11.06.2020

Der russische Patient

zurück

Der russische Patient

Die Coronakrise offenbart die fundamentalen Schwächen des einst gut funktionierenden Gesundheitssystems

von Estelle Levresse

Audin Alvestad, Difficult Decisions, 2018, Acryl auf Leinwand, 120 x 100 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Nach zwei Monaten Lockdown kehrt Moskau seit dem 1. Juni wieder langsam ins Leben zurück. Doch an der üppigen Tulpenpracht in der schönen Fußgängerallee auf dem Mittelstreifen des Boulevard Roschdestwenski konnten sich in diesem Jahr nur die Straßenreiniger erfreuen.

Die im Frühling sonst so lebendige russische Hauptstadt schien bis vor Kurzem wie in einem verlängerten Winterschlaf zu liegen: Geschäfte, Restaurants und Cafés geschlossen, öffentliche Plätze und Parks zugesperrt – nur hier und da traf man auf einzelne Passanten beim Einkaufen oder Gassigehen. Die Ruhe in der 12-Millionen-Einwohner-Metropole, in der seit dem 30. März eine Ausgangssperre galt, hatte etwas Beängstigendes. Am auffälligsten: Man sah weder Kinder noch Ältere auf den Straßen. Für sie war außer der Fahrt zur Datsche jeder Ausgang verboten.

Russland hatte sehr früh Schutzvorkehrungen gegen das Coronavirus ergriffen und dadurch den Ausbruch um einige Wochen verzögert. Schon am 30. Januar wurde die Landgrenze zu China geschlossen, kurz darauf ein Einreisestopp für Chinesen verhängt, bei Moskaus Schülern täglich die Temperatur gemessen, Rückkehrer aus Risikostaaten wurden in Quarantäne geschickt und öffentliche Verkehrsmittel desinfiziert.

Trotzdem hat sich das Virus im ganzen Land verbreitet. Allein am verlängerten 1.-Mai-Wochenende ist die Zahl der Neuinfektionen auf fast 31 000 in die Höhe geschnellt. Am Vorabend war Ministerpräsident Michail Mischustin mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert worden, kurz danach teilten auch der Bauminister und sein Stellvertreter mit, dass sie erkrankt seien.

Am 1. Juni gab es in Russland offiziell 414 878 Infizierte und 4855 Tote. Die westliche Presse behauptet, nur etwa 30 Prozent der Todesfälle würden registriert (The New York Times und Financial Times vom 11. Mai). Doch selbst wenn man eine solche Dunkelziffer berücksichtigt, lag die absolute Zahl der an Covid-19 verstorbenen Patienten am 1. Juni weit unter denen von Brasilien (29 314 Tote), Großbritannien (38 489) oder den USA (105 773).

Die frühzeitige Reaktion der russischen Behörden speist sich aus den Erfahrungen, die das Land im Kampf gegen Infektionskrankheiten während der Sowjetzeit gemacht hat. Schon 1918 wurde das Volkskommissariat für Gesundheitswesen (Narkomsdraw) gegründet, das unter der Leitung des Arztes Nikolai Semaschko ein landesweit einheitliches, für alle Bürger kostenloses Gesundheitssystem einrichtete – das erste der Welt.

Jeder Landkreis bekam eine Poliklinik für ambulante Pflege: „Durch die Organisation des Gesundheitssystems nach dem Ortsprinzip lernt das medizinische Personal die Arbeits- und Lebensbedingungen der Patienten besser kennen“, erklärte Semaschko sein Modell. Der lokale Arzt werde so „ein Freund der Familie“.1 Semaschko wurde damit quasi zum Wegbereiter der hausärztlichen Versorgung.

Im Zentrum der neuen Gesundheitspolitik stand die Vorsorge gegen Infektionskrankheiten. Zu diesem Zweck wurde schon 1922 die Behörde zur sanitären und epidemiologischen Überwachung (Sanepid) eingerichtet, die Interventionsteams in alle Ecken des Sowjetreichs schickte.2 In Verbindung mit Massenimpfungen konnten in der UdSSR dadurch Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria ausgerottet werden. Die durchschnittliche Lebenserwartung, die noch Ende des 19. Jahrhunderts in Russland bei 31 Jahren lag, erreichte Anfang der 1960er Jahre 69 Jahre. Innerhalb kurzer Zeit holte die Sowjetunion den Rückstand gegenüber westlichen Ländern auf.

In der Nachfolge des Sanepid steht die 2004 von Präsident Putin gegründete Aufsichtsbehörde für Konsumenten- und Gesundheitsschutz (Ros­po­treb­nadsor), die im Kampf gegen Covid-19 eng mit dem Gesundheitsministerium zusammenarbeitet und direkt dem Ministerpräsidenten berichtet. Durch das Eingreifen dieser Behörde seien die Krankenhäuser stark entlastet worden, erklärt Iwan Konowalow, Dozent für Kinderkrankheiten an der Medizinischen Hochschule Pirogow.

Hinzu kamen eine ausgedehnte Fern­überwachung3 und nach Altersgruppen gestaffelte Einschränkungen. So wurden per Dekret des Moskauer Bürgermeisters alle Personen über 65 Jahre, die an chronischen Krankheiten litten, ab dem 23. März zu striktem Hausarrest verpflichtet. 85 Prozent der an Covid-19 Erkrankten sind deswegen unter 65 und damit statistisch betrachtet weniger dem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs ausgesetzt.

Vielleicht auch deshalb vermeldete Moskau eine offizielle Sterberate, die zu den niedrigsten der Welt gehört (knapp 1,2 Prozent, Stand 1. Juni 2020). Allerdings wird man in Russland immer noch nicht sehr alt. Bei Männern liegt die Lebenserwartung (67,6 Jahre) weit unter dem globalen Durchschnitt (72 Jahre).4

Das anfangs verhältnismäßig moderate Infektionsgeschehen ist außerdem den Massentests zu verdanken: Am 7. Mai meldete die Aufsichtsbehörde Rospotrebnadsor 4,8 Millionen Coronatests. Damit lag Russland weltweit an zweiter Stelle. Dadurch konnten nicht nur die Covid-19-Kranken sehr früh isoliert und behandelt werden, sondern es wurden auch die Personen mit unauffälligem Krankheitsverlauf erfasst, was zunächst ebenfalls die Sterberate gesenkt hat.

Aus Sowjetzeiten hat das Land große Krankenhauskapazitäten übernommen. Bisher galt diese „Anomalie“ in der Krankenversorgung – zumal in einem Land, das nur 3,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für den Bereich Gesundheit verwendet (der OECD-Durchschnitt liegt bei 6,5 Prozent) – als Nachteil. Denn der Ausbau der Krankenhauskapazitäten ging auf Kosten anderer Bereiche. So gab es kaum Investitionen in moderne Medizintechnik.

Durch die Zunahme von Herz- und Gefäßerkrankungen und Krebs sank die Lebenserwartung zwischen 1965 und 1974 um 3 Jahre. Um die Planziele zu erfüllen, habe man die Kranken so lange wie möglich hospitalisiert – auf Kosten von Qualität und Innovation, berichtet die US-amerikanische Expertin für das russische Gesundheitssystem Judyth Twigg. Und die Prävention – früher die Stärke des Semaschko-Modells – wurde immer mehr vernachlässigt.

In den letzten Jahren wurden zudem immer mehr medizinische Einrichtungen geschlossen; die Zahl der Betten pro 10 000 Einwohner wurde in den Jahren 2000 bis 2015 um ein Viertel reduziert.5 Im OECD-Vergleich steht Russland mit 8,1 Betten pro 10 000 Einwohner aber immer noch viel besser da als Frankreich (6 Betten) oder die USA (2,8 Betten). Diese Krankenhauskapazitäten sind in Pandemiezeiten eine Chance; außerdem verfügt Russland über einen relativ guten Bestand an Beatmungsgeräten.6

Hinter diesen positiven Zahlen verbirgt sich allerdings eine weniger rosige Wirklichkeit. Das russische Gesundheitssystem hat sich nie vollständig vom Zusammenbruch in den 1990er Jahre erholt. Die brutale Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Verhältnisse führte zur Rückkehr von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose. Durch die Einführung einer Pflichtkrankenversicherung (aktuell 5,1 Prozent des Bruttolohns) verbesserte sich die Gesamtsituation zwar allmählich wieder. Doch zugleich vertiefte sich die Ungleichheit bei den Behandlungskosten. Während Arztbesuche und Klinikaufenthalte von der Krankenversicherung übernommen werden, müssen sämtliche Medikamente aus eigener Tasche bezahlt werden.

Auch die regionale Ungleichheit hat sich verschärft. In den 2000er Jahren wurden die Krankenhäuser auf dem Land geschlossen und in den Großstädten moderne Kliniken gebaut. In den sozialen Netzwerken klagen Pflegekräfte über Materialmangel, fehlende Medikamente, veraltete Ausstattungen und niedrige Löhne. 2019 gab es in mehreren Städten Streiks und regelrechte Kündigungswellen, die oft von der Gewerkschaft der Ärzteallianz unterstützt wurden. Ende August 2019 haben in Pjatigorsk, nahe der georgischen Grenze, alle Unfallchirurgen eines Krankenhauses gleichzeitig gekündigt.

In Tarussa, einer Stadt mit etwa 10 000 Einwohnern, 150 Kilometer südlich von Moskau, erzählten uns die Pflegekräfte, dass es selbst an der Ba­sis­ausstattung wie Einwegkittel und Desinfektionsmittel fehle. „Um jemanden an ein Beatmungsgerät anzuschließen, braucht man nicht nur einen qualifizierten Arzt, sondern auch Anästhesisten, Labortechniker und vor allem Intensivpfleger“, erklärt Judyth Twiggs. „Es ist nicht sicher, dass Russland über diese Ressourcen verfügt.“

Selbst wenn das russische Gesundheitssystem dem Covid-19-Schock standhalten sollte, wären die strukturellen Probleme nicht gelöst. Die Grundversorgung wird nämlich systematisch zurückgefahren. In Russland ist die Zahl der Bezirksärzte zwischen 2005 und 2016 von 73 200 auf 60 900 gesunken.7 Der Anteil der Allgemeinärzte lag 2017 bei knapp 13 Prozent aller Ärzte (OECD-Durchschnitt: 33 Prozent).8 Nach einer Studie vom August 2019 geht mehr als die Hälfte der Russinnen und Russen nicht zum Arzt, sondern behandelt sich selbst.9

Derweil vergrößert sich für die Reicheren das Angebot an privaten Dienstleistungen. Seit 2006 die erste private Entbindungsstation in Moskau von der MD Medical Group eröffnet wurde, wachsen die großen Gesundheitskonzerne immer schneller. Ihre Zielgruppe ist vor allem die obere Mittelschicht in den Großstädten. Von 2013 bis 2016 ist der Anteil privater Krankenkassen von 16 auf 29 Prozent gestiegen. Medsi, Russlands größte private Krankenhauskette, die der russischen Holding Sistema gehört und jährlich 8 Millionen Behandlungen vornimmt, will 2020 in Moskau ein 34 000 Quadratmeter großes Medizinzentrum eröffnen.

Igor Sheiman, Ökonom an der Moskauer Hochschule für Wirtschaftswissenschaften, empfiehlt schon seit Jahren, dass Russland zu den Quellen des Semaschko-Modells zurückkehren sollte. „Leider geht die Entwicklung nicht in diese Richtung“, sagt Sheiman. Er geht davon aus, dass die Mittel für das Regierungsprogramm „Gesundheit“ (eines von dreizehn Großprojekten für den Zeitraum 2019–2024) bei Weitem nicht ausreichen werden, um die notwendigsten Reformen in Angriff zu nehmen.

Er fürchtet außerdem, dass die dafür vorgesehenen Gelder womöglich noch gekürzt werden. In ihrer Fixierung auf den stabilen Rubel zögert die Regierung, das Haushaltsdefizit zu vergrößern, und finanziert nur das Notwendigste. Modernisierung sieht anders aus.

1 Siehe Vladimir A. Reshetnikov, Natalia V. Ekkert, Lorenzo Capasso u. a., „The history of public healthcare in Russia“, Medicina historica, Band 3, Nr. 1, Fidenza (Italien) 2019.

2 Siehe Roger I. Glass, „The Sanepid service in the USSR“, Public Health Reports, Band 91, Nr. 2, 1976.

3 Siehe Félix Tréguer, „Wenn die Polizei dein Fieber misst“, LMd, Mai 2020.

4 Population, Ined Éditions, Nr. 4–5, Paris 1995.

5 „Die Optimierung des russischen Gesundheitssystems in Aktion“, Zentrum für wirtschaftliche und politische Reformen (auf Russisch), online seit 17. Mai 2017.

6 Die Gesundheitsbehörden gehen von 40 000 Beatmungsgeräten aus, siehe RIA Novosti, 17. März 2020.

7 Igor Sheiman, „Priorität für medizinische und sanitäre Grundversorgung“ (auf Russisch), Soziale Aspekte der Volksgesundheit (Onlinemagazin), Band 65, Nr. 1, 2019.

8 „Health at a Glance 2019“, OECD Indicators, 2019.

9 Zitiert von der Agentur Tass, 23. August 2019.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Estelle Levresse ist Journalistin in Moskau.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Estelle Levresse