Stadt am Ende der Sackgasse
Arbeitsplatz La Vegas von Allan Popelard und Paul Vannier
Die meisten Casinos, Hotels, Kinos und Theater der Stadt liegen am „Strip“, dem sieben Kilometer langen, von Norden nach Süden verlaufenden Teil des Las Vegas Boulevard. Den Strip von einem Ende zum anderen abzulaufen, ist eine Reise um die Welt in 80 Minuten. Gegenüber der Pyramide des Luxor-Hotels thront die riesige Mittelalterburg des Hotels Excalibur. Auf dem Vorplatz des Venetian laufen Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ in Endlosschleife, und in einem Bassin zwischen Nachbauten des Dogenpalastes und des Campanile bieten ein paar Gondolieri ihre Dienste an. Liebespaare küssen und fotografieren einander, auf der Rialtobrücke halten ein paar Spaziergänger inne und geraten ins Schwärmen. Wenige Schritte entfernt steht das Hotel Paris–Las Vegas zwischen einem Modell des Eiffelturms und einem geschrumpften Triumphbogen direkt an der stillen Seine. Plötzlich wird das Gewässer aufgewühlt, es gibt ein paar Wellen und jede Menge Fontänen. Anderswo speit ein Vulkan Feuer. Eine brennende Rauchsäule steigt gen Himmel, Lava fließt herab. Das Getöse wird begleitet vom anschwellenden Raunen, Kreischen und Jubeln der flanierenden Menge.
Wie die Magistralen der einstigen Kolonialausstellungen, auf denen die imperialen Hauptstädte ihre Pavillons im Stil verschiedener Völker errichteten, so zelebriert der Strip heute eine „imperiale Republik“ auf engem Raum. Er ist Tag und Nacht rappelvoll, verstopft von Touristenströmen und Autoschlangen und aufgebaut wie ein langer Korridor, in dem Fußgängerbrücken und Arkaden den Durchlauf kanalisieren. Zwischen Spielhallen und Attraktionen verliert sich der Flaneur in blinkendem Neon und Leuchtreklamen, in endlosen Tunneln voller Waren. Diffusoren verbreiten synthetische Gerüche, und die in Mauern eingelassenen oder in Baumstämmen verborgenen Lautsprecher spucken pausenlos schwachsinniges Gequassel und patriotische Gesänge aus – „God bless the USA“.
Die Flucht in eine Bar, um sich einmal eine Pause zu gönnen, ist sinnlos: Der Tresen ist garantiert von Spielautomaten umstellt. Keine Minute und kein noch so kleiner Raum bleibt dem stillen Wandern eigener Gedanken überlassen. Das totale Spektakel packt und verwirrt die Sinne. Im Gedränge werden die Leiber aneinandergepresst und verschmelzen zu einer anonymen Masse.
All die Attraktionen vertreiben jedoch nicht das Gefühl von Einsamkeit. Das Casino ist ein Ort der Abgrenzung und Verschanzung. An den Tischen sitzen Pokerspieler und verstecken sich unter ihren Kapuzen, hinter Sonnenbrillen, in der zirpenden Stille ihrer Kopfhörer. Ein paar Schritte weiter regiert Hightech und Schein: Die Kartenspieler versenken ihre stumpfen Blicke im Dekolleté eines weiblichen Hologramms, das ihnen virtuelle Karten austeilt. Roulette, Glücksrad, „Gesellschafts“-Spiele: Das Casino wirkt wie die Allegorie einer Welt, in der jegliche Gemeinschaft und Solidarität verschwunden sind und nur noch antagonistische Einsamkeiten existieren; eine Welt, in der jeder zum Gefangenen seiner konfusen Begierden wird, weder Partner noch Gegner hat und den Zufällen und Wahrscheinlichkeiten ausgeliefert ist.
„Im Bundesstaat Nevada sind 6 Prozent der Bevölkerung von der Spielsucht betroffen“, bestätigt Carol O’Hare, Leiterin des Nevada Council on Problem Gambling, einer privaten, aber staatsnahen Einrichtung. Vor einem kleinen Laden mit u-förmig angeordneten Tischen und einem Kühlschrank versammeln sich rund 20 Spielsüchtige, Männer und Frauen jedes Alters. Sie treffen sich hier wie an 15 anderen Orten in der Stadt, und ihr Ritual ist immer dasselbe: Zunächst wird mit religiöser Inbrunst der Katechismus des Selbsthilfevereins verlesen. Danach werden die Regeln wiederholt: Jeder Teilnehmer hat die gleiche Redezeit. Schließlich kommt der Moment der Lebensbeichten. Es sind Berichte über wirtschaftlichen Ruin, familiären Zwist und Trennungen; Erzählungen von Zerrissenheit, Einsamkeit, Verzweiflung – und von dem Trost, den man darin finden kann, sich einer Versammlung verständnisvoller Menschen zu offenbaren. Nach dem Treffen lehnen die Mitglieder der Anonymen Spieler draußen an einem Geländer. Für den Moment bilden sie hier so etwas wie einen festen Kreis. Dahinter heben sich im Nachthimmel die grellen Lichter des Strip ab. Eine letzte Zigarette, dann verabschiedet man sich bis zum nächsten Abend.
Die verbreitete Spielsucht ist nicht die einzige statistische Anomalie, mit der Las Vegas zu kämpfen hat – eine andere ist die hohe Selbstmordrate, eine der höchsten in den Vereinigten Staaten. Beide Indikatoren passen so gar nicht zu dem Partybild, das die Stadt vermittelt. Sie deuten eher auf grassierende Einsamkeit und Verlassenheit hin. Die räumliche Anordnung der Stadt begünstigt das nicht nur, sie ist dabei möglicherweise ein bestimmender Faktor.
Von überallher strömen Menschen auf der Suche nach Arbeit zum Prunk der Plastiksavannen und Gipspaläste. Doch sieht man einmal von den Kulissen ab, ist da nichts von der Opulenz und dem Glamour, den man aus dem Kino kennt. Keine halbnackten Schönheiten, keine gepflegten Smokings, keine Helden wie bei Steven Soderbergh („Ocean’s Eleven“), die den ganz großen Coup landen, oder pomadisierte Unterweltfiguren wie bei Martin Scorcese („Casino“). Man sieht nur Basecaps, schlabbrige T-Shirts in den Farben der Nation, Shorts und fleischige Waden. Und es riecht nach abgestandenem Zigarettenrauch.
Las Vegas hat eher Ähnlichkeit mit einer Fabrik: endlose Reihen von Spielautomaten, rationalisierte Abläufe wie am Fließband. Die Geräuschgirlanden und das Werbegedöns erinnern an das Krachen und Quietschen von hydraulischen Pressen, die zuckenden Lichter an Schweißgeräte. Alle Spieler sind auf ihren Posten. Jeder rackert sich ab für den Lohn seines Glücks. Erstarrte Gesichter, mechanische Handbewegungen, eingeübte Reflexe. Die Hände sind fest mit den Tasten verbunden, die Augen auf die Zähler gerichtet. Körper und Maschine bilden eine Einheit. Der Vorarbeiter, hier in der Gestalt des Wachmanns, sorgt für Ordnung in der Werkhalle. Unterstützt von hunderten Überwachungskameras achtet er darauf, dass der Arbeitstakt eingehalten wird, dass die Automaten funktionieren, dass alles wie geschmiert läuft.
Die Gründe für die Häufung von Selbstmorden in Las Vegas sind sicher vielfältig. Linda Flatt, Betreuerin beim Nevada Office of Suicide Prevention, spricht von „erschwertem Zugang zu Behandlungen, vor allem bei psychischen Erkrankungen“, besonders in Zeiten knapper Budgets, und vom „leichten Zugang zu Schusswaffen“, wie sie für die Vereinigten Staaten insgesamt charakteristisch sind. Sie entwirft eine Geografie des Selbstmords: Die Staaten mit überdurchschnittlichen Suizidraten von Alaska bis New Mexico bilden einen Bogen über die Rocky Mountains.
Innerhalb dieses „Suicide Belt“ stellt Las Vegas eine eigene Kategorie dar. „Seit mehreren Jahren schon ist Las Vegas eine von fünf amerikanischen Städten, in denen sich am meisten Menschen das Leben nehmen“, sagt Michael Murphy, Gerichtsmediziner von Clark County, zu dem der Ballungsraum Las Vegas gehört. Mit der eingerahmten Urkunde des FBI an der Wand und den Fotos seiner Kinder auf dem Bildschirm wirkt sein Büro wie die Kulisse einer Fernsehserie. Und der fünfzigjährige Murphy, ein heiterer, zu Scherzen aufgelegter Mann, spielt seine Rolle hervorragend. Alle eines unnatürlichen Todes Gestorbenen im County bekommt er unter sein Messer: „Die Leute glauben, dass es vor allem Touristen und Spieler sind, die sich umbringen, aber das stimmt nicht: Die meisten sind Einwohner unserer Stadt.“
Im öffentlichen Erscheinungsbild von Las Vegas gibt es keinen Hinweis auf diese traurige Realität. Die Lichter der Stadt ziehen Jahr für Jahr nicht nur Touristen und Glücksspieler, sondern auch Zuwanderer in großer Zahl an. Seit 20 Jahren ist die Zuwanderungsrate in Nevada eine der höchsten in den USA, und davon profitiert in erster Linie Las Vegas. Zwischen 2001 und 2010 ist die Einwohnerzahl von 1,5 auf 2 Millionen angestiegen.1 Der örtliche Arbeitsmarkt begünstigt diese Entwicklung, denn er bietet vor allem Stellen für Geringqualifizierte in dynamischen Branchen wie Gastronomie und Baugewerbe. Las Vegas ist nicht zuletzt auch ein Eldorado für Arbeitslose.
„Wenn die Leute hierherziehen, verbinden sie damit mehr als anderswo die Hoffnung auf einen Neuanfang“, erklärt Murphy. „Aber es dauert nicht lange, bis sie feststellen, dass das Leben hier genauso hart ist wie zuvor.“ Viele Aufstiegsträume wurden in der Immobilienkrise zerstört, die das wirtschaftliche Fundament der Stadt angegriffen hat. Stephen Brown, Wirtschaftsprofessor an der University of Nevada, weist darauf hin, dass „Las Vegas mit einer Arbeitslosigkeit von 13,5 Prozent den Rekord unter allen amerikanischen Städten dieser Größenordnung hält“.
Der Washingtoner Thinktank Brookings Institution hat ermittelt, dass Las Vegas während der vergangenen drei Jahre unter den 100 größten Ballungsräumen der USA auch beim Anstieg der Arbeitslosigkeit an der Spitze lag.2 Diese Abwärtsentwicklung macht sich bei dem Gerichtsmediziner auf ihre Weise bemerkbar: „Seit zwei Jahren haben wir hier so viele Partnermorde mit anschließendem Suizid wie nie zuvor.“ Murphy hat zwei Grundmuster entdeckt: „Die einen haben alles verloren und wissen keinen Ausweg mehr. Die sind meistens über 50 Jahre alt. Die anderen sind erschöpft und fühlen sich nicht mehr in der Lage, die Verantwortung für einen Partner zu übernehmen, vor allem wenn er auch noch schwer krank ist. Ich kann das nicht beweisen, aber ich bin überzeugt, dass bei den meisten Selbstmorden die Wirtschaftskrise eine entscheidende Rolle spielt.“
Seit Ende 2006 sind die Immobilienpreise in Las Vegas um 60,5 Prozent gefallen.3 Von den geisterhaft leeren Vorstädten, durch die noch eine schwache Ahnung von Mittelschicht weht, für die sie einst gebaut wurden, bis zu den Elendsvierteln rund um das Zentrum von Las Vegas ist es ein weiter Weg. Aber die Krise hat überall die gleichen Spuren hinterlassen: Bretterverschläge vor den Türen zwangsgeräumter Häuser, „For Sale“-Schilder statt Pflanzen in den Vorgärten. Desi Coleman, 55 Jahre alt, wohnt auf einer dieser Inseln des Elends im Norden von Las Vegas, wo die Stadt anscheinend langsam zu einer Hüttensiedlung verkommt. Rund um eine Einrichtung der Heilsarmee, zwischen der Autobahn und dem Woodlawn-Friedhof, haben ungefähr hundert Obdachlose auf einer Brache oberhalb des Vegas Drive ihre Zelte aufgestellt. Nebenan fällen Hausbewohner die Bäume in ihrem Garten, um Brennholz daraus zu machen, und vor einer anderen Haustür findet gerade „Jumble Sale“ statt, mit ärmlichem Ramsch. „Viele Leute haben hier ihr Haus verloren, wie überall“, sagt Frau Coleman. „Auch einen meiner Cousins hat es erwischt. Er hat hier ganz in der Nähe gewohnt. Alle hat’s getroffen, nur die Reichen nicht.“
Durch die Zwangsräumungen4 und die Vertreibung vieler Ansässiger hat der ohnehin dünne soziale Zusammenhalt im Viertel und in der ganzen Stadt noch mehr gelitten. Schon vorher war die Fluktuation außerordentlich hoch.5 Die Bewohner von Las Vegas stammen zu 91 Prozent aus einem anderen Bundesstaat, rund 45 Prozent würden wieder wegziehen, wenn sie könnten.6 Im Osten der Stadt zeugen ganze Wohnwagenviertel (Trailer Parks) von der völligen Wurzellosigkeit eines Teils der US-amerikanischen Gesellschaft.
Robert Schoffield ist der Geschäftsführer des Royal Mobile Home Park. In Las Vegas leben nach seinen Schätzungen 35 000 Menschen dauerhaft im Wohnwagen. Die 237 Bewohnern seiner Anlage seien zum größten Teil „Rentner oder Berufstätige mit unterdurchschnittlichem Einkommen“. Während viele Rentner sich für diese Lebensform entschieden haben, sind die Arbeiter oft gezwungen, weiterzuziehen, von Krise zu Krise. „Eigentlich stammt niemand von hier“, sagt Michael Murphy. „Die hohe Suizidrate hat sicher auch mit der Isolation der Leute zu tun. Es fehlt die Hilfe von Freunden und Verwandten in schweren Zeiten. Auch die nachbarschaftlichen Beziehungen sind schwach. Die allermeisten haben einfach niemanden, auf den sie zählen können, wenn es ihnen dreckig geht.“
Stadtplanung und Raumordnung setzen der urbanen Einsamkeit nichts entgegen. Sie verschärfen im Gegenteil deren Auswirkungen. Matt Wray, Soziologieprofessor an der Temple University in Philadelphia, ist Autor mehrerer Untersuchungen zum Suizid in Las Vegas. „Auf das starke demografische Wachstum wurde in der Stadtplanung nicht reagiert“, sagt Wray. „Es entstanden beispielsweise keine neuen Gemeindezentren oder Schulen. Das aber wären die Orte, die es den Leuten ermöglichen würden, miteinander in Kontakt zu kommen und ihre Lebensbedingungen in ihrem Viertel gemeinsam zu verbessern. Wenn solche Einrichtungen fehlen, gibt es für die städtische Gemeinschaft keine Basis.“
Und warum gibt es keine Schulen und sozialen Einrichtungen? „Das liegt an den sehr niedrigen Steuern in der Stadt. Die Gemeinde kann sie nicht finanzieren.“ Tatsächlich sind im Staat Nevada und in Las Vegas die Steuern so niedrig wie sonst kaum in den Vereinigten Staaten. Es gibt keine Einkommensteuer, keine Erbschaftsteuer, keine Unternehmenssteuern. In Verbindung mit der sehr großen Toleranz in Fragen der Moral – Glücksspiel, Prostitution, Alkohol, Blitzhochzeiten und -scheidungen – verkörpert Las Vegas gewissermaßen die ultraliberale Musterstadt. Seit die Bonität der Stadt 2008 von den Ratingagenturen heruntergestuft wurde7 , setzt sie auch noch auf eine „Schockstrategie“ radikaler Einschnitte: 43,6 Prozent weniger für die Verwaltung, 27,5 Prozent weniger für die Justiz, 23,6 Prozent weniger für die Kultur, 9,8 Prozent weniger für die öffentliche Sicherheit. Schulen, Kulturzentren und Sporteinrichtungen wurden geschlossen.8 Auch für öffentliche Bauvorhaben ist nur noch halb so viel Geld vorhanden wie zuvor. Die Stadtverwaltung sucht ihr Heil in der Zusammenarbeit mit privaten Investoren, etwa beim Umbau der Innenstadt, wodurch erstmals ein Zentrum geschaffen werden soll, das es bisher praktisch nicht gab. Auf dem Strip finden sich zwar Touristen aus der ganzen Welt ein, doch für die Einwohner ist die Vergnügungsmeile keine Begegnungsstätte, die es hier im Übrigen nirgendwo gibt, weder in der Mitte noch an den Rändern der Stadt.
Die Aussicht auf der Fahrt durch die Vorstädte verschmilzt zu einem Bild aus sich in einem regelmäßigen Rhythmus wiederholenden Formen. Die Einfamilienhäuser in Längs- und Querreihen und die parallelen und rechtwinkeligen Kreuzungen des Straßenrasters erzeugen eine Landschaft, die die Einsamkeit der Bewohner verwaltet, indem sie Ströme unterbindet und die Räume voneinander trennt. Zu beiden Seiten der Hauptstraßen verhindern Schranken die Zufahrt zu den Grundstücken und erzwingen Umwege.
Graben, Turm, Burgmauer, sogar das Fallgitter: Amerika hat die Formen und Funktionen der mittelalterlichen Architektur wiederbelebt. Die Festungsanlagen der Gated Commuities dominieren mit ihren aggressiven Wachtürmen den städtischen Raum. Ohne Einladung kann man diese geschlossenen Wohnanlagen nicht betreten. Bei der Ankunft prüft ein Wärter an der Schranke das Nummernschild und ruft den Gastgeber an, um sich die Erlaubnis für die Durchfahrt geben zu lassen. Segregation heißt hier zugleich Trennung nach Unterschieden und Zusammenlegung von Ähnlichem. Jede dieser Inseln und jede ihrer Zellen praktiziert die Abspaltung: Hier die Rentner, dort die jungen Berufstätigen, schon gibt es auch Nischen für die abgestiegene Mittelschicht, an die sich Werbeplakate in der Stadt richten: „Ihr Haus wurde geräumt? Sie haben den Blues? Sehen Sie sich unsere Wohnanlage an!“
Im fahlen Licht eines Walmart scharen sich die Angestellten um eine Handvoll Kunden. Es ist vier Uhr morgens. Die Casinos sind Tag und Nacht geöffnet und zwingen ihren Arbeitstakt allen anderen Aktivitäten in der Stadt auf. Die Öffnungszeiten der Geschäfte richten sich nach dem Tagesrhythmus der Croupiers und Zimmermädchen. In den Küchen und Gasträumen der Restaurants herrscht deshalb eine Stimmung ewigen Feierabends. Einige wenige Gäste wechseln einander ab und essen meist allein an ihren Tischen. „Las Vegas hat rund um die Uhr geöffnet. Ich finde das toll“, ruft ein 60-jähriger Einheimischer. „Wenn ich um zwei Uhr morgens einkaufen will, dann tue ich es einfach. Wenn ich um drei Uhr morgens essen will, dann fahre ich ins Restaurant.“
Streik im Casino
Die mangelnde Urbanität von Las Vegas hat auch mit der lückenlosen Ausnutzung der Zeit zu tun. In einer Stadt, die die vollkommen freie Zeiteinteilung zum Lebensstil erklärt hat, werden den Bürgern die gemeinsamen Orte und Momente genommen. Die Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown haben dieses Phänomen bereits Anfang der 1970er Jahre anschaulich beschrieben: „Fast alles ist hier ein Hinweiszeichen. Ein großes Hinweisschild taucht auf, um den Autofahrer mit dem Einkaufszentrum zu verbinden, etwas weiter werben die großen amerikanischen Hersteller auf riesigen, der Autobahn zugekehrten Tafeln für ihr Kuchenmehl oder Waschmittel. Das grafische Zeichen im Raum ist zur Architektur dieser Landschaft geworden.“9 Die Raumplanung in Las Vegas inszeniert den Triumph des Konsumenten und verbannt den Arbeiter, sei es bei Walmart oder in den Casinos, auf die Hintertreppe des wirtschaftlichen Geschehens.
Der Dienstleistungssektor generiert in den USA heute die meisten Arbeitsplätze. Er hat den Konsumenten in den Rang eines Akteurs des gesellschaftlichen Wandels erhoben. Einst waren die Vereinigten Staaten das Zentrum der weltweiten Industrieproduktion, heute werden sie zum Wirtschaftsraum bloßen Konsums. Auch wenn es so aussieht, als habe der konsumistische Konsens die Klassengegensätze aufgehoben, gibt es immer noch Arbeiter. In Las Vegas haben sich die Giganten der Glücksspielindustrie seit den 1990er Jahren mit immer größeren Casinos gegenseitig übertroffen. Dafür wurden mehrere hunderttausend Arbeitskräfte an einen Ort gebunden. Während sich die Wohnsiedlungen über das Umland verstreuen, begünstigt die Geografie der Lohnarbeit entlang des Strip neue Formen gewerkschaftlicher Organisation.
Zwischen 1950 und 1980 „gehörte Las Vegas zu den Städten, in denen die Gewerkschaften als eine Karikatur ihrer selbst wahrgenommen wurden, als korrupte, mafiose Organisationen“, schreiben die Soziologen Rick Fantasia und Kim Voss.10 Die Arbeitgeberseite hatte keine Hemmungen, dieses negative Image einzusetzen, um gewerkschaftliches Engagement zu verhindern. In diesen drei Jahrzehnten litten die Arbeitnehmer unter dem amerikanischen Tarifsystem, das ihr Einkommen und ihre Rechte von lokalen Abkommen abhängig machte. Korruption unter den Gewerkschaftern und die harten Maßnahmen der Arbeitgeber bei Arbeitskämpfen zerstörten die Solidarität.
Es dauerte einige Zeit, bis sich im amerikanischen „Sun Belt“, den südlichen Staaten und Regionen der USA, eine schlagkräftige Bewegung der Angestellten bildete, die sich mit der organisierten Arbeiterschaft in den ehemaligen Industriestädten des Mittleren Westens messen konnte. Doch schließlich gelang es, nicht zuletzt angesichts einer Situation, in der Privatkredite wichtiger wurden als das reale Einkommen und die „Freiheit“ des Konsumenten absolute Priorität vor angemessenen Löhnen und Arbeitsbedingungen des Personals erhielt. In den Räumen der 226. Sektion der „Culinary Workers“ (Gastronomieangestellten) erzählt die Vorsitzende Geoconda Arguello-Kline: „Anfang der 1980er Jahre ging es uns gar nicht gut. Die Angestellten in den Casinos hatten große Probleme mit ihren Vorgesetzten. Da wurde ihnen klar, dass sie sich gemeinsam gegen die Zustände wehren mussten.“
Mitte der 1980er Jahre kam dann der Neuanfang: „1984 sind wir in einen Streik getreten, an dem sich 18 000 Arbeiter beteiligt haben. In den Jahren danach haben wir versucht, in jedem Casino einen Betriebsrat zu gründen. 1991 kam es dann zum Streik im Frontier. Er dauerte sechs Jahre, vier Monate und zehn Tage.“ Der Ausstand begann während der Verhandlungen über den Tarifvertrag und wurde zu einer der längsten und bedeutendsten amerikanischen Arbeitsniederlegungen seit 1945.
20 000 Streikende zogen über den Strip; ein 500 Kilometer langer Marsch durch die Mojave-Wüste brachte die Anliegen der Streikenden wirkungsvoll in die Medien.11 Erst 1998 endete der Konflikt schließlich mit dem Sieg der Arbeitnehmerseite. Dieser Streik „hat den Arbeitgebern gezeigt, dass die Arbeiter zur Organisation fähig sind, dass sie wissen, wofür sie kämpfen, dass sie im Kampf für ihre Familien und für würdige Lebensbedingungen zusammenstehen“.
In Las Vegas setzt man alle Hoffnung auf die Gewerkschaften. Nur sie können der Ausbeutung Grenzen setzen. „Im Station-Casino“, erzählt Arguello-Kline, „steht man nach 30 Jahren Arbeit ohne Rente da. Es gibt keinen Kündigungsschutz, und jeder muss selbst 100 Dollar im Monat für seine Sozialversicherung bezahlen. Der Unterschied zwischen den Arbeitsbedingungen dort und denen unserer Mitglieder ist groß.“
Inzwischen sind 90 Prozent der Casinoangestellten gewerkschaftlich organisiert. Die Culinary Workers haben heute 55 000 Mitglieder, 5 000 weniger als 2008. „Die Krise hat die Wirtschaft in Nevada schwer getroffen“, erklärt Arguello-Kline, „aber unsere Mitglieder sind weiterhin verhältnismäßig gut abgesichert. Sie behalten ihre Rentenansprüche, die kostenlose Krankenversicherung für sich und ihre Familien und den Kündigungsschutz, daran hat die Krise nichts ändern können.“
Wie Detroit zu Zeiten der Großindustrie erscheint Las Vegas heute, in der Ära der Dienstleistungswirtschaft, als Hochburg der Gewerkschaften. Jenseits der privatwirtschaftlichen Durchgestaltung des städtischen Raums, jenseits der Künstlichkeit aus all dem Ramsch und Kitsch erweist sich die Stadt vielleicht gerade darin als modern. Hier ist eine Modernität des Widerstandsgeistes und des gemeinsamen Handelns entstanden, die offenbar alle Versuche überlebt hat, die Solidarität unter den Lohnabhängigen zu zerstören und die Vereinzelung zum Prinzip aller räumlichen und sozialen Ordnung zu erheben. Ausgerechnet mitten in der Wüste, zwischen roten Tälern und lila Bergen, könnten diese Arbeiter im Gegenwind der Geschichte vielleicht einer neuen Lebensweise den Weg bereiten.