Inégaux face à la Mobilität“, Projet, Nr. 271, Saint-Denis 2002.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Simon Borja und Guillaume Courty sind Politikwissenschaftler an der Universität Lille II. Thierry Ramadier forscht als Psychologe am Centre national de la re­cherche scientifique (CNRS) in Straßburg.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Simon Borja, Guillaume Courty und Thierry Ramadier