Srebrenica und kein Ende
Die Stadt sollte eine Zuflucht sein. Doch dann wurde sie zur Falle. Die Schergen von General Mladić ermordeten und vertrieben tausende Menschen. 25 Jahre danach leben immer noch viele Bosniaken auf serbischem Territorium in Flüchtlingszentren.
von Meta Krese
Die Frau schreit den Leuten, die sich nach und nach um sie geschart haben, ins Gesicht: „Ich bin Hazira. Hazira!“ Irgendwann sagt jemand: „Schau, was aus dir geworden ist.“ Hazira Ðafić war früher eine schöne Erscheinung. Heute ist sie, mit nicht einmal 50 Jahren, eine alte Frau. „Ich habe keinen Mann mehr, keinen Bruder, keinen Vater, keinen Onkel“, erklärt sie ihnen. Eine der Dorffrauen sagt mit harter Stimme: „Auch wir haben die unseren verloren, wir alle hier.“
Im Dezember 2019 ist Hazira nach Blječevo zurückgekehrt, zum ersten Mal seit 27 Jahren. Das Dorf liegt in den Bergen über Srebrenica. Als der UN-Sicherheitsrat Srebrenica im April 1993 mit der Resolution 819 zur „Schutzzone“ erklärte, fanden hier viele Bewohner aus den muslimischen Dörfern eine vermeintlich sichere Zuflucht – bis am 11. Juli 1995 die bosnisch-serbische Armee unter dem Kommando von General Mladić einrückte und innerhalb weniger Tage 8000 unbewaffnete bosniakische1 Jungen und Männer ermordete und tausende Ehefrauen, Töchter, Mütter und Großmütter aus ihren Häusern vertrieb(siehe dazu den Text unten).
Als wolle man die bosniakischen Kriegsopfer nachträglich verhöhnen, liegt Blečevo heute – wie die gesamte Enklave Srebrenica – in der Republika Srpska, also auf serbischem Territorium. Bevor 1992 der Krieg ausbrach, standen in Blječevo mehr als hundert Häuser – heute sind es nur noch elf. Während sie den steilen Hang hinaufsteigen, erzählt Haziras Jugendfreund Mevlo Jarašević, was aus dem Dorf geworden ist: „Dort drüben stand das Haus von Hamed Bešić, und das da war Muje Amidž’ Haus, und da wohnte Savra, und da hinten Imre …“
Hazira weint und stellt Fragen, ohne auf die Antworten zu achten. Sie hat sowieso alles verstanden. Sie hat den Krieg überlebt, hat Srebrenica überlebt, und die 25 Jahre in der Flüchtlingssiedlung Ježevac. Nach dem Abkommen von Dayton vom Dezember 1995 wurden mehr als 2 Millionen Menschen innerhalb von Bosnien-Herzegowina umgesiedelt.2 Also über die Hälfte der Gesamtbevölkerung, die nach der letzten jugoslawischen Volkszählung von 1991 in der Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina gelebt hatte.
Zu den Umgesiedelten gehörten auch die Witwen von Srebrenica. Die meisten landeten in einem der 23 Flüchtlingszentren, die in größerer Entfernung von Städten und Ortschaften errichtet wurden. Ein Großteil dieser provisorischen Notunterkünfte existiert bis heute, und viele Witwen leben mit ihren Kinder und mittlerweile auch schon Enkelkindern immer noch hier.
Auch Hazira wohnt in einer Flüchtlingssiedlung, zusammen mit ihrer Tochter, ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten, den sie in Ježevac kennengelernt hat. Ja, sie hat den Krieg überlebt, hat den Genozid von Srebrenica überlebt, und fand sich danach, wie viele Überlebende ihrer erweiterten Familie, in einem der Aufnahmezentren nahe Tuzla wieder. Sie alle wollten verständlicherweise in ihr Dorf zurückkehren. Nach Kriegsende machten sie sich gleich auf den Weg. Als sie sich der Ruine näherten, die ihr Zuhause gewesen war, rannte Haziras kleine Schwester aufgeregt auf das Haus zu. Ihr Vater versuchte sie aufzuhalten, dann explodierte die Landmine. Haziras Schwester verlor beide Beine. Niemand aus Haziras Großfamilie ist jemals nach Blečevo zurückgekehrt.
Irgendwie schafft es Hazira, mithilfe von Beruhigungsmitteln und Schlaftabletten wie die meisten Frauen hier die frühen Morgenstunden zu überstehen. Ihre Selbsttherapie besteht aus zwanghaftem Putzen, Gartenarbeit und dem Heranschaffen von Feuerholz. „Mir schwirrt so viel durch den Kopf, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen kann“, erzählt Hazira. „Um fünf Uhr stehe ich auf. Ich überlege dann, was ich kochen kann, und dann ziehe ich los, um Feuerholz zu sammeln.“
Im Winter brauchen sie 10 bis 15 Kubikmeter Brennholz. Wenn es das Wetter erlaubt, erklimmt Hazira mit ihren Freundinnen mehrmals am Tag die steilen Hänge zu den dunklen Wäldern rund um ihre einsam gelegene Siedlung. Die Frauen bewegen sich so schnell sie können durch das dichte Unterholz; auf schwarzen, flachen Gummischuhen, die vor den scharfkantigen Felsbrocken schützen sollen, deren harte Oberkanten aber trotzdem in die Fersen und Fußgelenke schneiden und blutige Wunden hinterlassen. Die Frauen klettern immer weiter auf der Suche nach kleineren absterbenden Bäumen. Dann schlagen sie gegen die Stämme, um herauszufinden, welche Bäume sie allein mit ihrem Körpergewicht umkippen können. Wenn sie einen Baum auf diese Weise gefällt haben, kommt das mitgebrachte Seil zum Einsatz – bei dieser gefährlichen Arbeit ihr einziges Hilfsmittel. Sie schlingen es um den Stamm und schlittern den Abhang hinab, zerren den widerspenstigen Baum hinter sich her, der ab und zu an freiliegenden Wurzeln hängen bleibt oder an abschüssigen Stellen an ihnen vorbeischießt.
Haziras Lebensgefährte Zaim Alić kann ihnen bei dieser Arbeit nicht helfen. Oder vielmehr er darf es nicht. Da macht die Forstaufsicht keine Ausnahme: Nur Frauen dürfen Holz sammeln, Männer nicht.
„Ich würde hier sofort weg, wenn ich könnte!“, sagt Hazira. „Aber ich habe ja nichts. Nichts in der Föderation, nichts dort drüben, in der Republika Srspska.“3 Jeder andere Ort liegt für Hazira Đafić jenseits ihrer Welt. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie zuletzt in Tuzla war. „Ich weiß nicht, wo Sarajevo liegt. Ich war noch nie in Sarajevo, aber ich wüsste gern, wie es dort aussieht. In die nächste Stadt komme ich nur, wenn ich zum Arzt muss. Da hole ich meine Pillen und gehe sofort nach Hause zurück. Und ab in die Wälder.“
Antić-Štauber ist Vorsitzende und Gründerin des Vereins „Snaga žene“ (Frauen-Power), der einzigen Organisation, die mit den Witwen von Ježevac noch Kontakt hält. Laut der Ärztin herrschten in den Flüchtlingszentren am Anfang unzumutbare Zustände. Seit 1994 besucht die Spezialistin für Infektionskrankheiten regelmäßig die Siedlung in Ježevac. In den von den Niederländern errichteten Häusern lebten damals mehr als tausend Menschen. Bis zu 24 Flüchtlinge waren in den winzigen 35-Quadratmeter-Wohnungen untergebracht.
„Man hat hier nie seine Ruhe. Wenn man nicht schlafen kann oder seine Mahlzeit nicht beenden kann, ohne unterbrochen zu werden, ist das wirklich schlimm“, erklärt die Ärztin. „Über diese alltäglichen Dinge hat sich niemand groß Gedanken gemacht. Alle wollen die Probleme nur auf der ‚politischen Ebene‘ lösen – oder ‚global‘, wie es heute heißt. Aber das Trauma der Flüchtlinge ist ein persönliches, und ihre Probleme sind vielfältig und komplex.“
Die Ärztin vermutet, dass es in der ganzen Siedlung nicht einen Flüchtling gibt, der es in all den Jahren geschafft hätte, sein oder ihr persönliches Trauma zu überwinden. Einigen mag es gelungen sein, das Trauma zu verarbeiten, aber bei vielen hat es sich zu einer Depression oder einer Angstneurose entwickelt. Oder sie leiden unter den Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Außerdem herrscht in allen Flüchtlingssiedlungen des Kantons Tuzla große Armut. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Hauptleidtragende sind die Frauen, die nur karge monatliche Renten von durchschnittlich 170 Euro beziehen, auf die sie Anspruch haben, weil sie ihre Söhne und Ehemänner verloren haben. Aber auch ihre Kinder, die furchtbare Gräuel überlebt haben und heute auf die 30 zugehen, sind mittlerweile überwiegend arbeitslos. Einige von ihnen haben geheiratet und Kinder bekommen. Und selbst diese Kindeskinder, die zwei Jahrzehnte nach dem Dayton-Abkommen geboren wurden, sagen zu den seltenen Besuchern, dass sie Flüchtlinge sind.
Adnan Mekić hat seine Kindheit und Schulzeit in der Flüchtlingssiedlung Mihatovići verbracht. Hier hat er auch seine Frau kennengelernt. Vor kurzem haben sie direkt neben der Siedlung ein eigenes kleines Haus gebaut, in dem das Paar mit seinen vier Kindern schon wohnt, obwohl es noch nicht ganz fertig ist. „Mein ganzes Leben hat sich in einem Flüchtlingszentrum abgespielt“, erzählt Adnan. „Vor langer Zeit wollte ich mit meinen Freunden nach Frankreich gehen; ich wollte nur noch weg. Aber meine Mutter hat so sehr geweint und geklagt, dass sie schon drei Söhne und einen Mann verloren hat. Also bin ich geblieben, habe hier geheiratet – und habe nie wieder versucht wegzugehen. Meine Freunde haben es geschafft und arbeiten jetzt in Frankreich.“
Mitte der 1990er Jahre war Mihatovići das größte Flüchtlingslager in der kroatisch-bosniakischen Föderation. Von den 2000 Menschen, die hier zeitweilig untergebracht waren, konnten viele die beengten Verhältnisse hinter sich lassen, erzählt Mekić. Sie sind in die USA emigriert, nach Österreich, Deutschland, Schweden und Australien. Heute leben hier noch 310 offiziell registrierte Flüchtlinge. Die leerstehenden Häuser wurden nicht abgerissen; die Behörden von Tuzla haben sie an sozial benachteiligte Gruppen vergeben, an Roma-Familien und an entlassene Strafgefangene.
Die jungen Leute in den Flüchtlingslagern sind gut ausgebildet, betont die Leiterin der Lager-Grundschule Aiša Halilović. Die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler machen ihren Sekundarschulabschluss, einige schaffen es auch zum Abitur, was ihnen aber wegen der hohen Arbeitslosenquote auch nicht viel bringt.
Šaha Beganović hat einen Enkel, der einen Abschluss in Gesundheitswissenschaften hat. Heute entlädt er Lkws in einem Einkaufszentrum. Der junge Mann würde ohne weiteres einen Job im Ausland finden, aber er kann seine Großmutter nicht allein lassen, die drei Söhne und ihren Mann verloren hat. Und die für ihn gesorgt hat, bis sie an Demenz erkrankt ist.
Die Nachbarin Hadila Musić erzählt, dass es vor ein, zwei Jahren sogar noch schwerer war. Da gab es in dem Lager überhaupt keine regulären Jobs und den Frauen blieb nichts anderes übrig, als kranke und pflegebedürftige alte Leute in der Stadt zu betreuen oder als Putzhilfen zu arbeiten. „In Tuzla gab es nicht eine einzige Wohnung, die ich nicht geputzt hätte“, erzählt Hadila, „oft bin ich um sieben Uhr morgens aus dem Haus gegangen und um Mitternacht zurückgekehrt. Das ist immer noch die häufigste Beschäftigung für uns Frauen. Für 11 Euro pro Tag.“
Halida Dudić, die in der Flüchtlingssiedlung Oskova lebt, wollte es anders machen. Sie hat mit ihrem Mann direkt neben dem Lager einen Gemüsegarten angelegt; außerdem halten sie Hühner und ein paar Ziegen. Die Kleinstbetrieb verschafft Halida nicht nur ein bescheidenes Einkommen, die Arbeit lenkt auch vom ständigen Grübeln über die Vergangenheit ab. „Meine ganze Familie ist tot: meine Schwiegersöhne, meine Schwager, die Onkel mütterlicher- und väterlicherseits, mein Bruder, meine Schwester …“
Halidas Schwester Ajka gelang es damals mit ihren beiden Kindern aus der tödlichen Enklave Srebrenica zu entkommen. Ein Verwandter sah sie in einem Bus auf dem Weg in ein befreites Gebiet. Es war das letzte Mal, dass sie lebend gesehen wurde. Als der Bus am Ufer der Drina hielt, sprang sie in den reißenden Fluss und ertrank mitsamt ihren beiden Kindern. Das jüngste hatte sie vor die Brust geschnallt, das ältere auf den Rücken. „Wir müssen über sie sprechen, damit sie nicht vergessen werden“, sagt Halida Dudić trotzig. Aber sie kann nur über sie sprechen, wenn sie Besuch hat, was selten genug vorkommt.
Salčin Isaković trägt den Vornamen seines Großvaters, dessen Spuren sich in Srebrenica verloren haben. Seit seiner Geburt lebt Salčin in der Flüchtlingssiedlung Karaula. Über Srebrenica weiß er nicht viel, und was er weiß, hat er vor allem im Internet gefunden. Für seinen Vater, der einen Hungermarsch überlebt hat und es geschafft hat, unbewaffnet und unter ständigem Beschuss aus versteckten serbischen Stellungen im Juli 1995 das befreite Gebiet zu erreichen, ist das Geschehene bis heute tabu. Und in der Schule wird Srebrenica nur beiläufig behandelt. Salčin ist 19 Jahre alt. Aus seiner Kindheit hat er Karaula als gut organisiertes Flüchtlingsdorf in Erinnerung. „Heute kommt es mir so vor, als lebten wir unter einer schwarzen Wolke“, sagt Salčin. Der Kinderspielplatz ist von Müll übersät. Und die Schulkinder verbringen ihre Zeit mit Altmetallsammeln oder mit dem Zertrümmern von Felsbrocken, um ein Baulager am Rand des Dorfs mit Sand zu versorgen. Sie alle brauchen das Geld, um Schulbücher zu kaufen.
Die Flüchtlingssiedlungen im Kanton Tuzla haben sich mit der Zeit immer mehr geleert. Einige der ursprünglichen Bewohner konnten dank internationaler Finanzhilfe ihre alten Häuser wieder instandsetzen; anderen hat man Wohnungen in Neubausiedlungen zugeteilt, die von der Stadt Tuzla oder anderen Kommunen errichtet wurden. Doch das Trauma, das vom Krieg und vom Leben in den Flüchtlingszentren herrührt, wird nicht so leicht verschwinden. Und auch die Unterbringungen in den neuen Wohnblöcken wird ihre Integration in die neue Umgebung nicht unbedingt erleichtern. 2019 wurde das Flüchtlingslager Špijunica bei Srebrenik abgerissen: Auf dem Gelände entstehen jetzt zwei große Wohnblöcke, in denen die Flüchtlinge gemeinsam, aber isoliert von der einheimischen Bevölkerung untergebracht werden sollen. Ihre nächsten Nachbarn sind Roma-Familien, die in halb verfallenen Baracken wohnen.
Viele Flüchtlinge leben jedoch noch immer in den alten Lagern, von denen die meisten ein Bild des Jammers bieten. Die Regierung der Föderation wie auch die Kantone und die Gemeinden versprechen ihnen seit Jahren, das Wohnungsproblem zu lösen. Sie leben in ständiger Erwartung eines Umzugs. Auch Hazira Đafić ging davon aus, dass Ježevac bis 2018 geschlossen wird. Die Frauen, die nicht in ihre alten Dörfer zurückkönnen, sollen mit ihren Familien neue Sozialwohnungen in Tuzla und Umgebung bekommen. Aber Hazira glaubt solche Geschichten nicht mehr. Und so macht sie manisch weiter mit Fegen und Waschen und Aufräumen, um sich wenigstens eine Illusion vom normalen Leben zu bewahren.
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke
Meta Krese ist Journalistin und Dozentin für Fotojournalismus in Ljubljana. Dieser Beitrag wurde vom Pulitzer Center on Crisis Reporting unterstützt.
© Meta Krese/Jošt Franko; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin