Unterwegs zum Bandenstaat
In El Salvador akzeptiert die Regierung das organisierte Verbrechen als Verhandlungspartner von Cecibel Romero und Toni Keppeler
Man hat den Eindruck, man habe das alles schon einmal erlebt. Mitte Juli reiste José Miguel Insulza, der chilenische Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), in das kleine zentralamerikanische Land El Salvador. Nach seiner Ankunft ging er am Morgen zuerst ins Gefängnis und besuchte die Gesetzlosen. Er versicherte ihnen, die OAS werde den Friedensprozess aus der Nähe „beobachten und begleiten“. Die Gesetzlosen unterbreiteten ihm ein Angebot: Man sei – als Geste des guten Willens – zu einer zunächst teilweisen Entwaffnung bereit, wenn diese von der OAS überwacht und verifiziert werde. Dazu überreichten sie ein Liste mit Forderungen an die Regierung. Die überbrachte Insulza am Nachmittag dem Präsidenten.
Tags darauf nahm der OAS-Sekretär an einem feierlichen Akt im Zentrum der Hauptstadt San Salvador teil, direkt vor der Kathedrale. Die beiden Chefunterhändler der Regierung waren da, und eine Handvoll maskierter Gesetzloser übergab ein paar Dutzend alte und kaum mehr brauchbare Waffen: Sturmgewehre, Flinten, Pistolen. Die sollen eingeschmolzen werden, um ein Denkmal daraus zu errichten.
Es ist schon fast Tradition, dass Friedensprozesse in Lateinamerika von derart symbolträchtigen Inszenierungen begleitet werden. El Salvadors Präsident Mauricio Funes weiß das. Er wurde vor dreieinhalb Jahren als Kandidat der Partei der ehemaligen Guerilla der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Martí (FMLN) gewählt, und die hat vor genau zwanzig Jahren ebenfalls vor der Kathedrale und ebenso symbolträchtig den Friedensvertrag mit der rechten Regierung gefeiert – nach zwölf Jahren Bürgerkrieg, 80 000 Toten und fast drei Jahren Verhandlungen. Auch damals wurden Waffen übergeben, nicht an die OAS, sondern an die Vereinten Nationen. Auch damals wurde Teile des unbrauchbar gemachten Kriegsgeräts in Denkmäler umgewandelt. Bis kurz vor dem Friedensschluss waren die FMLN-Kämpfer von der Regierung und den lokalen Medien noch als „Verbrecher“ und „Terroristen“ bezeichnet worden.
Die Verhandlungspartner der heutigen FMLN-Regierung sind tatsächlich Verbrecher: die Banden der sogenannten Maras, denen in El Salvador – einem Kleinstaat, gerade so groß wie das deutsche Bundesland Hessen – nach Regierungsangaben gut 60 000 Jugendliche und junge Männer angehören. Sie verteilen sich auf die etwas größere Mara Salvatrucha 13 (MS-13) und die etwas kleinere Barrio 18 (B-18). Beide lieferten einander lange blutige Schlachten um die Kontrolle von Stadtvierteln. Ihre Mitglieder arbeiten als Auftragskiller und Entführer, sie kontrollieren den örtlichen Drogenhandel und erpressen flächendeckend Schutzgeld im ganzen Land. Kaum eine Schule, kaum ein Friseur- oder Tante-Emma-Laden, der nicht das bezahlt, was die Maras „renta“ nennen – „Steuern“. Die Regierung macht sie für 90 Prozent aller Morde verantwortlich. Durchschnittlich waren das zuletzt 15 am Tag, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 6 Millionen. Im Bürgerkrieg hatte es täglich 17 Tote gegeben.
Hafterleichterungen für weniger Morde
Seit Mitte März ist die Zahl der Toten drastisch gesunken, auf nur noch fünf am Tag. MS-13 und B-18 gaben einen vorläufigen Waffenstillstand bekannt. Der ehemalige Guerillakommandant Raúl Mijango und der Militärbischof Fabio Colindres dienten als Vermittler. Die Regierung verlegte als Gegenleistung die dreißig ranghöchsten Bandenchefs vom einzigen Hochsicherheitsgefängnis des Landes in Strafanstalten, die von ihrer jeweiligen Bande kontrolliert werden. Diese Gefängnisse in den Provinzstädten Ciudad Barrios und Cojutepeque sind für die Maras fast so etwas, was früher befreite Zonen für die Guerilla waren. Gut 1 000 ihrer Mitglieder in der einen und rund 2 500 in der anderen Haftanstalt werden von sechzig oder siebzig Schließern mehr bedient als bewacht. Die Gefangenen haben Mobiltelefone, über die sie Morde, Erpressung und Überfälle dirigieren, sie empfangen Besuche und laden zu Pressekonferenzen.
Das Gerücht, dass es außer Hafterleichterungen für die Mara-Chefs auch erhebliche Zahlungen an deren Familien gegeben habe, wird von Sicherheits- und Justizminister General David Munguía Payés heftig dementiert. Überhaupt habe die Regierung mit dem Waffenstillstand der Maras nichts zu tun, „wir verhandeln nicht mit Verbrechern“. Gerade so, als würde der Militärbischof nicht vom Verteidigungsministerium bezahlt (dessen Chef Munguía Payés noch bis zum November vergangenen Jahres war). Und als wäre jetzt, da er Justiz- und Sicherheitsminister ist, der andere Vermittler Mijango nicht einer seiner engsten Berater und zudem informeller Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienstes.
Mit dem positiven Ergebnis des Waffenstillstands aber – die Zahl der Todesopfer sank um über 60 Prozent – schmückt sich der Minister gern. Ein Eiertanz, um im Fall des Erfolgs der Verhandlungen als Sieger und im Fall des Scheiterns nicht als völliger Verlierer dazustehen. Vorerst jedenfalls sieht es nicht schlecht aus: Die Maras haben zuletzt angekündigt, sie würden Schulen als Friedenszonen achten und auf die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen verzichten. Schutzgelderpressungen und Drogenhandel aber gehen weiter wie eh und je.
In dem Forderungskatalog, den Insulza der Regierung überbrachte, verlangen die Maras, dass Polizeioperationen gegen ihre Mitglieder eingestellt werden. Auch die Armee, die zur Verbrechensbekämpfung auf die Straße geschickt worden war, soll zurück in die Kasernen. Zudem soll das Anti-Mara-Gesetz, das allein die Mitgliedschaft in einer dieser Banden mit langjährigen Haftstrafen bedroht, außer Kraft gesetzt werden. OAS-Generalsekretär Insulza meinte, solche Forderungen seien durchaus „rational“ und müssten sofort auf den Verhandlungstisch.
Ein erstes Verhandlungsangebot hatten die Maras bereits im September 2010 über den katholischen Priester Antonio Rodríguez lanciert. „Wir wollten einen offenen Dialog mit der Regierung, an dessen Ende ein Abkommen stehen sollte“, erinnert sich der Pfarrer. „Man hat mich damals für verrückt erklärt.“ In der von Rodríguez betreuten Gemeinde in Mejicanos, einem Vorort der Hauptstadt San Salvador, war die Gewalt kurz zuvor völlig außer Kontrolle geraten. Eine Gruppe der MS-13 hatte am Abend des 20. Juni 2010 einen Stadtbus überfallen. Die jungen Männer hatten das Fahrzeug geentert, mit Sturmgewehren wild auf die Passagiere geschossen, dann Benzin in den Innenraum geschüttet und es angezündet. Vierzehn Menschen wurden getötet. Vermutlich hatte sich der Busunternehmer geweigert, Schutzgeld zu bezahlen.
Eng, arm und übervölkert
Als Reaktion auf den Überfall peitschte die Regierung ein noch schärferes Anti-Mara-Gesetz durchs Parlament. Seither muss Angeklagten die Beteiligung an einer konkreten Straftat nicht mehr nachgewiesen werden. Die alleinige wie auch immer zu beweisende Mitgliedschaft in einer Mara reicht für eine Verurteilung aus. Die Banden verhängten als Antwort einen dreitägigen Transportstreik. Das Flugblatt, das den Ausstand anordnete, war von beiden großen Verbänden unterzeichnet. Zum ersten Mal arbeiteten MS-13 und B-18 Hand in Hand gegen den Staat. Die Busunternehmer waren nach dem Attentat in Mejicanos gewarnt und kuschten. Allein der Handel verlor an diesen drei Tagen 40 Millionen US-Dollar. Mit solchen sogenannten bewaffneten Transportstreiks hatte zuletzt die Guerilla im Bürgerkrieg den Staat herausgefordert.
Benjamin Cuéllar, Leiter des Menschenrechtsinstituts der Zentralamerikanischen Universität von San Salvador, sieht eine verbindende Linie zwischen dem revolutionären Aufstand der linken Guerilla in den 1980er Jahren und dem wilden Morden der Maras. Das Land, sagt er, sei „ein Kessel unter ständigem Druck: klein und übervölkert, mit chronischer struktureller Armut, geprägt von Gewalt und Straflosigkeit und von staatlichen Institutionen, die nur einer kleinen privilegierten Minderheit dienen“. Da sei es kein Wunder, dass El Salvador eines der Länder der Welt sei, wo es am blutrünstigsten zugehe. Seit 1950 werden in Lateinamerika Statistiken über Morde geführt, seither gehört das Land stets zu den drei Spitzenreitern. „Alle anderen haben im Lauf der Jahre gewechselt“, sagt Cuéllar, „wir waren immer dabei.“
Als Überdruckventil des heimischen Hexenkessels diente die Auswanderung, zunächst in das sehr viel dünner besiedelte Honduras, später dann in die USA. Und immer wenn dieses Überdruckventil verstopft war, kam es zu Gewaltausbrüchen: 1932 bei einem Aufstand der Indigenen, koordiniert von der kleinen Kommunistischen Partei unter der Führung von Farabundo Martí. Die Revolte wurde innerhalb weniger Tage von der Armee in einem Blutbad mit 50 000 Toten ertränkt. „Auf die Rebellion der Indigenen folgte die Rebellion der Campesinos im Bürgerkrieg“, sagt Cuéllar: Die Basis der Guerilla waren Landarbeiter. Den Gewaltexzess der Maras versteht er nun als „Rebellion einer marginalisierten Jugend, die im Laufe der Jahre vom organisierten Verbrechen übernommen wurde“.
Die älteste der salvadorianischen Maras ist Barrio 18. Ihre Anfänge liegen in den frühen 1960er Jahren – nicht in Zentralamerika, sondern an der Westküste der USA in Los Angeles. Dort hatten sich Chicanos1 schon in den 1950er Jahren zu Banden zusammengeschlossen, um in den Armenvierteln den Gangs der Schwarzen etwas entgegensetzen zu können. Barrio 18 ist ursprünglich eine Abspaltung einer solchen Chicano-Gang. Die Mehrheit ihrer Mitglieder waren Salvadorianer. Ihren Namen hat sie von der 18. Straße, deren Gebiet sie für sich in Anspruch nahm. Zu B-18 kam Ende der 1970er Jahre eine von den Kindern salvadorianischer Migranten gegründete Bande, die sich zunächst Mara Salvatrucha Stoned nannte – ein Tribut an die Herkunft aus Salvador und einen von Drogen geprägten Lebensstil. Deren Mitglieder wollten sich weder in die Chicano-Banden integrieren noch sich an deren Stil anpassen. Das Outfit der Chicano-Banden war von den ersten Rappern beeinflusst: rasierte Schädel, viel zu weite Hosen und T-Shirts, Basketballstiefel, Tattoos. Auch B-18 pflegte diesen Stil. Die Mitglieder der Mara Salvatrucha Stoned gaben sich dagegen eher wie Heavy-Metal-Rocker: mit engen schwarzen Hosen, Lederjacken und langen Haaren.
Im Vorfeld der Olympischen Spiele von 1984 erlebten die zunächst eher randständigen Salvatruchas ihren Aufstieg. Um den erwarteten Besuchern einen angenehmen Aufenthalt zu sichern, vertrieb die Polizei die Jugendbanden aus Los Angeles; die Salvatruchas aber blieben. Wegen ihres anderen Outfits fielen sie durchs Fahndungsraster. In dieser Zeit wechselte die Bande ihren Namen. Das „Stoned“ entfiel und wurde durch die 13 ersetzt. Die Zahl ist eine Referenz an die Mafia Mexicana, eine Bande, die seit den 1950er Jahren in den Jugendgefängnissen Kaliforniens das Sagen hatte. Und da so gut wie jedes Mitglied einer anderen Bande irgendwann einmal in Haft kam, war es naheliegend, sich gut mit dieser Mafia zu stellen. Der Codename der Mafia Mexicana war die 13 – M ist der 13. Buchstabe im spanischen Alphabet und passt als Unglückszahl zudem zur morbiden Symbolik der Banden. Viele Gangs von Chicanos und anderen Latinos in Los Angeles trugen damals als Zeichen der Unterordnung die 13 als „Nachnamen“.
B-18 und MS-13 waren zunächst natürliche Verbündete. Die Mitglieder beider Banden stammten mehrheitlich aus El Salvador. Warum sie schon in Los Angeles zu Todfeinden wurden, darüber gibt es viele Legenden, aber keine gesicherte Information. Die Geschichte vom Streit zweier Bandenchefs um eine Frau passt zum Stereotyp des gewalttätigen und rachsüchtigen lateinamerikanischen Machos. Eine andere Theorie vermutet den Tod eines B-18-Mitglieds bei einem der MS-13 zur Last gelegten Drive-by-Shooting2 als Auslöser der Fehde. Eine ähnliche Variante gibt es auch andersherum: Ein Verrat durch ein B-18-Mitglied habe den Tod eines MS-13-Chefs zur Folge gehabt. Jedenfalls bekriegten sich die beiden salvadorianischen Gangs bereits in Los Angeles.
Auch in El Salvador gab es zu jener Zeit Jugendbanden, die sich Maras nannten. Der Begriff jedoch hatte noch nicht die brutale Konnotation von heute. Mara war schlicht das umgangssprachliche Wort für informelle Freundeskreise. Er wurde für die Kumpels, mit denen man kickte, genauso verwendet wie für die Jugendgruppe einer Kirchengemeinde. Auch rebellische Jugendliche, die in Gruppen durch die Armenviertel streiften und den Anwohnern mehr oder auch weniger harmlose Streiche spielten, nannten sich Maras.
Solche Banden gab es zuhauf. Die Städte hatten sich während des Bürgerkriegs mit Flüchtlingen vom Land gefüllt. Meist waren es nur noch Teilfamilien, bestehend aus der Mutter und ein paar Kindern. Die soziale Kontrolle der bäuerlichen Großfamilie fehlte in den Flüchtlingslagern und Slums. Die Jugendlichen fanden ihre neue Heimat auf der Straße, ihre neue Familie in der Mara. Kam die Guerilla von den Bergen zu einer Offensive in die Stadt, dienten ihr solche Jugendlichen wegen ihrer Ortskenntnis oft als Führer.
Diese Jungs waren dann die eigentlichen Verlierer des Kriegs. Sie hatten allenfalls zwei oder drei chaotische Schuljahre hinter sich und konnten kaum lesen und schreiben. Jobs gab es für sie auf dem ohnehin viel zu engen Arbeitsmarkt El Salvadors nicht. Es blieb ihnen kaum etwas anderes übrig, als sich mit Kleinkriminalität durchs Leben zu schlagen. Ihre Banden nannten sich Mao Mao oder Los Chancletas,3 sie dröhnten sich mit billigem Schnaps oder Schusterleim zu und hatten als Waffen Messer oder allenfalls eine selbst gebastelte Schrotflinte.
Wesentlich für diese Generation war der Zusammenhalt. Die Mara war die Ersatzfamilie, und das Stadtviertel, auf dessen Verteidigung heilige Schwüre geleistet wurden, war das Zuhause. Wer eintreten wollte, musste ein Prügelritual über sich ergehen lassen und wurde tätowiert. Sogar ein paar wenige Frauen wurden damals von einzelnen Cliquen aufgenommen. Die Verbindung sollte ein Leben lang halten – wie eine Familie eben. Wer austreten wollte, wurde mit dem Tod bedroht. Trotzdem waren die salvadorianischen Banden im Vergleich zur MS-13 und zu B-18 in Los Angeles relativ harmlos. Deren Mitglieder hatten Erfahrung im Drogenhandel, konsumierten Crack und Kokain, waren geübt im Umgang mit Schusswaffen und kannten Gefängnisse von innen.
Die harte Hand und die superharte Hand
Nach dem Ende des Bürgerkriegs in El Salvador wurden in den USA verurteilte Bandenmitglieder nach dem Absitzen ihrer Strafen nicht mehr einfach entlassen, sondern schnurstracks in ihre Heimat verfrachtet. Seit 1993 landete auf dem internationalen Flughafen von El Salvador mindestens einmal in der Woche ein Flugzeug voll mit deportierten ehemaligen Sträflingen. Niemand wartete auf sie, niemand kümmerte sich um sie – mit der Ausnahme der heimischen Maras. Von denen wurden die schweren Jungs aus dem Norden bewundert; wegen ihrer Outfits, wegen ihrer manchmal sogar im Gesicht getragenen Tattoos, wegen ihres „Spanglish“ genannten Sprachmixes aus Spanisch und Englisch – und wegen ihrer Brutalität. So etwas kannte man in El Salvador vorher nur aus Actionfilmen im Kino. Die Deportierten wurden schnell die neuen Chefs der Maras und führten innerhalb weniger Jahre die autochtonen Banden in den Großverbänden von MS-13 und B-18 zusammen. Ende der 1990er Jahre entstanden nach ähnlichem Muster Ableger in Guatemala und Honduras.
Damals gab es vielleicht noch eine Chance, die mehr und mehr ins professionelle Verbrechen abdriftenden Jugendlichen mit einer gezielten Sozialpolitik wieder einzufangen. In Nicaragua ist das gelungen. Als in den dortigen Armenvierteln Maras auftauchten, begegnete ihnen die Polizei gemeinsam mit Sozialverbänden, Kirchengemeinden und Nachbarschaftsgruppen mit einfachen, aber wirksamen Maßnahmen: Man baute in Gemeinschaftsarbeit Sportplätze und einfache Jugendtreffs und gab den Maras Aufgaben. Die fühlten sich integriert und respektiert und wurden nie zu einer nennenswerten Gefahr. In El Salvador aber reagierte die bis 2009 regierende ultrarechte Arena-Partei ausschließlich mit Repression.
2003 legte der damalige Präsident Francisco Flores das sogenannte Gesetz der harten Hand auf, das sein Nachfolger Antonio Saca ein Jahr später mit dem „Gesetz der superharten Hand“ überbot. Wie zu Zeiten des Bürgerkriegs stürmten maskierte Polizisten und Soldaten im Schutz der Nacht die Armenviertel, traten Türen ein, stellten Hütten auf den Kopf und verhafteten junge Männer zu Hunderten. Die Gefängnisse füllten sich, die Gewalt aber nahm weiter zu: 2002 hatte es in El Salvador 2 300 Morde gegeben, 9 000 Menschen saßen in den für 8 000 Häftlinge ausgelegten Gefängnissen. 2011 waren es 4 370 Morde, in den Strafanstalten drängten sich 25 500 Häftlinge.4
In den Gefängnissen rückten die vorher nur lose miteinander verbundenen Cliquen der Mara-Verbände enger zusammen. Es bildeten sich klarere Befehlsketten und Führungsstrukturen heraus, man lernte voneinander und wurde professioneller. Und die Gefangenen brauchten Geld: für Anwälte und zur Bestechung von Richtern und Staatsanwälten, für die Familien draußen und für Verpflegung und Mobiltelefone drinnen. Um die Folgekosten der massenhaften Verhaftung ihrer Mitglieder zu decken, bauten die Maras ein flächendeckendes Netz zur Schutzgelderpressung auf.
Ihre Methoden beim Eintreiben wurden immer rabiater, die Kämpfe zwischen MS-13 und B-18 um die lukrativsten Territorien immer blutiger. Und seit die mexikanischen Kartelle wegen des vom dortigen Präsidenten Felipe Calderón gegen sie begonnenen Krieges5 mehr und mehr die schwachen und korrupten zentralamerikanischen Staaten als Rückzugsgebiet nutzen, wurde die Zusammenarbeit zwischen den Maras und dem internationalen organisierten Verbrechen immer enger. Die Banden übernahmen logistische Aufgaben und verdingten sich als Auftragskiller. Sie wurden in Drogen bezahlt und dominieren den örtlichen Straßenhandel.
Zuletzt eigneten sich die Maras auch das Geschäftsgebaren der Drogenkartelle an: Bei der Durchsuchung von Besuchern in den Mara-Gefängnissen fielen der Polizei Dutzende von Kassibern in die Hände, in denen die inhaftierten Chefs ihrem Fußvolk draußen anordnen, das erpresste Geld nicht zu verprassen, sondern in legale Geschäfte anzulegen: in Restaurants, Bars oder Transportunternehmen. Aus den Jugendbanden mit kleinkrimineller Abenteuerromantik sind in zwei Jahrzehnten mafiose Strukturen geworden, deren Grenzen nur noch schwer auszumachen sind. Sicherheitsminister Munguía Payés geht davon aus, dass hinter jedem der gut 60 000 salvadorianischen Mara-Mitglieder jeweils mindestens fünf Familienmitglieder stehen, die zuarbeiten und ebenfalls von den Einnahmen leben. Menschenrechtler Cuéllar spricht von „sozialen Netzwerken“ und einem „parallelen sozialen System“.
Die Verhandlungen zwischen Maras und Regierung zeigen, dass diese Parallelgesellschaft begriffen hat, dass ihre kriminelle Stärke sie auch politisch stark macht. In den von Gewalt geplagten zentralamerikanischen Ländern ist die Zahl der begangenen Morde ein entscheidender Maßstab für Erfolg oder Misserfolg einer Regierung. Und Minister Munguía Payés, dem Ambitionen auf die nächste Präsidentschaft nachgesagt werden, hat im November vergangenen Jahres bei seinem Amtsantritt einen Rückgang der Morde um 30 Prozent innerhalb eines Jahres versprochen. Zunächst hatte es nicht danach ausgesehen – in seinen ersten Monaten im Justiz- und Sicherheitsministerium stieg die Zahl der Toten weiter. Erst seit Verhandlungen geführt werden, ging sie um über 60 Prozent zurück.
Das ist zwar ein schöner, aber kein nachhaltiger Erfolg. Bislang konnte sich Munguía Payés hinter seinen beiden Verhandlungsführern verstecken und so tun, als seien die Verhandlungen deren Initiative gewesen. Die Regierung habe nichts anderes getan, als mit Hafterleichterungen für die Mara-Chefs günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Doch auch das wirft die Frage auf, ob es in einem Rechtsstaat möglich sein darf, den inhaftierten Chefs einer kriminellen Vereinigung Zugeständnisse zu machen, weil diese im Gegenzug versprechen, ihre Organisationen würden in Zukunft weniger Morde begehen.
Plan B ist der Ausnahmezustand
Unterhändler Mijango rechtfertigt das Entgegenkommen mit einer gewagten Hochrechnung: Hätte es keine Verhandlungen gegeben, wäre das Morden wie gewohnt weitergegangen, und es hätte in den ersten drei Monaten der vorläufigen Waffenruhe rund tausend Tote mehr gegeben. Die Regierung habe also durch Zugeständnisse an die Mara-Chefs tausend Menschenleben gerettet. In der Konsequenz bedeutet das: Je brutaler eine Verbrecherorganisation ist, desto leichter kann sie eine Regierung erpressen. Jetzt betrachtet Mijango seine Mission als beendet, denn nun müsse über die wirklich wichtigen Themen gesprochen werden. „Die Banden müssen sich zu mehr verpflichten als bloß dazu, dass sie die Kriminalität reduzieren, die direkt mit Morden zu tun hat“, sagt er. „Man muss auch über Schutzgelderpressung reden, über den Straßenhandel mit Drogen, über Waffen und über geheime Massengräber.“
Das geht an die wirtschaftliche Substanz der Maras. Da reicht es nicht mehr aus, als Regierung ein paar Hafterleichterungen in den Ring zu werfen und sich ansonsten unschuldig im Hintergrund zu halten. Die Zeit der verhandelnden Strohmänner ist vorbei, jetzt muss die Regierung aus der Deckung. „Ich stelle mir einen runden Tisch vor, an dem als Vertreter der Regierung der Nationale Sicherheitsrat sitzt“, sagt Mijango. „Die Vereinten Nationen könnten als Garant dienen, Leute von der OAS, Vertreter der Europäischen Union. Wir haben auch schon mit dem Internationalen Roten Kreuz gesprochen.“
Kommt es dazu, wäre El Salvador wieder so weit wie vor gut zwanzig Jahren, als die UNO den Friedensprozess der Bürgerkriegsparteien moderierte. Er endete mit einer Generalamnestie für alle Kriegsverbrecher, mit der Entwaffnung der Guerilleros, mit Wiedereingliederungshilfen für die Demobilisierten und mit der Legalisierung der FMLN als politische Partei. Siebzehn Jahre später kamen die ehemaligen Rebellen durch Wahlen an die Macht.
Die FMLN hatte 8 000 Männer und Frauen unter Waffen und war eine politisch-militärische Organisation, die gegen die ultrarechte Oligarchie und ihren blutrünstigen Unterdrückungsapparat kämpfte. Die Maras, laut Munguía Payés über 60 000 Mann stark, haben nur ihre eigenen Interessen im Kopf und gehen dabei über die Leichen aller anderen. Ist da ein Friedensvertrag mit Amnestie und Wiedereingliederungshilfen denkbar? Für Benjamín Cuéllar vom Menschenrechtsinstitut der Zentralamerikanischen Universität wäre das die logische Folge des von der Regierung eingeschlagenen Wegs. Mit der Konsequenz, dass „in ein paar Jahren ehemalige Mara-Chefs möglicherweise mit in der Regierung sitzen“. Mit anderen Worten: „El Salvador ist unterwegs zum Mara-Staat.“
Die einzige Alternative ist ein Scheitern der Verhandlungen und in der Folge eine Rückkehr zum vorherigen Niveau der Gewalt. Justiz- und Sicherheitsminister Munguía Payés hält das für möglich und ist darauf vorbereitet: „Mein Plan B ist der Ausnahmezustand“, sagt er. „Wir werden Sondergesetze brauchen, weil unser Justizsystem dieser Gewalt nicht gewachsen ist.“ Nur 5 Prozent aller Morde kommen überhaupt vor Gericht, bei nur 2 Prozent ergeht ein Urteil. Korruption und die Einschüchterung von Zeugen spielen dabei ebenso eine Rolle wie die Unfähigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft, hieb- und stichfeste Beweise zu liefern.
Munguía Payés will deshalb im Fall eines Scheiterns der Verhandlungen Schnellverfahren mit anonymen Zeugen. „Die Angeklagten sollen nicht wissen, wer sie beschuldigt.“ Und der Rechtsstaat? Der kümmert den Justizminister nicht. Es werde Krieg geben, und „die Gesetze, die wir haben, taugen nicht für einen Krieg“, sagt er kühl. „Wir haben den Bürgerkrieg auch nicht nach Gesetzen geführt.“ Er weiß, wovon er redet. Er war damals Kommandant eines der wegen massiver Menschenrechtsverletzungen gefürchteten Elitebataillons und hat noch heute deren makabren Humor: „Wir müssen es ja nicht gleich so machen wie die Honduraner, die ihre Maras im Knast verbrennen.“6 Wenn so einer mit dem organisierten Verbrechen verhandelt, bleibt der Rechtsstaat auf der Strecke – egal ob am Ende ein Abkommen steht oder ob die Gespräche scheitern.