Kein Vor und Zurück in Mexiko
Die Pandemie trifft die Migranten aus Mittelamerika hart
von Maya Averbuch
Abigail war schon Stunden durch das Grenzgebiet im südlichen Texas gewandert, als sie die Lichter eines Wagens der US-Grenzpolizei bemerkte. Sie wollte den Beamten die polizeilichen Dokumente zeigen, die sie in einer kleinen Hüfttasche bei sich trug und die beweisen, dass sie in El Salvador Opfer von Übergriffen und Erpressung geworden war. Aber die Polizisten sagten ihr, dass es wegen eines neuen Virus kein Asyl gebe, und schickten sie zurück nach Mexiko.
Das Coronavirus, mit dem sich bis heute nachweislich über 7 Millionen Menschen angesteckt haben, dient der US-Regierung zur Rechtfertigung historisch einmaliger Einwanderungsbeschränkungen. Im März verkündete sie, dass sie „zum Schutz der öffentlichen Gesundheit“1 alle illegal eingereisten oder ohne gültige Papiere an Grenzübergängen eintreffende Personen sofort zurückschicken werde. Das Ergebnis: Mexiko, das sich nach einigem Hin und Her zur Auflösung seiner Auffanglager verpflichtet hatte, musste plötzlich für tausende weitere Migranten sorgen.
Zwischen dem 21. März, als die USA mit den Ausweisungen begannen, und Ende April sind über 20 000 Migranten deportiert worden.2 Laut Schätzungen stammt ungefähr ein Drittel von ihnen aus zentralamerikanischen Ländern. Manche wurden direkt in ihre Heimatländer zurückgeflogen.
Für diejenigen, die nach Mexiko zurückgeschickt wurden, kam das Versprechen, aus den Lagern entlassen zu werden, einem Segen gleich – der bald zu einem Albtraum wurde. Die Gesundheit dieser Migranten ist seit Wochen gefährdet: Sie werden von einem Lager ins andere verschoben, in Länder zurückgeflogen, aus denen sie mit gutem Grund geflohen sind, oder mit Bussen an die mexikanische Südgrenze gekarrt, um von dort aus zu Fuß nach Hause zu laufen. „Sie benutzen die Pandemie, um das Land von Migranten zu säubern“, sagt die Leiterin der Zufluchtsstätte Cafemin, María Magdalena Silva Renteria, heute über die mexikanische Regierung.
Die Trump-Regierung hat es in den letzten Jahren immer schwieriger gemacht, in den USA Asyl zu erhalten, die Konsequenzen hatte vor allem Mexiko zu tragen. Als die USA die Anzahl der Asylanträge beschränkten, die pro Tag an den Grenzübergängen gestellt werden durften, wurde Mexiko zur Wartehalle. Als die Vereinigen Staaten im letzten Jahr im Rahmen des sogenannten Migrantenschutzprotokolls tausende Menschen zu langen Wartezeiten bis zu einem gerichtlichen Anhörungstermin verdonnerten, musste Mexiko ihnen notgedrungen einen befristeten Aufenthalt gewähren. Der Befehl, die Grenze für Asylsuchende und Menschen ohne Papiere komplett zu schließen, ist die bislang extremste Maßnahme, die die USA dem Nachbarstaat aufgezwungen haben.
Als Mexiko Ende März damit begann, seine Flüchtlingslager zu leeren, sah es so aus, als sei es eines der wenigen Länder, das die Warnungen vor den Risiken des Coronavirus für Menschen in Massenunterkünften ernst nahm. Binnen eines Monats reduzierte das Land die Zahl der rund 3800 Migranten in seiner Obhut auf unvorstellbare 106.3 Manchen von ihnen ging das allerdings noch nicht schnell genug: Um die Freilassung aus den Lagern zu erzwingen, steckten einige Geflüchtete ihr Lager in Brand, eine Person starb dabei. Inzwischen hatten jedoch die mittelamerikanischen Länder ihre Grenzen geschlossen, was die Deportationen verzögerte und die Migranten in einem Vakuum zurückließ.
Abigail, eine Reinigungskraft mittleren Alters, die El Salvador noch nie zuvor verlassen hatte, brauchte 22 Tage, um Texas zu erreichen. Es dauerte weitere 21 Tage, bis sie wieder in ihrer Heimat ankam. Sie verbrachte längere Zeit in zwei überfüllten mexikanischen Auffanglagern und 24 Stunden in einem Bus. Schließlich wurde sie in einem Flugzeug abgeschoben, in dem viele Deportierte keine Schutzmasken trugen. Als sie in El Salvador ankam, musste sie für einen Monat in Zwangsquarantäne.
Falls einer ihrer Mitgefangenen in Mexiko mit Corona infiziert gewesen sein sollte, wäre eine Ansteckung fast unvermeidlich gewesen. Ihre Nächte verbrachte dicht an dicht mit anderen. Eine Weile schlief sie mit einer zweiten Frau auf derselben Matratze, den Kopf neben deren Füßen, um dem Atem der Fremden zu entgehen. Andere Inhaftierte hatten Fieber und Erkältungssymptome.
Hätte sie auf der Reise ihr Smartphone nicht ausgeschaltet, um Datenvolumen zu sparen, hätte sie wohl früher erfahren, dass die USA die Grenze dichtgemacht hatten: „Wenn man unterwegs ist, verliert man das Zeitgefühl. Wir haben unsere Handys erst wieder angemacht, als wir in den Bergen waren. Aus den sozialen Medien erfuhren wir, wie sehr sich das Virus ausgebreitet hatte.“
Einige Hundert der in Mexiko festsitzenden Menschen wurden dezentral untergebracht oder bekamen eine Wohnbeihilfe, die große Mehrheit – darunter auch Abigail – aber nicht. Nun saß sie allein in einer Quarantänestation an der salvadorianischen Küste fest und wusste nicht weiter. „Mein ganzes Leben war gefährlich, aber jetzt ist die Situation wirklich kritisch, weil die Krankheit überall ist.“
Was ist aus den Tausenden von Menschen geworden, die während der letzten zwei Monate aus den USA abgeschoben und in Mexiko nicht interniert wurden? Manche stellte die mexikanische Regierung vor die Wahl, in Mexiko Asyl zu beantragen oder nach Hause zurückzugehen. Andere bekamen ein temporäres Besuchervisum, aber oft erst nachdem man sie an die mexikanische Südgrenze verfrachtet hatte, was viele als Aufforderung zum Verlassen des Landes begriffen.
Nach Einschätzung von Anwälten ist die Angst vor Ansteckung und Obdachlosigkeit so groß, dass mehr Migranten freiwillig nach Hause zurückkehren als je zuvor. Viele, die vor oder nach Passieren der US-Grenze von mexikanischen Beamten festgenommen wurden, fürchteten, nicht aus den Lagern entlassen zu werden, selbst wenn sie einen Asylantrag stellten. Die nationale Asylbehörde nahm zwar noch Anträge entgegen,4 bearbeitete sie aber nicht mehr.
„Stell dir den Stress vor, wenn du mitten in einer Masse von Leuten eingesperrt bist! Ich habe lange hin und her überlegt und dann entschieden, dass ich mich lieber deportieren lasse“, sagt Francisco Sánchez, ein 19-jähriger Honduraner, der in einem der Lager festgehalten wurde, wo die Insassen ihre Matratzen in Brand steckten.
Zwischenzeitlich ließen die mittelamerikanischen Länder allerdings keine Deportationsflüge mehr landen, selbst die Rückkehrwilligen konnten nicht in ihre Heimat zurück. In einer schriftlichen Anweisung, die einer honduranischen Migrantin in Reynosa an der Grenze zu Texas ausgestellt wurde, hieß es schlicht, sie solle, sobald der Bus sie an der guatemaltekischen Grenze abgesetzt hat, „von dort die Reise in ihr Heimatland fortsetzen“. Wenn kümmert’s, dass es in Guatemala keine öffentlichen Verkehrsmittel gibt und sie keine Einreiseerlaubnis für das Land hatte?
Nachdem ein mexikanischer Richter die Freilassung stark gefährdeter Migranten angeordnet hatte,5 hatten deren Anwälte große Mühe herauszufinden, wo die Entlassenen abgeblieben waren. Einige hundert Migranten, die man in den südlichen Bundesstaaten ausgesetzt hatte, wurden auf dem Fußmarsch Richtung Grenze gesichtet. Manchen schafften es – trotz Guatemalas Einreisesperre – über die grüne Grenze. Andere erbettelten sich eine Mitfahrmöglichkeit und tauchten später an der honduranischen Grenze wieder auf.
Harlin Antonio López, ein 22-jähriger Asylsuchender aus Honduras, berichtet, er sei im Februar aus mexikanischem Gewahrsam entlassen worden. Eine Notunterkunft in Mexiko-Stadt bot ihm einen Schlafplatz an, aber die mexikanische Regierung erlaubte ihm den Ortswechsel nicht. Er wurde erwischt, als er im Zug in die Hauptstadt fahren wollte. Zusammen mit anderen Migranten karrte man ihn an die guatemaltekische Grenze und setzte ihn dort auf der Landstraße aus.
„Immer fünf von uns haben sie auf der Straße ausgesetzt und dem Schicksal überlassen“, erzählt er. Er war fest entschlossen, in Mexiko zu bleiben, während andere versuchten, sich nach Guatemala durchzuschlagen. Aber die Anwohner jenseits der Grenze drohten ihnen mit Prügel und verweigerten ihnen den Übertritt, aus Furcht, sie könnten das Virus einschleppen.
Manche der aus den USA Deportierten waren bereits positiv auf das Coronavirus getestet worden, und die Angst, auch die Leute, die aus Mexiko kamen, könnten erkrankt sein, verbreitete sich in Windeseile. Im Mai teilte die guatemaltekische Regierung mit, dass vier aus Mexiko deportierte Minderjährige positiv getestet wurden, obwohl sie keinerlei Symptome zeigten.
„Wir haben tagtäglich medizinisches Personal an der Grenze, um Covid-19-Verdachtsfälle aufzuspüren“, erklärt Manuel Cardona Hernández, ein Mitarbeiter der guatemaltekischen Gesundheitsbehörde im Departement Petén. „Aber wir sind eine Grenzregion, wo man übers Meer oder den Fluss nach Mexiko hinüberkann, und wir haben jede Menge blinde Flecken, wo jeder unbemerkt durchkommt.“
Rückkehrer werden mit Misstrauen empfangen. Sánchez Rojel berichtete, er sei nach seiner Deportation in die honduranische Hauptstadt und einem 18-stündigen Fußmarsch am Ende seiner Kräfte gewesen. Er bat Soldaten um Hilfe und musste dann tagelang am Straßenrand auf einen Virustest warten. Zum Glück war der Test negativ, aber er kann den Argwohn der Militärs – und seiner Familie – gut nachvollziehen: „Im Flugzeug saßen wir wie die Hühner im Käfig, im Bus genauso. Wir waren so dicht zusammengepfercht, als gäbe es überhaupt keine Pandemie.“
Als die mexikanische Regierung bekannt gab, dass die Auffanglager aufgelöst seien, versprach man, besonders Gefährdete – Kinder, Familien, Ältere und Menschen mit chronischen Krankheiten – als Erstes nach Hause zu schicken. Anwälte befürchten indes, dass die in Mexiko Verbliebenen, die sich wegen der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie weder Geld schicken lassen noch welches verdienen können, wieder zu „Illegalen“ werden könnten, sobald ihre vorläufigen Papiere ablaufen.
„Wir haben dafür gekämpft, dass die Leute aus den Auffanglagern entlassen werden, weil wir befürchteten, dass die Ansteckungsrisiken dort sehr viel größer sind. Aber man muss Alternativen anbieten, damit sie nicht auf der Straße landen“, sagte Sergio Otal Aznar, Projektleiter der jesuitischen Flüchtlingshilfe in Mexiko. „Man sieht inzwischen auf den Märkten und auf der Straße sehr viel mehr Elend als zuvor.“
Die zwiespältige Strategie der mexikanischen Regierung hat zahllose Migranten tausende Kilometer von den Orten entfernt zurückgelassen, wo sie die Pandemie überstehen wollten. Obwohl das Land weit weniger Coronafälle zu verzeichnen hat als die USA, fühlen sich viele Migranten dort nicht unbedingt sicherer. Ihre Zukunft sieht höchst unterschiedlich aus: Manche wie Harlin Antonio López werden sich für ein Almosen verdingen, andere, die mehr Geld haben, werden sich weigern zu bleiben.
Die stark frequentierten Migrationsrouten sind inzwischen fast ebenso leer wie die mexikanischen Auffanglager. Aber manche können und wollen nicht warten. Der 24-jährige Bryan etwa (Name geändert) wurde, nachdem er zwanzig Jahre in den USA gelebt hatte, im März nach Honduras deportiert. Binnen weniger Tage war er wieder Richtung Norden unterwegs. Er wurde in Mexiko aufgegriffen und vor seiner Freilassung in zwei verschiedenen Lagern festgehalten. Im April überquerte er die Grenze bei Reynosa.
Nachdem die US-Behörden seine Fingerabdrücke genommen hatten, wiesen sie ihn ab. Drei Tage später unternahm er einen neuen Versuch. „Das Coronavirus macht mir keine Angst. Keine Ahnung, ob es das überhaupt gibt oder ob sie’s nur erfunden haben. Ich hab noch keinen gesehen, der daran gestorben ist. Meine größte Sorge sind meine Tochter und meine Mutter. Zu denen will ich so schnell wie möglich zurück.“
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Maya Averbuch arbeitet als Journalistin in Mexiko-Stadt und berichtet über Migration, Asylverfahren und Politik. Dieser Text erschien im Original bei The Intercept.
© FLM/The Intercept; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin