09.07.2020

Bolsonaro, das Virus und die Demokratie

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Bolsonaro, das Virus und die Demokratie

In der Pandemie folgt der brasilianische Präsident seinem Vorbild Donald Trump. Er spielt die Gefahr herunter und feuert alle, die zur Vorsicht raten. Gleichzeitig nutzt er den Notstand, um die Institutionen anzugreifen und neue Anhänger zu gewinnen. Aber der Widerstand wächst.

von André Singer

Ausstellungsansicht, 2020, Mewo Kunsthalle Memmingen
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Am 31. Mai verließ Präsident Bolsonaro seinen Amtssitz, um sich auf einem Pferd der Militärpolizei (Polícia Militar, PM) einer Kundgebung gegen den Nationalkongress und den obersten Gerichtshof anzuschließen. Die Legislative und die höchste juristische Instanz des Landes sollten, so die Forderung der Demonstranten auf dem Platz der drei Gewalten, mithilfe des Militärs „auf Linie“ gebracht werden. Es war bereits die vierte Demonstration dieser Art, seit die von Bolsonaro heftig kritisierte Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 11. März 2020 Covid-19 zur Pandemie erklärt hatte.

Auch wenn der ehemalige Fallschirmjäger Bolsonaro nur ein einfaches blaues Hemd trug und auf jegliche militärische Orden verzichtete, erinnerte sein Auftritt hoch zu Ross fatal an die Reiterporträts des italienischen Diktators Mussolini, von dem der brasilianische Präsident wenig später folgendes Zitat auf seiner Facebook-Seite postete: „Lieber einen Tag als Löwe denn hundert Tage als Lamm leben.“ 1

Dies ist nur ein Beispiel für Brasiliens politisches Klima in den ersten drei Monaten der Pandemie. Für die Zeit davor scheint es sich im Fall Bolsonaro hingegen eher um einen „heimlichen Autoritarismus“ zu handeln. So bezeichnet der marxistische Politologe Adam Przeworski die langsame Erosion der Demokratie2 , die sich durch folgende Merkmale auszeichnet: 1. Sie schreitet allmählich voran. 2. Der Rechtsstaat wird formal anerkannt. 3. Die Umgestaltung wird durch gewählte Volksvertreter und nicht durch außerparlamentarische Kräfte umgesetzt. Also keine Panzer auf der Straße und keine Militärjunta, die mit Gewalt die Macht übernimmt.

Gouverneure widersetzen sich Brasília

Bolsonaro hat offensichtlich beschlossen, den aus der Pandemie folgenden Notstand zu nutzen, um den Abbau der Demokratie zu beschleunigen. Während andere Staatschefs mit diktatorischen Ambitionen Ausgangssperren verhängten, um der Bevölkerung ihre Macht zu demonstrieren, präsentierte der brasilianische Präsident sein den Empfehlungen der Wissenschaft entgegengesetztes Vorgehen als einen Kampf, der die Hinwendung zum Autoritären rechtfertigte.

Inspiriert von seinem Vorbild, dem US-Präsidenten Donald Trump, stilisierte sich Bolsonaro sehr früh als Verfechter der persönlichen Freiheit. Während die Gouverneure mehrerer brasilianischer Bundesstaaten die Bevölkerung mit Unterstützung des Na­tio­nal­kongresses und des obersten Gerichtshofs dazu aufforderten, zu Hause zu bleiben, propagierte Bolsonaro das genaue Gegenteil.

Zwei Gesundheitsminister hat Bolsonaro schon entlassen, weil sie die Analysen der WHO unterstützt hatten. Am Ende bekam ein General den Posten. Bol­so­na­ro bewarb das Medikament Chloroquin, obwohl dessen Nutzen nicht bewiesen war; er besuchte verschiedene Produktionsstätten und umarmte dort Menschen – ohne Gesichtsmaske und unter Missachtung aller Distanzregeln; er rief seine Anhänger dazu auf, Videos zu drehen, um zu zeigen, dass es in den Krankenhäusern noch leere Betten gab; und er ignorierte sämtliche Informationen über die Verbreitung der Pandemie.

Mit anderen Worten: Er richtete ein tödliches Chaos im Gesundheitswesen an. Mitte Juni starben in Brasilien täglich etwa 1200 Menschen an Covid-19, während es in Argentinien nur 30 Tote pro Tag gab (die argentinische Bevölkerung beträgt ein Fünftel der brasilianischen). Mit 57 622 Covid-19-Toten (Stand: 29. Juni) folgt Bra­si­lien gleich auf die USA, die mit 125 803 Toten die weltweite Statistik der Johns-Hopkins-Universität anführen – und keiner weiß, ob der Höhepunkt der Pandemie bereits erreicht ist.

Wie konnte Bolsonaro seinen protofaschistischen Reiterumzug überhaupt durchsetzen? Zunächst einmal mit Dreistigkeit.

Ende April entließ er den Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit, Sér­gio Moro, der einst für seinen kometenhaften Aufstieg gesorgt hatte: Der frühere Bundesrichter und Leiter der „Ope­ra­ção Lava Jato“ (Operation Autowaschanlage) in der Schmiergeldaffäre um den Odebrecht-Konzern hat im

April 2018 mit seiner Verurteilung des früheren (2003–2010) linken Präsidenten Lula da Silva letztlich verhindert, dass dieser erneut für das Präsidentenamt kandidieren konnte, und so Bolsonaro den Weg geebnet.

Doch nun wollte Bolsonaro unbeschränkten Einfluss auf die mächtige Bundespolizei (Polícia Federal, PF) nehmen, das brasilianische Gegenstück zum US-amerikanischen FBI, in der Tausende Beamte auch gegen Korruption und organisierte Kriminalität ermitteln. Seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie 1985 hatten alle Präsidenten die Unabhängigkeit der Bundespolizei respektiert. In seiner Ab­schieds­rede am 24. April legte Sérgio Moro offen, welchem Druck er ausgesetzt war, um präsidententreue Regionaldirektoren zu ernennen (vor allem in Rio de Janeiro, wo gegen Mitglieder der Familie Bolsonaro ermittelt wurde), und gab bissig zu Protokoll, die Entlassung des PF-Chefs Mauricio Valeixo am Tag zuvor stelle die wichtigste Verpflichtung infrage, „die uns aus der Achtung des Gesetzes erwachsen soll“.

Nach der Verhaftung des früheren PM-Adjutanten Fabrício Queiroz am 18. Juni gerieten die Konflikte der Familie Bolsonaro mit Rios Justizbehörden erneut ins Scheinwerferlicht. Queiroz, der als Chauffeur, Berater und Bodyguard für Senator Flávio Bolsonaro gearbeitet hatte, wurde im Haus eines Anwalts verhaftet, der dem Staatschef nahesteht. Der älteste Sohn des Präsidenten steht unter dem Verdacht, in seiner Zeit als Abgeordneter im Parlament des Bundesstaats Rio öffentliche Gelder unterschlagen zu haben.

Obwohl auch Moro die Justiz ins­tru­mentalisiert hatte, um Lula da Silva und weitere Politiker der Arbeiterpartei (PT) ins Gefängnis zu bringen, galt er als der Held der Mittelklasse, die sich im Antikorruptionskampf engagiert. Nachdem Moro den Präsidenten beschuldigt hatte, den Rechtsstaat anzugreifen, verbreitete sich in den sozialen Medien wie ein Lauffeuer das Gerücht, Bolsonaro werde abgesetzt. Nur wenige Minuten später kursierten schon ­Memes über den Vizepräsidenten, General Hamilton Mourão, als Fußballspieler, der sich zum Einwechseln bereit macht.

Selbst Augusto Aras, den Bolsonaro selbst zum Generalstaatsanwalt ernannt hatte, sah sich wegen Moros Enthüllungen gezwungen, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. In seinem Antrag an den obersten Gerichtshof führte Aras sechs Vergehen an, derer sich der Präsident schuldig gemacht haben könnte, darunter „Behinderung der Justiz“.

Im Verlauf des Verfahrens wurde auch das Video einer Kabinettssitzung veröffentlicht, die 48 Stunden vor dem Rücktritt des Justizministers stattgefunden hatte. Sie bestätigt nicht nur Moros Vorwürfe der versuchten Einflussnahme auf die Bundespolizei, sondern man hört auch, wie sich Bolsonaro mit Kraftausdrücken für die Bewaffnung der Bevölkerung ausspricht, um den Widerstand gegen Gouverneure und Bürgermeister zu organisieren: „Das ist das einzige Mittel dagegen, dass irgendein Hurensohn [...] uns hier eine Diktatur verhängt!“ Damit waren die Ausgangssperren gemeint, die in manchen Bundesstaaten beschlossen worden waren.

Bolsonaro ist aber nicht nur einfach dreist. Er profitiert auch davon, dass die Justizbehörden mit ihren Widerstandsversuchen derzeit isoliert dastehen und die anderen institutionellen Akteure selbst verstrickt sind. Der Präsident des Abgeordnetenhauses, Rodrigo Maia, der über die mittlerweile mehr als 30 Anträge auf Amtsenthebung entscheiden muss, weiß, dass Bolsonaro sich Rückendeckung verschafft hat. Er hat den selbst ernannten Parteien der „Mitte“ hohe Posten angeboten und verfügt daher über genügend Stimmen, um jeden parlamentarischen Versuch in diese Richtung scheitern zu lassen.

Die Justiz ermittelt gegen die Präsidentenfamilie

Niemand weiß, wie lange die Abgeordneten der sogenannten Mitte Bolsonaro die Treue halten werden. Da ihre einzige Richtschnur darin besteht, Profit aus dem Staatsapparat zu schlagen, sind sie auch dafür bekannt, jedes sinkende Schiff schnell zu verlassen. Im Augenblick ist Bolsonaros Boot jedoch noch seetüchtig, da es über einen soliden Rumpf verfügt: die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten und seine persönlichen Netzwerke, die ihn vor allem mit dem Militär verbinden.

Ein Drittel der brasilianischen Wählerinnen und Wähler unterstützt Bolsonaro seit der ersten Runde der Präsidentschaftswahl 2018 und steht laut der letzten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha von Ende Mai 2020 auch weiterhin hinter ihm. Diese Basis stellt keine Mehrheit dar, kann aber den Präsidenten im Sattel halten. Schaut man sich die Umfragen genauer an, erkennt man jedoch, dass die Regierung in der Mittelklasse – nicht der einzigen, aber einer zentralen Klientel des aufstrebenden Bolsonarismus – an Zustimmung verloren hat.

Von Dezember 2019 bis zur spektakulären Entlassung Sérgio Moros im April 2020 verlor der Präsident 11 Prozentpunkte aus der Wählerschaft, die über ein Haushaltseinkommen von fünf bis zehn Mindestlöhnen (die zweithöchste Stufe) verfügt. Gleichzeitig ist aber die Zustimmung für Bolsonaro unter früheren Lula-Anhängern, deren Haushalt über weniger als zwei Mindestlöhne verfügt, um 9 Prozent gestiegen.

Das lässt sich zum einen damit erklären, dass die Regierung etwa 50 Millionen Beschäftigten, die wegen der Pandemie keine Einkünfte durch Arbeit mehr erzielen konnten, eine Nothilfe in Form von dreimal 600 Real (etwa 100 Euro, der Mindestlohn liegt bei etwa 1000 Real) bewilligt hat. Zwischen April und Juni wurden die Hilfen ausgezahlt, die für Alleinerziehende oder Paare, bei denen beide Partner Anspruch auf Unterstützung hatten, bis zu 1200 Real pro Monat und Haushalt betragen konnten.

Das sind insbesondere in den ärmsten Regionen Brasiliens bedeutende Geldsummen. Und dann stießen natürlich auch die Erklärungen der Regierung, man wolle die Wirtschaft so bald wie möglich wieder ankurbeln, unter den Beschäftigten ohne festes Einkommen – die Hälfte der Bevölkerung arbeitet im informellen Sektor – auf offene Ohren.

Auch Bolsonaros Bündnis mit den großen evangelikalen Gemeinden könnte seine neue Basis im Volk festigen. Der Evangelikalismus, deren Mitgliedschaft von 7 Prozent der Bevölkerung (1980) auf 30 Prozent (2019) gewachsen ist, ist vor allem in den ärmeren Gegenden verbreitet.4 Bolsonaro ist zwar katholisch, aber das hinderte ihn auf einer Israelreise 2016 nicht daran, sich von einem Pastor der Pfingstgemeinde Assemblies of God mit Jordanwasser taufen zu lassen. Mitten in der Coronakrise empfing er Vertreter von elf evangelikalen Gemeinden im Präsidentenpalast. Der bekannteste Pastor dieser Gruppe erklärte, Brasilien „wird nicht Venezuela, es wird von niemandem zerstört werden, es wird keinen Rückzieher machen“.5

Mit der Unterstützung der ärmeren Schichten für Bolsonaro könnte es wieder vorbei sein, wenn die Nothilfe endet. Ursprünglich vom Wirtschaftsministerium auf 200 Real angelegt, wurde die Summe durch den Kongress verdreifacht. Wirtschaftsminister Paulo Guedes hat bereits angekündigt, die Zahlungen zu verlängern.

Angesichts von Rezession und Massenarbeitslosigkeit wird die Wirtschaftspolitik nach dem Ende der Pandemie über das Schicksal des Präsidenten entscheiden. Seine Vertrauten unter den Arbeitgebern, die ihn bislang noch unterstützen, sind nicht gerade begeistert von den höheren Staatsausgaben. Anfang Mai verlangten fast 20 Arbeitgeberorganisationen aus unterschiedlichsten Branchen – von der Elektronik- bis zu Textilindustrie –, die Quarantänemaßnahmen zu lockern. Bolsonaro ging daraufhin mit einer Delegation von Firmenchefs über den Platz der drei Gewalten zum obersten Gerichtshof, um von dessen Vorsitzendem eine Lockerung der Distanzregeln zu fordern.

Keine der gesellschaftlichen Gruppen, die den Präsidenten derzeit noch unterstützen, besitzt jedoch ein vergleichbares Gewicht wie die Armee. Fast die Hälfte der Ministerien wird von Offizieren geleitet – mehr als unter der Militärdiktatur (1964–1985). Auch der Vizepräsident Antônio Hamilton Mou­rão ist ein Viersternegeneral.

Bis zum Beginn der Pandemie war man davon ausgegangen, dass die Generäle mäßigend auf den Präsidenten einwirkten, etwa nach dessen verrückter Drohung im Februar 2019, als er in Venezuela einmarschieren wollte. Doch nun schwingen sie sich selbst zu Richtern über die Entscheidungen der drei Gewalten und der Presse auf: In einem Mitte Mai, also nach Beginn der Ermittlungen gegen Bolsonaro, erschienenen Artikel erklärte der Vizepräsident, bestimmte Kräfte wollten „sich widerrechtlich die Vorrechte der Exekutive aneignen“. Die Gouverneure, Richter und Parlamentarier hätten die politische Lehre vergessen, nach der die Entscheidungen der Bundesregierung innerhalb einer Föderation die „vernünftigsten“ seien; einige prominente Politiker der Vorgängerregierungen hätten „das Bild Brasiliens im Ausland“ beschädigt, und „die Presse sollte ihre Vorgehensweise überprüfen“.6

Mourãos Artikel liest sich wie eine Programmschrift zum Umbau der brasilianischen Demokratie. Im Schatten seiner uniformierten Reiter nähert sich Bolsonaro dem autoritären Staat, den er so herbeisehnt. Sollte er abgesetzt werden, so befürchtet die Oppo­si­tion, könnte die Armee erneut nach der Macht greifen. In der Zwischenzeit demonstriert ein Teil der Bevölkerung aus Angst und Empörung für den Erhalt der Demokratie.

Die Presse, die ohnehin nicht die besten Beziehungen zum Präsidenten unterhielt, hat sich nun endgültig vom Reitersmann abgewandt und behandelt ihn mit derselben Feindseligkeit wie die PräsidentInnen Fernando Collor de Mello (1992) und Dilma Rousseff (2016) vor deren Absetzung. Es ist allerdings fraglich, ob der Widerstand auch dann noch die nötige Geschlossenheit aufbringen wird, den herrschenden Machtblock zu spalten, wenn die Leiden der Pandemie in Vergessenheit geraten sind.

1 Über die Anleihen an Faschismus und Nationalsozialismus der Bolsonaro-Regierung siehe auch Rafael Cardoso, „Kulturkampf in Brasilien“, LMd, Februar 2020.

2 Siehe Adam Przeworski, „Krisen der Demokratie“, Berlin (Suhrkamp) 2020. Die deutsche Übersetzung erscheint voraussichtlich am 26. Oktober.

3 Siehe Anne Vigna, „Gut geschmiert ist viel gewonnen. Vorläufige Bilanz der Ermittlungen gegen den brasi­lia­nischen Industriegiganten Odebrecht“, LMd, September 2017.

4 Siehe zum Aufstieg der Evangelikalen Laura Raim „Brasilien liebt Jesus“, LMd, Oktober 2014.

5 Hanrrikson de Andrade und Patrick Mesquita, „Encontro entre pastores e Bolsonaro tem oração por Congresso e STF“, UOL Notícias, São Paulo, 5. Juni 2020.

6 Siehe Antônio Hamilton Martins Mourão, „Limites e responsabilidades“, O Estado de S. Paulo, 14. Mai 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

André Singer ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von São Paulo und war Pressesprecher der Regierung Lula. Zuletzt erschien von ihm das Buch „O lulismo em crise“, São Paulo (Companhia das Letras) 2018, und der Artikel „The failure of Dilma Rousseff’s developmentalist experiment“ in: Latin American Perspectives, Nr. 230, Bd. 47, River­side, Januar 2020.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von André Singer