09.07.2020

Wie geht guter Tourismus?

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Wie geht guter Tourismus?

von Bertrand Réau und Christophe Guibert

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Plötzlich geschah das Wunder: Die trübe Brühe in Venedigs Kanälen verwandelte sich in glasklares Wasser. Die Touristen waren aus der Stadt geflüchtet, die normalerweise von Besuchern überrannt wird und von fa­brik­ähnlichen Kreuzfahrtschiffen umzingelt ist.

In jenen stillen, unheimlichen Tagen des Lockdowns war zu ermessen, was für spektakuläre Auswirkungen ein ungebändigter Tourismus selbst dann noch hat, wenn er eine Weile ausfällt. Traumhaft nah schien eine Welt, in der die Menschen ihre freie Zeit für Aktivitäten nutzen, die dem Planeten weniger zusetzen. Das Feindbild war ebenso schnell ausgemacht: der „Massentourismus“!

Hinter der Scheinevidenz dieses Befunds, den die ganz reale Überfrequentierung bestimmter Reiseziele (Barcelona, Venedig, Dubrovnik und so weiter) bestätigt, verbirgt sich ein gnadenloses Urteil. Der Tourist ist immer der andere: „Idiot des Reisens“ nennt ihn der Soziologe Jean-Didier Urbain. Ein Herdentier, invasiv und vulgär wie der die Flüsse heimsuchende Katzenwels. Wo es in Massen auftaucht, ruiniert es in kürzester Zeit die authentische, friedliche Landschaft, die sein Gegenbild – der „Reisende“ – so gern betrachtet. In diesem Kontrast artikuliert sich die Angst der gebildeteren Klassen vor der Überbeanspruchung und „Vermassung“ von Privilegien, die sie früher einmal für sich gepachtet hatten.

Wenn man die kommerziellen Aspekte beiseitelässt, geht es in der Tourismusfrage vor allem um die sozial definierte Zeit und deren Inhalt: hier die begrenzte arbeitsfreie Zeit der unteren Bevölkerungsschichten, dort der pädagogische Wert, mit dem die gehobenen Klassen ihre Mußestunden aufladen und mit dem sie sich von anderen abheben.

Auch wenn die Horrorvorstellung eines Charterflugterminals zu Beginn der Sommerferien es nicht vermuten lässt – der Tourismus hat aristokratische Wurzeln. Einst nannte er sich grand tour – eine britische Erfindung aus dem späten 17. Jahrhundert, die es jungen Adelssprösslingen ermöglichte, sich durch Erkundung der Baudenkmäler, Sitten und Gebräuche anderer Länder, mit Vorliebe Italiens, zu bilden und außerdem fern der heimischen Blicke über die Stränge zu schlagen. Nebenbei lernten die Erben, wie man erbt – nämlich, indem man sich sprachliche und kulturelle Fertigkeiten aneignet, die man später als adeliger Titelträger nutzbringend anwenden kann.

Mit dem Aufkommen der Badeorte und der Ausflugskultur weitete sich diese Praxis im 19. Jahrhundert auf das Bürgertum aus. Trotzdem blieb der Tourismus zunächst noch ein Privileg der besonders Vermögenden. In Gefahr geriet die Exklusivität des Reisens erst durch die neu geordnete Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunderts.

Zuerst bildeten sich im Zuge der Schulgesetzgebung Freizeit­praktiken für Kinder aus gesellschaftlichen Schichten heraus, die nicht zum Bürgertum gehörten. Parallel entstanden durch die Verkürzung der Arbeitszeit von Kindern und Frauen – später auch von Männern – und durch den schrittweise erkämpften bezahlten Urlaub arbeitsfreie Zeiten.

Im 19. Jahrhundert entstanden auch die ersten Tourismusmärkte, zuerst für die verschiedenen Gruppen der höheren Klassen und dann für die Mittelschicht. Später warben Gewerkschaften und linke Parteien – allen voran die Kommunistische Partei – für einen so­zia­len Familientourismus, der von einer ganzen Galaxie von Vereinen und Betriebsräten insbesondere der Staatsbetriebe organisiert wurde. 1

Mitte der 1980er Jahre verreisten während der Ferien rund 60 Prozent der Franzosen, 40 Prozent blieben zu Hause. Bei diesem Zahlenverhältnis fällt allerdings unter den Tisch, dass leitende Angestellte und Akademiker dreimal so oft verreisten und sogar sechsmal so oft ins Ausland fuhren wie die Arbeitnehmer.2

Im Zeitalter der All-inclusive-Reisen zum Schleuderpreis wächst für distinguierte Urlauber die Gefahr, dass sie den Leuten über den Weg laufen, die sie „Touristen“ nennen. Um dem zu entgehen, betreiben sie eine Diversifizierung ihrer Reiseformate hin zu solchen, die für kleinere Geldbeutel unerschwinglich sind. Ebenso wie bei ihrem Kulturkonsum heben die reichen Touristen sich durch ein Verhalten ab, das den Kindern und Heranwachsenden – ganz in der Tradition der grand tour – wertvolle Lernprozesse bietet.

Über solchermaßen en passant erworbene soziale und intellektuelle Kompetenzen entsteht laut Pierre Bourdieu jene „freie Bildung“, die nicht in der Schule vermittelt wird, aber unverzichtbar ist, wenn man die obersten Sprossen der sozialen Leiter erklimmen will – was allein durch Leistung beim besten Willen nicht möglich ist.

Die Auslandsreisebeschränkungen infolge der Covid-19-Pandemie könnten diese Strategien in Gefahr bringen, zumal die Tourismusbranche inzwischen ein Interesse daran entwickelt, ihre Aktivitäten wieder auf das Reisen im eigenen Land zu fokussieren und Bevölkerungsgruppen zu mobilisieren, die bislang kaum oder gar nicht verreist sind.

Neben der überall anzutreffenden sozialen Hierarchie gibt es eine internationale Hierarchie der Abhängigkeit vom Besucherzustrom. Unter den Ländern mit den höchsten Tourismus­einnahmen (USA, Spanien, Frankreich, Thailand, Deutschland, Italien) gibt es Länder wie die USA, wo die Branche nur einen kleinen Teil des Bruttoinlandsprodukts ausmacht (7,8 Prozent), und andere wie Thailand, für die der Tourismussektor lebenswichtig ist (22 Prozent). Wer sein Land als Traumreiseziel etablieren will, um sich einen Teil der 8,9 Billionen US-Dollar zu sichern, die der Tourismus jedes Jahr abwirft (10,3 Prozent des weltweiten BIPs), muss dafür einiges leisten.

Dass Marokko 2019 insgesamt 13 Millionen Touristen begrüßen durfte (2012 waren es noch 9,5 Millionen), war das Ergebnis einer Regierungsstrategie. Doch es genügt eine geopolitische Verschiebung, eine Anschlagsserie oder eben eine Pandemie wie Covid-19, und schon ebbt der Besucherstrom ab oder versiegt ganz – wie in Tunesien zu Zeiten des Arabischen Frühlings.

Covid-19 als Schrittmacher einer neuen Freizeitpolitik

Länder, die Touristen in großer Zahl in die Welt hinausschicken, gewinnen beträchtlichen Einfluss auf die Einreiseländer. China, das allein im ersten Vierteljahr 2019 rund 80 Millionen Urlaubsaufenthalte jenseits seiner kontinentalen Grenzen generierte und (zumindest vor Covid-19) zweistellige Wachstumsraten in diesem Bereich verzeichnete, nutzt diese Einflussmöglichkeiten als Soft Power. Entsprechend schwer würde es Frankreich als einem der beliebtesten europäischen Reiseziel der Chinesen fallen, sich mit Peking zu entzweien. Immerhin könnte es rund 2,2 Millionen chinesische Touristen ganz oder teilweise verlieren; so viele bereisten 2018 Frankreich. Dasselbe gilt für Thailand, Vietnam oder Japan, die seit mehreren Jahren immer mehr Gäste aus China empfangen (siehe Karte auf Seite 10/11).

Der Tourismus ist nicht nur eine geopolitische Waffe, sondern gibt der Staatsmacht auch ein Instrument zur Kontrolle der eigenen Bevölkerung an die Hand. Peking fördert und organisiert den Ausbau des Inlandstourismus. Was die Chinesen im eigenen Land zu besichtigen haben, bestimmt die Partei. So klassifiziert sie die Sehenswürdigkeiten nach einer Rangordnung (5A für die Verbotene Stadt in Peking und die Chinesische Mauer, gefolgt von 4A, 3A und so weiter), die den Patrio­tismus stärken soll.

Zum abrupten Stillstand infolge des Coronavirus kommt eine eher strukturelle Entwicklung hinzu, die mit der wachsenden Sorge um die Umwelt zusammenhängt. Diese Sorge ist ein Anreiz, sich zum Erholen nicht allzu weit vom eigenen Zuhause zu entfernen und das Angenehme mit dem Nützlichen und Nachhaltigen zu verbinden.

In Seignosse an der Atlantik­küste lädt zum Beispiel eine Agentur die Urlaubsgäste dazu ein, tagsüber unter diplomierter Anleitung zu surfen und sich anschließend in ihr „umweltbewusst gestaltetes Quartier“ zu begeben, das „mit traditionellen Naturstoffen“ renoviert wurde, inklusive Kompostklo und „Homedekor aus Recyclingmate­rial“. Auf den Tisch kommen natürlich nur Lebensmittel aus regionaler Erzeugung und mit kurzen Lieferwegen. Das sei der „schlichte und erhabene Luxus“ eines Lebens „im Einklang mit der Umwelt“.

Im Allgemeinen ist der Tourismus bekanntermaßen das Gegenteil von umweltfreundlich: Im Mittelmeer ist er für 52 Prozent aller Abfälle,3 und im karibischen Inselstaat Dominica sogar für 97 Prozent der Treibhausgase verantwortlich.4 2017 stießen die 47 Schiffe der Carnival Corporation, zu der die Marken Costa Croisières, P&O, Aida Croi­sières, Princess, Cunard Line, Sea­bourn und Holland-America Line ge­hören, zehnmal so viel Schwefeloxide aus wie sämtliche Pkws Europas, obwohl sie noch nicht einmal ein Viertel der europäischen Kreuzfahrtflotte stellen.5

Ob die neuerdings erhobenen Forderungen nach einem „verantwortungs­bewussten“ Tourismus dafür sorgen, dass die soziale Segregation in die nächste Runde geht? Oder werden sie eher zum Anlass genommen, umzudenken und endlich eine globale Freizeitpolitik für den Tourismus zu entwickeln?

Dann dürfte man nämlich die Raumplanung nicht mehr dem Zufall überlassen und müsste die verschiedenen Tourismusformen und Reiseströme aufeinander abstimmen und dafür sorgen, dass der Tourismus seine so­zia­len und ökologischen Aufgaben erfüllen kann. Das Einzige, was es für diese Agenda braucht, ist ein energisch und entschlossen handelnder Staat.

1 Siehe Bertrand Réau, „Les Français et les vacances. Sociologie des offres et pratiques de loisirs“, Paris (­CNRS éditions) 2011.

2 Saskia Cousin und Bertrand Réau, „Sociologie du tourisme“, Paris (La Découverte) 2016.

3 Mauro Randone u. a., „Reviving the economy of the Mediterranean Sea: Actions for a sustainable future“, WWF Mediterranean Marine Initiative, Rom 2017.

4 Daphne Ewing-Chow, „The Environmental impact of caribbean tourism undermines its economic benefit“, Forbes, New York, 26. November 2019.

5 „One corporation to pollute them all. Luxury cruise air emissions in Europe“, Transport & Environment, European Federation for Transport and Environment, Brüssel, Juni 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Bertrand Réau ist Soziologe am Pariser Conservatoire national des arts et métiers (CNAM). Christophe Guibert ist Soziologe an der Fakultät für Tourismus und Hotellerie der Universität Angers. Die Verfasser danken Laure Paganelli für ihre Recherchen.

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von Bertrand Réau und Christophe Guibert