09.07.2020

Unter Verdacht

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Unter Verdacht

Frankreichs Polizei bekommt immer mehr Macht

von Laurent Bonelli

Çiğdem Aky, 29, 2017, Acryl auf Baumwolle, 50 x 40 cm
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Die Bilder vom Todeskampf des George Floyd haben eine weltweite und anhaltende Protestwelle gegen Polizeigewalt ausgelöst. Floyd wurde am 25. Mai in Minneapolis im Bundesstaat Minnesota von einem Polizisten erstickt, während andere Polizisten ungerührt zusahen. Hunderttausende gingen in den USA auf die Straße, um mit Nachdruck, manchmal auch mit Gewalt, die diskriminierende Behandlung von Schwarzen und People of Color (PoC) durch die Ordnungskräfte anzuprangern.

Wenige Tage später folgten in Paris und anderen französischen Städten Zehntausende dem Aufruf des Komitees „Wahrheit und Gerechtigkeit für Adama Traoré“, benannt nach einem jungen Mann, der im Juli 2016 nach seiner gewaltsamen Verhaftung durch die Polizei gestorben war. Neben einfachen Bürgern demonstrierten hochrangige Politiker; auch Film-, Fußball- und Musikstars unterstützten die Bewegung. Frankreichs Innenminister Chris­tophe Castaner sah sich veranlasst, die Praxis des Polizeiwürgegriffs infrage zu stellen, und ließ sich das Versprechen abnötigen, es werde künftig „null Toleranz“ für Rassismus in der Polizei geben, was wiederum Proteste der Polizisten zur Folge hatte, die sich ungerecht behandelt fühlten.

Das Ausmaß der Empörung und ihr Echo in Politik und Medien unterscheidet sich deutlich von früheren Protesten gegen Polizeigewalt. Youssef Khaïf, Lamine Dieng, Wissam El-Yamni, Ibrahima Bah, Zyed Benna, Bouna Traoré, Allan Lambin, Amine Bentounsi und viele andere – die Liste der jungen Männer, an deren Tod die Ordnungskräfte direkt oder indirekt beteiligt waren, ist lang. Die Website bastamag.net zählt 676 von der Polizei getötete Personen für die Zeit von Januar 1977 bis Dezember 2019, das sind im Durchschnitt 16 pro Jahr. Die Hälfte von ihnen war unter 26, fast die Hälfte der Fälle betrafen den Großraum Paris und die Ballungsgebiete ­Lyon und Marseille.1

Die Reaktionen auf solche Dramen sind immer die gleichen: Ein paar Nächte lang brennt das Viertel, aus dem das Opfer stammte, die Angehörigen organisieren lokale Demonstrationen, dann beginnen langjährige juristische Kämpfe der Familien, unterstützt von einigen hartnäckigen Aktivisten, die nur selten zur Verurteilung der Beschuldigten führen. Bis vor Kurzem blieb jedes Bemühen, diesen Protesten ein breiteres Fundament zu geben, fruchtlos.

Der Einsatz für diese Sache ist unpopulär, weil die Opfer der Polizeigewalt meistens schon vorher einmal Ärger mit der Polizei gehabt hatten. Die daraus folgende Abwertung durch die Behörden, aber auch die genüssliche Präsentation eventueller Vorstrafen durch die Presse wecken Zweifel am Ablauf der Ereignisse und stärken die Darstellung der Polizei. Sie erschweren auch das Engagement linker Parteien oder Gewerkschaften, die historisch zwar sehr sensibel für die Unterdrückung der Arbeiterklasse sind, sich aber mit denjenigen schwertun, die sich nicht in die Lohnordnung fügen: ebenjenen, die man früher „Lumpenproletariat“ nannte. Hinzu kommt die seit Jahrzehnten wachsende Distanz zwischen diesen Organisationen und

den Jugendlichen aus den Vorstädten, die weder in Parteien noch Gewerkschaften eintreten und deren konkrete Lebensbedingungen so gut wie niemand auf dem Schirm hat. Das Bemühen um eine politische Autonomie der Randbezirke – die auch ein anderes Sprechen über ihre Bewohner ermöglichen würde – war nur in seltenen Fällen erfolgreich.

Wie aber lassen sich also die breiten Proteste im Juni 2020 erklären? Man könnte darauf verweisen, dass der Boden für Empörung in Frankreich längst bereitet war, als die Nachrichten vom Tod George Floyds und der Black-Lives-Matter-Proteste aus den USA herüber­schwap­pten – zusätzlich angestachelt durch die allgemeine Ablehnung Donald Trumps und seiner Politik.

Ein weiterer Grund dürfte der unermüdliche Kampf von Aktivisten gegen Polizeigewalt sein, zum Beispiel im Mouvement de l’Immigration et des Banlieues (MIB). Zu ihnen gehört Assa Traoré, die Schwester des getöteten Adama, die mittlerweile fast eine Ikone ist. Das alles hätte jedoch nicht ausgereicht, wenn sich der Argwohn gegen die Ordnungskräfte nicht weit über die üblichen Kreise hinaus ausgebreitet hätte.

Das Ausmaß dieses Misstrauens lässt sich schwer einschätzen. Umfragen zeigen nur Facetten. So meldete die nicht gerade als polizeikritisch bekannte Wochenzeitung L’Express am 20. Januar 2020, dass lediglich 43 Prozent der von ihr Befragten der Polizei „vertrauten“, während 20 Prozent „Unbehagen“ und 10 Prozent „Feindseligkeit“ ihr gegenüber empfänden.

Wissenschaftliche Arbeiten bestätigen diese Tendenz. So ergab eine große europäische Umfrage, die 2011/12 mit 51 000 Teilnehmern durchgeführt wurde, dass die französische Polizei, was das Ansehen betrifft, besonders schlecht abschneidet. Bei der Frage nach dem Respekt, mit dem sie Personen behandelt, kommt sie auf den 19. von 26 Plätzen (vor Tschechien, Griechenland, der Slowakei, Bulgarien, der Ukraine, Russland und Israel).2 Der Slogan „Tout le monde déteste la po­lice“ (Die ganze Welt hasst die Polizei) gehört inzwischen zum Standard­repertoire jeder Demonstration.

Die Anwendung von Gewalt seitens der Polizei, ob nun gerechtfertigt oder nicht, ist dabei sichtbarer geworden. Dank der Smartphonekameras lässt sie sich umfassend dokumentieren und dank der sozialen Netzwerke global verbreiten. Deshalb haben kürzlich 30 französische Abgeordnete eine Forderung der Polizeigewerkschaften übernommen, „die Verbreitung von Bildern, die Beamte der nationalen Polizei, des Militärs, der Kommunalpolizei oder des Zolls zeigen“, mit einer Strafe von 15 000 Euro und einem Jahr Gefängnis zu belegen (Nationalversammlung, 26. Mai 2020). In Spanien wurde eine solche Zensurmaßnahme bereits 2011 als Reaktion auf die Proteste des Movimiento 15M beschlossen.

Die Anwendung von Gewalt seitens der Ordnungskräfte ist auch deshalb offensichtlicher als früher, weil sie sich von den Vororten in die Innenstädte verlagert hat. Inzwischen betrifft sie auch Bevölkerungsgruppen, die bisher keine negativen Erfahrungen mit der Polizei gemacht hatten. Durch die Gelbwesten-Bewegung, die Demonstrationen gegen das Arbeitsmarktgesetz und die Rentenreform, aber auch anlässlich der Kontrollen während der Ausgangssperre infolge der Covid-19-Epidemie erhöhte sich die Zahl von Opfern und Augenzeugen von Polizeieinsätzen.3 Es ist zweifellos diese Ausweitung der unmittelbaren Erfahrung von Polizeigewalt auf die ganze Gesellschaft, die den aktuellen Widerstand am besten erklärt.

Noch immer hält sich der hartnäckige Mythos, die Polizei kümmere sich ausschließlich um die Verbrechensbekämpfung. Diese Aufgabe nimmt aber, abgesehen von wenigen Spezialeinheiten, nur 20 Prozent ihrer Tätigkeit ein.4 Meistens sind die Polizisten mit Aufgaben betraut, die den Bereich des Strafrechts nicht einmal tangieren. Da geht es etwa um Nachbarschafts- oder familiäre Konflikte, Streit bei der Nutzung des öffentlichen Raums, Regelung des Straßenverkehrs, Verwaltungsauskünfte, Sicherung öffentlicher Versammlungen, Grenzkontrollen, staatliche Überwachung oder Amtshilfe für andere Ins­ti­tutionen (vom Katastropheneinsatz bis zur Wohnungsräumung).

Der US-amerikanische Soziologe Egon Bittner ist überzeugt, „dass es kein menschliches Problem gibt, ­real oder eingebildet, von dem sich mit Gewissheit sagen ließe, es könne nicht zur Angelegenheit für die Polizei werden“.5 Sie ist also weniger eine Behörde zur Durchsetzung des Gesetzes, wie es der englische Begriff law enforcement ­agency suggeriert, als eine Institution zur Aufrechterhaltung einer festgelegten gesellschaftlichen Ordnung.

Seit den 1980er Jahren wurde die Polizei für viele Regierungen zunehmend zur Patentlösung, um die Folgen der wachsenden sozialen und ökonomischen Ungleichheit zu bekämpfen, die innerhalb der westlichen Gesellschaften, aber auch zwischen den Ländern des globalen Nordens und denen des Südens zu beobachten ist. Zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher Schärfe gerieten die Themen gefühlte Unsicherheit und angebliche Bedrohung durch Zuwanderung überall in den politischen Fokus.

Parteien verschiedener Couleur stellten sie ins Zentrum ihrer Wahlkämpfe. Die Sozial-, Präventions- und Entwicklungspolitik wurde zwar nicht völlig aufgegeben, musste aber zunehmend hinter Sicherheitsaspekte, Kon­trol­len und Zwang zurücktreten. Heute werden nicht mehr die strukturellen Ursachen der Ungleichheit – die von einigen als wünschenswert, von anderen als unveränderlich angesehen wird – bekämpft; es werden vielmehr jene Gruppen diszipliniert, die sich der neuen neoliberalen Gesellschaftsordnung, national wie weltweit, widersetzen.

Zur Legitimierung dieser Dynamik dient vor allem die sogenannte Broken-Windows-Theorie. Sie stammt von den US-amerikanischen Sozialforschern James Q. Wilson und George L. ­Kelling und besagt, dass die Toleranz gegenüber an sich harmlosen Verstößen in Städten zur Entwicklung gefährlicherer Kriminalität führe.6 Obwohl die Theorie jeder empirischen Grundlage entbehrt – Wilson gab später zu, es habe sich um eine bloße „Spekulation“ gehandelt (New York Times, 6. Januar 2004) –, erlangte sie weltweite Bekanntheit, als sich Rudolph Giuliani, von 1994 bis 2001 Bürgermeister von New York, und sein Polizeichef William Bratton davon inspi­rie­ren ließen, um die Polizei zu reformieren.

Harte Strafen für Bagatelldelikte

In den USA wie auch in Frankreich, Großbritannien oder Spanien wurden zwei komplementäre Strategien verfolgt: Das Strafmaß für Straßenkriminalität wurde heraufgesetzt und rechtlich zweifelhafte administrative Maßnahmen – etwa ein Bettelverbot oder auch eine Sperrstunde für Minderjährige – entwickelt, mit denen sich bestrafen ließ, was die Briten „antiso­zia­les Verhalten“ (anti-social behaviours) nennen. Der Konsum von Alkohol oder Drogen auf der Straße, die Besetzung des öffentlichen Raums, das Schwarzfahren, Glücksspiele, „aggressives“ Betteln, das Waschen von Autofenstern an Ampelkreuzungen, der Straßenhandel mit Getränken, kopierten CDs, DVDs, Handtaschen, Sonnenbrillen oder Gürteln sowie die Straßenprostitution wurden von der Polizei bevorzugt an­gegangen.

Mit der Aufgabe, Kleinkriminalität und „antisoziales“ Verhalten zu bekämpfen, übertrug ihr der Staat neue Befugnisse. Wie Wilson und Kelling feststellen, kann die Polizei ein „verdächtiges Individuum“ wegen „Vagabundierens“ oder „Trunkenheit im öffentlichen Raum“ verhaften – alles Beschuldigungen ohne rechtliche Bedeutung: „Diese Vergehen existieren nicht, weil die Gesellschaft den Gerichten den Auftrag erteilt, das Vagabundieren oder Trunkenheit zu bestrafen, sondern weil sie der Polizei juristische Werkzeuge geben will, um Unerwünschte aus einem Viertel zu entfernen, wenn alle informellen Anstrengungen, die Ordnung zu bewahren, gescheitert sind.“

Überträgt man einer Institution die Lösung eines gesellschaftlichen Pro­blems, bleibt das nicht ohne Folgen. Es begünstigt deren Fixierung auf bestimmte Aspekte und beeinflusst deren Wahrnehmung. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Murray Edelman verweist darauf, dass die Bürokratie die Neigung habe, „Probleme als Rechtfertigung für die Lösungen zu konstruieren, die sie anbietet“.7 Es gibt tief verwurzelte institutionelle Abläufe, Szenarien, Erfahrungen und Darstellungen, die Polizeibeamten sowohl in der Ausbildung als auch in der Alltagsarbeit (durch Ratschläge und Ermahnungen der Älteren) vermittelt werden.

Polizisten berufen sich gern darauf, dass sie keine Sozialarbeiter seien, und setzen im Umgang mit jenen, die als unerwünscht gelten, auf eine Kombination von Repression und Verbannung. Sie sichern die Ordnung in der Stadt „auf ihre Art“, indem sie vor allem Schikanestrategien entwickeln.

Ein Kommissar der katalanischen Polizei Mossos d’Esquadra erklärte seine Politik im Umgang mit Jugendlichen, die sich im öffentlichen Raum in Barcelona versammeln, so: „Du gehst auf den Platz, scheißt sie zusammen, setzt sie ein bisschen unter Druck und sagst ihnen, okay, ich komme jetzt jeden Tag. Und wenn du morgen wieder da bist, will ich deine Papiere sehen, und wenn du auf der Straße Alkohol trinkst, kriegst du eine Anzeige, und wenn wir Schokolade [= Cannabis] bei dir finden, auch. Irgendwie vertreiben wir sie schon. So lässt sich das Problem verlagern.“

Natürlich führen diese Taktiken zum Widerstand der Betroffenen. Sie beschimpfen die Einsatzkräfte, weigern sich, den Anweisungen zu folgen, und suchen manchmal die individuelle oder kollektive Konfrontation, vor allem, wenn das Kräfteverhältnis zuungunsten der Polizisten ausfällt. In Frankreich wuchs die Zahl von Beleidigungen und Gewalt gegen Vertreter der Staatsmacht von 22 000 im Jahr 1990 auf 68 000 im Jahr 2019.

Darauf reagiert wiederum die Polizei, indem sie ihr Personal mit Ausrüstung zur Verteidigung (kugelsichere Westen, Gummikugelgranaten zur Zerstreuung von Menschenmassen) und für den Angriff (Hartgummi­granatwerfer, Elektroschocker) ausstattet. Diese Waffen haben die Kritik an der „Militarisierung“ der Polizei verstärkt, die vor allem an Spezialeinheiten wie den französischen Brigades ­anti-criminalité (BAC) offenbar wird. Auf deren Abzeichen sind Raubtiere (Tiger, Wölfe, Löwen, Krokodile, Kobras) abgebildet, die über die schlafende Stadt wachen. Sie offenbaren, wie diese Einheiten den ihnen anvertrauten Raum und vor allem sich wahrnehmen.

Die New Yorker Street Crime Units agierten sogar unter der Devise „Die Nacht gehört uns“ (We own the night). Sie wurden 2002 aufgelöst, nachdem sie Amadou Diallo, einen jungen, unbewaffneten Schwarzen, mit 19 Kugeln erschossen hatten. Diese Spezialeinheiten sind mit ihren aggressiven Interventionspraktiken für einen Großteil der manchmal tödlichen Gewalt verantwortlich, die der Polizei als Institution vorgeworfen wird. Man beschuldigt sie auch, überall dort, wo sie eingesetzt werden, zur Verhärtung der Spannungen beizutragen.

Deshalb werden neue Einheiten geschaffen, die Bürger- oder Kiezpolizei heißen. Sie sollen sichtbar und ansprechbar sein (Patrouillen zu Fuß) und Dialogräume für die Lösung von Konflikten öffnen. Diese Versuche scheitern oft an der geringen Begeisterung der Polizei (oder an ihrem weiterhin gewalttätigen Verhalten) und an Sparzwängen. Dort, wo die Strate­gien umgesetzt wurden, haben sie die Schlüsselrolle der Polizei für die Regulierung der sozialen Beziehungen allerdings deutlich gestärkt und diese Beziehungen als sicherheitsrelevant neu definiert.8 Repressive und präventive Polizeiarbeit widersprechen sich also nicht, sondern können sich ergänzen und prägen das Alltagsleben immer größerer Bevölkerungsgruppen.

Das Versprechen, Bagatelldelikte einzudämmen, konnten diese Strate­gien offensichtlich nicht einlösen. Aber hat jemand ernsthaft geglaubt, das könnte gelingen, ohne die Ursachen anzugehen? Selbst viele Polizisten sprechen von einer Sisyphusarbeit. Die Regierungen bleibt von diesem Scheitern allerdings unbeeindruckt. Sie suchen lieber die Flucht nach vorn und übertragen den Sicherheitskräften weitere Befugnisse, was wiederum von der Polizei ausgenutzt wird, um immer größeren Handlungsspielraum zu fordern.

Die politische Entscheidung, die Polizei zur Speerspitze der Verteidigung der urbanen Ordnung zu machen, wertet ihre Position im Staatsgefüge auf und zwingt die Regierungen in eine fatale Abhängigkeit. Vor allem in Frankreich und den USA, wo die Polizeigewerkschaften besonders mächtig sind, lässt sich dieses Phänomen beobachten. In Frankreich ist die Polizei mit einem Organisationsgrad von fast 70 Prozent der mit Abstand am besten organisierte Berufszweig. Zum Vergleich: Im öffentlichen Dienst sind es 19, in der Privatwirtschaft 8 Prozent.

Die nach Dienstgrad (mittlerer, gehobener, höherer Dienst) strukturierten Gewerkschaften spielen eine wichtige Rolle für die persönliche Karriere. Wegen des Amtsgeheimnisses sind die Gewerkschaften auch die Einzigen, die sich neben den vorgesetzten Behörden in den Medien äußern dürfen. Das begrenzt die öffentlichen Auftritte interner Kritiker und verstärkt die Illusion der Polizei als monolithischer Block. Die Gewerkschaften verfügen damit faktisch über ein Mitbestimmungsrecht bei Belangen der Institution Polizei.

Taub für Kritik von außen

Zwar wird auch die Polizei nicht von neoliberalen Reformen wie Budgetkürzungen oder der Neubewertung von Zuständigkeiten und Gehältern verschont, sie kann sich aber besser wehren als andere Einrichtungen des öffentlichen Dienstes. Im Zuge der geplanten Rentenreform im Dezember 2019 mussten die französischen Polizeigewerkschaften nur die Möglichkeit eines Streiks andeuten, um sofort eine Ausnahmeregelung zu erhalten. Ganz anders im Transport-, Gesundheits- und Bildungswesen: Dort konnten Hunderttausende Angestellte ihre Forderungen trotz wochenlanger Streiks und Demonstrationen nicht durchsetzen.

Ebenso wirksam verhindert die Polizei, dass auf irgendeine Weise ihre Macht und ihre Vorrechte infrage gestellt werden. Die jüngsten Äußerungen von Innenminister Castaner über ein Verbot des Würgegriffs brachten ihm den Vorwurf des Verrats ein. In mehreren französischen Städten organisierten Polizeigewerkschaften Proteste, die ihn zum Einlenken zwangen.

Vergleichbare Vorfälle gab es schon bei den Demonstrationen gegen Justizminister Robert Badinter 1983, gegen das Gesetz zum „Schutz der Unschuldsvermutung“ (15. Juni 2000), beim Widerstand gegen die Reform des Polizeigewahrsams (14. April 2011) oder des Strafvollzugs (15. August 2014). Die Ablehnung jeder Kritik von außen zeigt sich auch im Widerstand gegen all jene Behörden, die eine Kontrolle über die Tätigkeiten der Polizei ausüben könnten.

Unabhängige Kontrollbehörden wie die Nationale Kommission für Ethik in Sicherheitsfragen (CNDS), ihr Nachfolger, der Ombudsmann für die Verteidigung der Rechte, oder die Chefkontrolleurin der Haftanstalten mussten ständig darum kämpfen, ihre Arbeit machen zu können. Ihr Aktionsradius wurde gegenüber der ursprünglichen Agenda fortwährend eingeschränkt.

Das gilt gleichermaßen für die Justiz, die nur ungern über das Handeln der Polizei urteilt, da selbst die Richter in ihrer täglichen Arbeit von dieser abhängen. Und auch die von den Polizisten gefürchtete Generalinspektion der Nationalen Polizei (IGPN) scheint weit eher geneigt, interne Verfehlungen zu bestrafen, als im Falle von Klagen, die von außen kommen, zu ermitteln. Ihre Direktorin Brigitte Jullien gibt zu, dass man im Zuge der Gelbwesten-Proteste 378 Beschwerden wegen unangemessener Gewalt durch Polizeibeamte erhalten habe. Nur in zwei Fällen sei eine Disziplinarstrafe vorgeschlagen worden (France 2, 11. Juni 2020).

Die Autonomie der Polizei in Kombination mit ihrer zentralen Rolle, die ihr bei der Regulierung der sozialen Ordnung zugewiesen wurde, hat die Beziehungen der Beamten zum Rest der Gesellschaft verändert. Angesichts der schwierigen Situationen, mit denen sie im Berufsalltag konfrontiert sind (Unfälle, Gewalt, Konflikte, Elend), entwickeln Polizisten oft einen eher pessimistischen Blick auf die Welt – Ähnliches lässt sich auch unter Feuerwehrleuten beobachten.9

Im Zusammenspiel mit der negative Darstellung ihrer „Klienten“ ist dies eine Möglichkeit, den latenten Rassismus innerhalb der Polizei zu erklären. Es gibt durchaus eine Minderheit von Beamten, die überzeugte Rassisten sind, und eine Führung, die solche Einstellungen toleriert. Für viele ihrer Kollegen formen sich die rassistischen Stereotype jedoch im alltäglichen, rauen Umgang in den sogenannten sozialen Brennpunkten – wo ein großer Teil der Bürger aus Ein­wan­derer­milieus stammt oder Minderheiten angehört. Diese Stereotype werden dann auf alle angewendet, die ihnen ähneln ­könnten.

Seit ungefähr 30 Jahren führt die Ausdehnung der Polizeiarbeit auf andere Bereiche dazu, dass auch die Gruppe der Verdächtigen sich vergrößert. Dazu genügt ein Blick in das Register juristischer Eintragungen (TAJ), in das Polizisten und Gendarmen alle Personen aufnehmen, für die es „schwerwiegende oder übereinstimmende Indizien gibt, die es wahrscheinlich machen, dass sie als Urheber oder Komplizen an der Ausführung eines Verbrechens, ­einer Straftat oder eines Verstoßes fünfter Klasse beteiligt gewesen sein könnten“.

Dieses Register gibt keine Auskunft über ein mögliches Gerichtsverfahren – bei den Registrierten handelt sich also um Verdächtige, nicht um Schuldige. Am 15. November 2018 hatten 18,9 Millionen Personen einen TAJ-Eintrag, das sind fast 30 Prozent der französischen Bevölkerung. Kaum verwunderlich, dass die französischen Polizisten ihren Mitbürgern sehr viel misstrauischer gegenüberstehen als im Rest ­Europas.10

Ermuntert durch Politiker und ihre eigenen Vorgesetzten, sich als letztes Bollwerk gegen das Chaos zu verstehen, setzen Polizisten immer häufiger Techniken ein, die früher Schwerverbrechern vorbehalten waren. Diese Dynamik erklärt vielleicht den Tod des Lieferwagenfahrers Cédric Chouviat, nachdem Polizisten einen Würgegriff angewendet hatten; den des Erziehers Steve Maia Caniço, der bei der brutalen Auflösung einer Technoparty in die Loire stürzte und ertrank. Sie erklärt den massiven Einsatz von Gummigeschossen gegen die Demonstrationen von Gelbwesten und gegen die Rentenreform; die Demütigung von Schülerinnen und Schülern (wie in Mantes-la-­Jolie, als die Einsatzkräfte sie im Dezember 2018 mit den Händen im Nacken im Schlamm knien ließen) und Feministinnen; und nicht zuletzt die Exzesse bei der Durchsetzung des Corona-Ausnahmezustands.

Diese Dynamik untergräbt allerdings auch die Autorität der Polizei. Der Generalsekretär der Polizeigewerkschaft Unité SGP Police, Yves Lefebvre, beklagte erst kürzlich, der Würgegriff werde „immer öfter eingesetzt, weil immer mehr Personen versuchen, sich den Polizeikontrollen zu entziehen“ (­Li­bé­ration, 8. Juni 2020).

Damit stellte er ungewollt eine grundsätzliche Frage: Warum gehorcht jemand der Polizei? Die Antwort ist einfach: Der Grad des Gehorsams, den eine Institution erfährt, hängt propor­tio­nal davon ab, ob sie als legitim wahrgenommen wird. Aber Legitimität ist nicht ein für alle Mal gegeben. Das Strafrecht, schrieb der Soziologe Émile Durkheim, schützt „die Kollektivgefühle“ eines Volkes „zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte“.11 Es zieht also in einer Gesellschaft die moralische Grenze zwischen einer Mehrheit von „ehrlichen Bürgern“ und einer Minderheit von „Kriminellen“.

Wenn aber die Organisation der städtischen Ordnung, die Regulierung der Migration und sogar der sozialen und politischen Proteste an die Polizei delegiert wird, verändert sich das relative Gewicht dieser beiden Gruppen. Die „besondere Energie und Eindeutigkeit“ der kollektiven Gefühle, von der Durkheim spricht, wird getrübt, und die Polizei wird nicht mehr notwendig als Garant des allgemeinen Interesses wahrgenommen, sondern als Hüter einer sozialen Ordnung, die eine wachsende Zahl von Individuen als ungerecht empfindet.

Je weniger Gehorsam die Ordnungshüter erfahren, desto bereitwilliger wenden sie Gewalt an, um sich Respekt zu verschaffen, was den Argwohn gegen sie noch vertieft. Der wiederum verstärkt ihr Misstrauen gegenüber der Bevölkerung und die Forderung, ihre Sicherheitsbefugnisse zu erweitern.

Diese Entwicklung nimmt immer mehr Menschen die Luft zum Atmen. Einen Höhepunkt erreichte sie in Frankreich während der corona­bedingten Ausgangssperre: Zwischen dem 17. März und dem 11. Mai 2020 führte die Polizei 20,7 Millionen Kon­trollen durch und verhängte 1,1 Mil­lio­nen Bußgelder. Als Echo auf das Ersticken von George Floyd war während der aktuellen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt immer wieder der Slogan „Lasst uns atmen!“ zu hören: „Laissez-nous respirer!“

1 Die Daten wurden zusammengestellt und analysiert von Ivan du Roy und Ludo Simbille, www.bastamag.net.

2 René Lévy, „La police française à la lumière de la théo­rie de la justice procédurale“, Déviance et Société, Bd. 40, Nr. 2, 2016.

3 Siehe Raphaël Kempf, „Prügelnde Polizisten und gnadenlose Richter“, LMd, Februar 2019.

4 Richard V. Ericson und Kevin D. Haggerty, „Policing the Risk Society“, University of Toronto Press, 1997.

5 Egon Bittner, „Florence Nightingale in pursuit of Willie Sutton: A theory of the police“, in: T. Newburn (Hg.), „Policing: Key Readings“, Cullompton (Willan Publishing) 2005.

6 James Q. Wilson und Georges L. Kelling, „Broken Windows: The Police and Neighborhood Safety“, The Atlantic Monthly, März 1982.

7 Murray Edelman, „Constructing the political spectacle“, University of Chicago Press, 1988.

8 Zu den Erfahrungen der progressiven Stadtverwaltungen in Spanien siehe „El giro preventivo de lo policial“, Sondernummer der Zeitschrift Crítica Penal y Poder, Nr. 19, Barcelona 2020.

9 Siehe Romain Pudal, „Stolz, prekär, Feuerwehr“, LMd, März 2017.

10 Juha Kääriäinen und Reino Sirén, „Do the police trust in citizens? European comparisons“, European Journal of Criminology, Bd. 9 (3), London 2012.

11 Émile Durkheim, „Die Regeln der soziologischen Methode“, hg. v. René König, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1995, S. 81.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Laurent Bonelli ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Paris-Nanterre und mit Fabien Carrié Co-Autor von „La Fabrique de la radicalité. Une sociologie des jeunes djihadistes français“, Paris (Seuil) 2018.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von Laurent Bonelli