11.06.2020

Die zweite Große Depression

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Die zweite Große Depression

Corona, Armut und Rassismus in den USA

von Thomas Frank

Audun Alvestad, The Chilli Garden, 2019, Acryl auf Leinwand, 150 x 120 cm
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Es ist die schlimmste aller Zeiten in den USA. Die Pandemie, vor der uns die Katas­tro­phen­schutzleute seit Jahrzehnten warnen, ist nun wirklich da, und sie hat uns voll erwischt. Unsere leviathangleiche Regierung, in normalen Zeiten von der Rechten als aufgebläht geschmäht, schaffte es zu Beginn der Krise nicht, sich aus dem Sessel zu stemmen. Und der Ex-Fernsehstar Donald Trump, unser Präsident, hat sich mit seinen dummen Sprüchen, die er der Nation bis vor Kurzem täglich ins Gesicht blaffte, als inkompetent erwiesen, schlimmer noch: als akute Gefahr für die öffentliche Gesundheit.

Aber auch für die ökonomischen Folgen des Lockdown haben wir keinen Auffangmechanismus. Und so stürzen wir von der Hochkonjunktur direkt in eine neue Große Depression mit massiver Arbeitslosigkeit und dem Ruin zahlloser großer und kleiner Unternehmen.

Zu alledem kam noch der furchtbare Vorfall von Minneapolis hinzu, wo der Afroamerikaner George Floyd auf brutale, aber nicht unübliche Weise ermordet wurde. Als Plünderer die Situation ausnutzten, reagierte die Polizei im ganzen Land mit einer Ge­walt­or­gie, die sich oft gegen vollkommen friedliche Demonstranten richtete. Und dann schaffte es dieser Trump, der offenbar keiner Krise gewachsen ist, alles nur noch schlimmer zu machen, indem er direkt vor dem Weißen Haus einen brutalen Polizeieinsatz anordnete – nur damit er einen Fototermin mit hochgehaltener Bibel inszenieren konnte.

Im Land des Individuums sieht sich das Individuum plötzlich kollektiv von der Infektionswelle, von Polizeigewalt und vom ökonomischen Zusammenbruch überwältigt. Und all das in Zeiten, die geradezu idyllisch anmuteten. In meinem Wohnort in Maryland erlebe ich den tollsten Frühling meines Lebens. In diesem Paradies der höheren Angestellten sucht die Pandemie eine Landschaft heim, die einem Fragonard-Gemälde ähnelt. Mit den ersten Corona-Ängsten erblühten die Narzissen, dann die Tulpen, dann die Kirschbäume. Zurzeit drehe ich meine Joggingrunden unter blühenden Bäumen durch autofreie Straßen. Und wohin man sieht, herrscht derselbe ironische Kontrast.

Fast jede Stimme, die sich hierzulande zu Wort meldet, fühlt sich durch die Pandemie in den alten Überzeugungen bestätigt. Die Selbstgerechtigkeit triumphiert: Haben wir nicht immer gesagt, dass dieser ignorante Dummkopf Trump eine Witzfigur ist, rufen die Medienleute. Die Konservativen halten dagegen: Jetzt kapiert ihr, warum wir euch ständig vor den liberalen Weich­eiern gewarnt haben, die selbstmörderisch jeden ins Land lassen.

Doch allmählich wird immer klarer, dass die Pandemie unsere liebgewonnenen Überzeugungen nicht festigt, sondern erschüttert. Seit Jahrzehnten wurde unsere Produktion ins Ausland verlagert, versteht sich doch von selbst im Informationszeitalter. Wir waren auf dem Weg zu einer Nation von Angestellten, zu einem Land der innovativen Kopfarbeiterprodukte, von Finanz­ins­tru­menten und Filmserien.

Aber jetzt fehlen uns plötzlich die lebensrettenden Masken, die Testkits und sogar die Desinfektionsmittel. Und unsere Nomenklatura schafft es nicht, unseren Ex-Handelspartnern klarzumachen, dass die Erde eine Scheibe ist und sie uns das alles sofort liefern müssen. Der Tod lacht höhnisch in unsere dusseligen neoliberalen Gesichter.

Unser profitorientiertes Gesundheitssystem, an dessen Aufbau beide großen Parteien rastlos mitgewirkt haben, ist den Herausforderungen der Pandemie in keiner Weise gewachsen. Der Grund ist einfach. Es sollte nie der öffentlichen Gesundheit dienen. Zugang zu einer guten Versorgung sollte vielmehr stets ein Privileg der Erfolgreichen und Wohlhabenden bleiben. Das System ist gleich doppelt leistungs­orien­tiert: Es belohnt renommierte Mediziner und innovative Forscher der Pharmaindustrie, und es garantiert den Reichen die beste Versorgung.

Dagegen werden Arme mit mieser oder gar keiner Krankenversicherung, wenn sie einer Behandlung bedürfen, in der Regel von exorbitanten Arztrechnungen ruiniert. Die Idee, diese Menschen bei einer Coronainfektion kostenlos zu testen oder zu behandeln, widerspricht der öffentlichen Meinung in diesem Land so diametral, dass sie kaum durchsetzbar erscheint. Die mentale Abkehr von unserem eingefleischten Verständnis profitorientierter Gesundheitsversorgung wird sich nur unter großen Schmerzen vollziehen.

Am heilsamsten könnte sich die Coronapandemie auf unsere Wahrnehmung der Klassenfrage auswirken. Bis vor Kurzem war es in wohlanständigen Kreisen herrschende Meinung, dass jede Arbeit, die keinen Collegeabschluss erfordert, zweitklassig und überdies umweltschädlich sei. Und dass die Lebensweise dieser Leute, von denen viele Trump wählen, verdientermaßen zum Untergang verdammt sei.

Der demokratische Politiker und Milliardär Michael Bloomberg faszinierte vor drei Jahren ein studentisches Publikum in Oxford mit der kühnen These, dass im Informationszeitalter die Tätigkeit des „Denkens und Analysierens“ wichtiger sei als die simplen Verrichtungen der Farmer und Industriearbeiter.1

Heute stehen nur noch diese Farmer und Industriearbeiter zwischen uns und dem Abgrund. Viele von ihnen setzen an der Front gegen das Virus ihr Leben aufs Spiel. Andere schickt man zurück an die Arbeitsfront im Nie­drig­lohn­sektor, wo das Risiko, an Covid-19 zu sterben, deutlich größer ist. Sie infizieren sich in Supermärkten und Fleischfabriken, während die denkenden und analysierenden Angestellten sicher zu Hause sitzen, per Internet arbeiten, Videokonferenzen abhalten und sich, dem Kongress und der US-Notenbank sei Dank, an einem wundersamen Aktienboom delektieren.

Wer annimmt, wir könnten jetzt den Punkt erreicht haben, an dem die Leute die Nase gestrichen voll haben, könnte Recht behalten. Es lässt sich zwar, da die Medien in den USA die Welt der Arbeit völlig ignorieren, nicht mit letzter Sicherheit sagen, aber es gibt Anzeichen für eine neue Militanz der Arbeiter. Ein professioneller Gewerkschaftsfeind warnte bereits vor der Möglichkeit einer „partiellen Rebellion der Arbeiter“2 , und hier und da gibt es Berichte über wilde Streiks.3

Welche Rolle die ökonomische Unsicherheit bei den Protesten gegen die Brutalität der Polizei spielen, wissen wir zwar nicht genau, aber sie dürfte ein wichtiges Motiv sein. „Wenn die Leute weder Geld noch Hilfe in Aussicht haben, wenn sie nicht wissen, wie es weitergeht, führt das zu Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“, diagnostiziert die Princeton-Dozentin Keeanga-Yamahtta Taylor, die von einer höchst explosiven Mischung spricht.4

All dies sind Anzeichen für das jähe Ende des bequemen Weltbilds, das unsere politische Klasse seit den 1970er Jahren vertritt und dem Rest der Welt aufgezwungen hat. In den USA von heute ist alles offen. Alles kann passieren.

Damit sind wir bei dem düsteren, absurden, pathologischen Zustand unserer Parteienlandschaft. Die politische Kraft, die uns über die fatalen alten Denkweisen hinweghelfen sollte, ist die Demokratische Partei. Im Grunde ist sie die einzige Institution, die das heute leisten könnte. Doch ebendiese Demokraten haben es wenige Wochen vor dem Auftreten des Virus fertiggebracht, jede Chance auf einen wirklichen Wandel im Keim zu ersticken und dies auch noch lärmend zu feiern. Die Führung der Demokraten ist offenbar fest entschlossen, die Coronakrise ungenutzt verstreichen zu lassen.

Den größten Teil des letzten Jahres haben die Demokraten mit Rededuellen zwischen ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen verbracht. Anfangs sah es so aus, als seien viele Parteigrößen bereit, im Sinne der Basis mit den alten, überlebten Stereotypen zu brechen.

Als dann aber der Favorit des Parteiestablishments, Obamas Vizepräsident Joe Biden, die Vorwahl von South Carolina gewann, zogen die meisten noch verbliebenen Kandidaten plötzlich zurück und gaben Biden ihren Segen. Nur Bernie Sanders, Senator aus Vermont, der große Reformer unserer Zeit und äußerst beliebt bei jungen Wählern, hielt noch eine Weile durch; aber am Ende beugte auch er sich den erdrückenden Machtverhältnissen.

Aus den ganzen Wirren ging als Sieger ausgerechnet der Kandidat hervor, der am wenigsten versprach. Damit schickt sich die Partei an, uns in eine Präsidentschaftswahl zu schicken, die kaum mehr sein wird als ein Votum über den verhassten Donald Trump. Und das bei einem politisches Klima, in dem die US-Wählerschaft endlich für einen drastischen Wandel stimmen würde, wenn er denn im Angebot wäre! Doch die Partei des Wandels setzt alles daran, dass es dazu nicht kommt.

Stattdessen dürfen wir uns zwischen zwei konservativen weißen alten Männern entscheiden, die es beide mit der Wahrheit nicht so genau nehmen und sexueller Belästigung beschuldigt werden. Und von denen keiner für die Hoffnung auf entschiedene demokratische Reformen steht. Die alte Ordnung wurde wieder einmal wie durch Zauberhand gerettet.

Man kann es nicht oft genug sagen: Das aktuelle politische Klima in den USA würde, eine entschlossene Führung vorausgesetzt, erhebliche Fortschritte erlauben. Stattdessen wird uns Joe Biden vorgesetzt. Ein liebenswerter Parteiveteran, der allerdings zahlreiche fatale Entscheidungen der letzten dreißig Jahre mitgetragen hat. Der Senator aus Delaware stimmte für den Irakkrieg, für jobkillende Handelsabkommen, für knallharte Insolvenzgesetze, für ein Strafrecht, das unsere Gefängnisse füllt, und für den berüchtigten Patriot Act, der unsere Grundrechte untergräbt. Der Mann hat früher sogar stolz erzählt, dass er mit Befürwortern der Rassentrennung befreundet war.

Die Chancen stehen gut, dass Biden im November gewinnt. Trotz seiner früheren Ansichten ist er ein geschätzter und populärer Politiker alter Schule, der offensichtlich versteht, was politische Führung bedeutet angesichts des landesweiten Entsetzens über den Rassismus in Polizeiuniform. Donald Trump dagegen nährt die Ressentiments noch und wirkt mit seinem krankhaften Narzissmus immer verabscheuungswürdiger. Man kann sich kaum vorstellen, dass ein Präsident, der in einer dreifachen Krise – Pandemie, wirtschaftlicher Kollaps und Empörung über polizeiliche Brutalität – so krass versagt, für eine zweite Amtszeit gewählt wird.

Allerdings hat Biden gegenüber reichen Sponsoren versichert: Wenn ich Präsident bin, wird sich „nichts grundsätzlich ändern“.5 Ein toller Wahlkampfslogan mitten in der Krise! Kein Wunder, dass meine sämtlichen linken Freunde in Depression verfallen sind. Sie wissen, dass es, nachdem Bernie Sanders und Elizabeth Warren aus dem Rennen sind, selbst nach dieser Katas­trophe keine positiven Reformen geben wird.

Ich teile ihre Gefühle, aber es kommt noch schlimmer: Täglich müssen wir erfahren, dass die alte Ordnung in die Offensive geht und ständig neue Programme ersinnt, um die Großkonzerne zu retten oder Silicon Valley noch mächtiger zu machen.

In der Bevölkerung nagt eine tiefe Wut, genährt durch den Verdacht, dass das demokratische System neu verkabelt wird, während wir wegen Corona zu Hause sitzen. Die alte Ordnung hat uns im Stich gelassen und wird es auch weiterhin tun. Aber genau jetzt, da das Volk von der Bildfläche verschwunden ist, treffen andere all die weitreichenden Entscheidungen, die die Welt verändern. Während wir vor unseren Fernsehern sitzen und uns mit Alkohol und häuslichen Verrichtungen trösten, schreiben die Mächtigen den Gesellschaftsvertrag um.

1 Zu sehen auf youtube.com/watch?v=aATHavwhosY.

2 Siehe den Bericht auf The Intercept, 1. Mai 2020.

3 Siehe „Covid-19 strike wave interactive map“.

4 Zitiert nach New York Times, 29. Mai 2020.

5 Siehe die Bloomberg-Meldung vom 19. Juni 2019.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Thomas Frank ist Autor von „Americanic. Berichte aus einer sinkenden Gesellschaft“, München (Kunstmann) 2019.

Le Monde diplomatique vom 11.06.2020, von Thomas Frank