09.07.2020

Trumps Krieg gegen die USA

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Trumps Krieg gegen die USA

Die neue Protestbewegung fordert das weiße Amerika heraus. Der Präsident reagiert autoritär und mit rassistischen Reflexen

von Adam Shatz

Çiğdem Aky, Miami Calling, 2020, Acryl und Öl auf Leinwand, 70 x 60 cm
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Joe Wood wurde zum letzten Mal am 8. ­Juli 1999 auf einer Konferenz von Journalisten of Color in Seattle gesehen. Der damals 34-Jährige war ein brillanter Essayist und scharfer Kritiker des Rassismus, den auch er selbst zu spüren bekam – sogar in den „progressiven“ Kreisen der US-amerikanischen Publizistik.

Bei unserer letzten Begegnung, eine Woche vor Seattle, trug er eine Malcom-X-Kappe und hatte ein zerlesenes Exemplar von William Gaddis’ „Die Fälschung der Welt“ dabei. Am 8. Juli traf er sich zum Frühstück mit Senator Bill Bradley, der ehemalige Basketballprofi galt damals als möglicher Präsidentschaftskandidat der Demokraten. Danach brach der Naturliebhaber zum Mount-Rainier-Nationalpark auf, wo er Vögel beobachten wollte. Er kehrte nie wieder zurück.

Die plausibelste Erklärung ist, dass Joe Wood in eine Schlucht stürzte. Allerdings ist Washington ein sehr weißer US-Bundesstaat. Einige von Joes Freunden und Angehörigen vermuteten hinter seinem Verschwinden ein rassistisch motiviertes Verbrechen. Damals teilte ich diesen Verdacht nicht. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Einer von Joes Freunden erzählte, dieser habe keinerlei Proviant mitgenommen, wollte also offenbar nur ein paar Stunden wegbleiben, „als würde er eben mal in den Central Park gehen“.

Joe Wood kam mir wieder in den Sinn, als ich den Bericht über Christian Cooper las, den schwarzen Birdwatcher, der im New Yorker ­Central Park am Morgen des 25. Mai 2020 – dem Tag, an dem George Floyd in Minneapolis von einem Polizisten getötet wurde – einer weißen Frau und deren Hund über den Weg lief. Im Central Park gibt es „weiße Zonen“, zu denen auch der Ramble, ein unter Vogelbeobachtern beliebtes verwunschenes Wäldchen zählt.

Cooper ist mit seinen 57 Jahren so alt, wie Joe Wood heute wäre. Der Harvard-Absolvent ist Mitglied der Vogelschutzvereinigung und in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Höflich bat er die Frau (die zufällig auch Cooper heißt), ihren Hund an die Leine zu nehmen, wie es die Parkordnung vorschreibt. Amy Cooper weigerte sich und wurde ausfällig; am Ende rief sie die Polizei an. „Hier ist ein afroamerikanischer Mann, der mich bedroht!“, schrie sie in ihr Handy.

„Nichts ist in den Vereinigten Staaten leichter, als einen Schwarzen eines Verbrechens zu beschuldigen“, schrieb der Soziologie und Bürgerrechtler W. E. B. Du Bois bereits 1932 in einem Essay. Dasselbe könnte man allerdings auch heute noch sagen, mehr als 50 Jahre nach dem offiziellen Ende der Segregation nach Hautfarbe.

1989 wurden fünf Teenager aus schwarzen und Latinofamilien zu Unrecht wegen des Überfalls und der Vergewaltigung einer weißen Joggerin im Central Park verurteilt. Die Polizei sprach damals von einer Bande „verwahrloster“ Jugendlicher, und der Unternehmer Donald Trump schaltete in vier New Yorker Zeitungen Anzeigen, in denen er im Staat New York die Wiedereinführung der Todesstrafe forderte. Und obwohl die Angeklagten später in allen Punkten freigesprochen wurden, behauptet Trump immer noch, dass sie schuldig seien.

Auch wenn die Hundebesitzerin Amy Cooper den politisch korrekten Ausdruck „Afroamerikaner“ benutzte, hatte sie doch instinktiv begriffen, dass Christian Cooper bis zum Beweis des Gegenteils bei den Polizisten als schuldig gelten würde. Dabei hatten schwarze Frauen, wie die Bürgerrechtlerin Ida B. Wells 1895 schrieb, „stets sehr viel mehr Gründe, sich in dieser Hinsicht über weiße Männer zu beschweren, als umgekehrt weiße Frauen über Schwarze“. Die Vergewaltigung schwarzer Frauen gehörte zu den Methoden, mit der die weißen Plantagenbesitzer für einen konstanten Nachschub an Sklavenarbeit sorgten. Amy Cooper stützte sich auf das tief im Unterbewusstsein der weißen US-Gesellschaft verwurzelte Klischee vom brutalen schwarzen Vergewaltiger. In diesem Fall ging ihr Kalkül zwar nicht auf: Sie verlor sowohl ihren Job bei einer Investmentgesellschaft als auch ihren Hund. Aber ihr Verhalten zeigt auf drastische Weise, wie das Bild von der zerbrechlichen weißen Frau immer noch gegen schwarze Männer benutzt wird.

Am selben Tag dokumentierte ein erschütternder Vorfall, wie real die Gefährdung schwarzen Lebens in den USA ist, zumal in Zeiten von Corona. Das „Verbrechen“, für das George Floyd sterben musste, bestand darin, dass er beim Zigarettenkauf mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlen wollte (was gar nicht so verwunderlich ist, wenn man bedenkt, dass Floyd einer von 40 Millionen Menschen ist, die seit Beginn der Pandemie in den USA ihren Job verloren ­haben).

In den Innenstädten bewegen sich Polizisten wie in Feindesland

Der weiße Polizist Derek Chauvin, der acht Minuten und 46 Sekunden lang sein Knie auf Floyds Hals drückte, hatte bis dahin schon 17 Beschwerden wegen Fehlverhaltens bekommen und war dreimal an Schießereien der Polizei beteiligt gewesen, von denen eine tödlich endete. Auch die anderen drei Polizisten stürzten sich auf Floyd und schirmten Chauvin ab, während dieser eine Frau, die den Vorfall filmte, wütend anstarrte.

Laut Statistik wendet die Polizei von Minneapolis gegen Schwarze siebenmal häufiger Gewaltmittel an als gegen Weiße. In seinem Brief aus Harlem „Fifth Avenue, Uptown“ beschrieb James Baldwin 1960, wie sich die Polizisten durch die New Yorker Innenstadt bewegen. Der Anblick ließ ihn an einen „Besatzungssoldaten in Feindesland“ denken, der „aus seiner inneren Unsicherheit nur in eine Richtung flüchten kann: in eine Gefühlskälte, die ihm sehr schnell zur zweiten Natur wird. Er stumpft immer mehr ab, die Bevölkerung wird immer feindseliger, was wiederum zum Einsatz von noch mehr Polizisten führt. Und dann wirft jemand ein Streichholz in das Pulverfass, und alles fliegt in die Luft.“ 1

Die von Baldwin beschriebenen Verhaltensmuster gibt es auch im Mordfall George Floyd. Aber etwas ist anders – und dieser Unterschied erklärt, warum sich die Protestwelle nach dem Tod in Minneapolis auf 300 Städte ausgebreitet und fast zu einem Aufstand entwickelt hat. Die Black-Lives-Matter-Bewegung (BLM), die in Barack Obamas Amtszeit nach mehreren Fällen tödlicher Polizeigewalt gegen Schwarze entstand, war noch weitgehend auf die Städte beschränkt, in denen junge Menschen wie ­Trayvon Martin (2012), Michael Brown (2014) oder Freddy Gray (2015) umgebracht worden waren.

Obama schien mit dem Anliegen der BLM-Bewegung zu sympathisieren, aber sein Beitrag beschränkte sich auf ein paar eindrucksvolle Reden. Dagegen fällt der Tod von George Floyd in die Amtszeit eines Präsidenten, dessen Wirken und Auftreten – im Land wie nach außen – von der Idee einer „Vorherrschaft der Weißen“ geprägt ist. Dieser weiße Nationalismus zeigt sich nicht nur, wenn Trump rechtsextreme Demonstranten als „höchst anständige Leute“ in Schutz nimmt oder eine Mauer gegen Migranten aus Mexiko und Zentralamerika errichtet. Sie äußert sich auch in seinen verbalen Ausfällen gegen „shit­hole countries“ und in seiner Entscheidung, die USA – inmitten der Pandemie – aus der WHO ­zurückzuziehen.

Und die Pandemie selbst spielt natürlich auch eine Rolle. Floyd wurde ermordet, als die Zahl der Coronatoten in den USA die 100 000er-Marke überschritten hatte. Ein alarmierender Prozentsatz der Verstorbenen waren People of Color (PoC), vor allem Schwarze, von denen besonders viele unter Vorerkankungen leiden und besonders wenige Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung haben. Covid-19 hat zugleich offenbart, wie wenig schwarze Leben zählen und wie sehr das Land auf die systemrelevanten schwarzen essential workers angewiesen ist, auf all die Krankenpflegerinnen, Paketzusteller und Küchenhilfen, die dem Virus besonders stark ausgesetzt sind.

Die Erkenntnis, dass Covid-19 eine „schwarze Seuche“ ist, wie es die Princeton-Dozentin ­Keeanga-­Yamahtta Taylor formuliert, hat viele Bürgerrechtsaktivisten mobilisiert. Gleichzeitig forderten viele Weiße, den Shutdown zu beenden, vor allem in den US-Bundesstaaten, die traditionell republikanisch wählen.2 Und Trump? Er ermunterte die weißen Demonstranten, die in Michigan – mit Waffen, aber ohne Schutzmasken – das Kapitol besetzten und die „Befreiung“ von den „Stay home“-Anordnungen forderten.

Als in Georgia der Gouverneur Brian Kemp, ein rechter Republikaner, den Lockdown wieder aufhob, brachte die New York Times auf ihrer Titelseite ein aufschlussreiches Foto: Eine Schwarze mit weißer Maske serviert einem weißen Mann ohne Maske den Kaffee. Die Botschaft war, dass sich Weiße von der „schwarzen Seuche“ nur insoweit betroffen fühlen, als sie sicher sein wollen, dass das Bedienungspersonal die nötigen Schutzvorkehrungen einhält.

Ebenso bedeutsam ist, auf welche Weise Floyd getötet wurde. Dabei spielt es fast keine Rolle, ob Chauvin mit Vorsatz gehandelt hat; dem Polizisten war es schlicht egal, ob Floyd lebt oder stirbt. Trump hat Floyd nicht getötet, aber er hat Vorstellungen einer white supremacy beflügelt und die Demütigung der afroamerikanischen Community abgesegnet. Damit ist der Angriff auf Floyd – auf seine Würde wie auf seine Person – zur bislang größten Herausforderung für die Präsidentschaft Donald Trumps geworden.

Im Wahlkampf hatte Trump unter anderem mit seiner Opposition gegen kostspielige Militär­einsätze im Ausland gepunktet. Aber er ist keineswegs Pazifist. Die Innenpolitik betrachtete er schon immer als Kriegsschauplatz: Die Gegner sind Feinde, die einzuschüchtern oder letztlich zu vernichten sind. Nichts bringt Trump mehr in Rage, als wenn er sich von Nichtweißen herausgefordert sieht. Bekanntlich hat er seine Kandidatur beschlossen, nachdem Obama ihn 2011 in seiner Rede beim traditionellen Essen des White House Press Corps veräppelt hatte.

Einige sonderbare Linke empfinden die Aversion Trumps gegen Militäreinsätze im Ausland als tröstlich – als könnte er zum taktischen Verbündeten gegen den US-Imperialismus taugen. Dabei sehen sie über Trumps Drang hinweg, den Krieg im Inneren zu führen. Schon die Wutrede bei seiner Amtseinführung, in der er das „Blutbad“ in den Innenstädten zu beenden gelobte, war eine Kriegserklärung an die progressive urbane Toleranzkultur, wie sie etwa in New York herrscht.

Trumps Ansichten haben sich in der Tat in New York herausgebildet, und zwar im Zuge der teilweise gewaltsamen Aufstände während der Amtszeit der beiden Bürgermeister Ed Koch (1978–1989) und Rudolph Giuliani (1994­–2001). Damals wandten sich vornehmlich weiße ­Arbeiter – aber auch viele weiße „Liberale“ der Mittel­klasse – einer „harten“ Polizeitaktik zu, die sich fast ausschließlich gegen männliche Schwarze und Latinos richtete.

Ein Opfer dieser harten Linie war Abner ­Louima, ein Migrant aus Haiti, der 1997 auf einem Polizeirevier in Brooklyn mit einem Stock vergewaltigt wurde. Loiuma zufolge hatte einer seiner Folterer gesagt: „It’s Giuliani time.“ Heute will Trump eine Art „Giuliani time“ auf nationaler Ebene schaffen, etwa wenn er die Gouverneure und Ordnungskräfte der Bundesstaaten auffordert, die Protestbewegung zu „dominieren“, und deren Teilnehmer als „einheimische Terroristen“ denunziert. Dieser Präsident stilisiert sich als Oberkommandierender im Krieg, etwa wenn er demokratische Gouverneure und Bürgermeister anherrscht, die Nationalgarde entsendet oder ankündigt, er werde die „unbeschränkte Gewalt“ des Militärs gegen US-Bürger einsetzen, falls die Gouverneure nicht für Ordnung sorgen. Trump hat wirklich ein fatales Gespür dafür, Erinnerungen an die schrecklichsten Kapitel der US-Geschichte zu wecken.

So zitierte er in seinem Tweet „When the ­looting starts, the shooting starts“ den Polizeichef von Miami, der 1967 zum angedrohten Schießbefehl gegen Plünderer gesagt hatte: „Wenn man uns Polizeibrutalität vorwirft, macht uns das nichts aus.“ Wenn Trump behauptet, er habe die Quelle des Zitats nicht gekannt, so gilt das nicht für seine Berater. Auch als der Präsident den Demonstranten vor dem Weißen Haus androhte, „bissige Hunde“ auf sie loszulassen, musste jedem Menschen mit auch nur rudimentären historischen Kenntnissen der Bezug klar sein: Die Sklavenhalter aus den Südstaaten ließen ihre kubanischen Bluthunde von der Kette, um geflüchtete Sklaven aufzuspüren.

Zudem verkündete Trump, er werde zur Durchsetzung seiner Law-and-Order-Politik auch das im zweiten Verfassungszusatz verankerte Recht auf Waffenbesitz verteidigen. Damit wollte er seinen weißen Anhängern signalisieren, dass sie zum Schutz ihres Eigentums auch „bewaffnete Selbstverteidigung“ ausüben könnten.

Dass der Präsident mit seinen Reaktionen auf die Proteste autoritäre Absichten verfolgt, ist offensichtlich. Und schwerlich kann sich ein Mann als Garant von Stabilität präsentieren, dessen Politik auf permanente Anstiftung zur Unruhe baut und dessen grobes Missmanagement in der Coronakrise für das eigentliche amerikanische „Blutbad“ verantwortlich ist.

Es ist ihm auch nicht gelungen, den Diskurs von der Polizeibrutalität auf Krawalle und Plünderungen umzulenken. Während die US-Medien den Zusammenhang früher gern übersehen haben, verweisen sie heute zunehmend auf die sozialen Ursachen der Unruhen. Und obwohl die Polizeieinsätze gegen die Protestbewegung in einigen Städten – speziell in Washington – stark zugenommen haben, bekunden viele Polizistinnen und Polizisten auch ihre Solidarität, indem sie vor Demonstrierenden knien.

Mit dieser Geste protestierte erstmals 2016 der Footballprofi Colin Kaepernick gegen Rassismus und Polizeigewalt. Nachdem Trump im darauffolgenden Jahr alle Vereine dazu aufgefordert hatte, Spieler zu feuern, die während der Nationalhymne auf das Knie fallen, war Kaepernick ein neuer Vertrag verweigert worden. Jetzt aber hat der Verband die Ermordung von Floyd und anderen Polizeiopfern offiziell verurteilt.

Noch bedeutsamer ist die Kritik an Trump aus Kreisen des Militärs. So rügte der ehemalige Generalstabschef Mike Mullen den „unnötig aggressiven Einsatz unseres Militärs“ und erklärte, er sei „zutiefst besorgt“, dass Soldaten beim Ausführen von Befehlen „für parteipolitische Zwecke eingespannt werden“ könnten. Die Städte der USA, so Mullen, seien „keine zu beherrschenden,Kampfzonen' und dürfen es nie werden“.3 Auf derselben Linie argumentierte Trumps Ex-Verteidigungsminister James Mattis, der dessen Teile-und-herrsche-Taktik mit der der Nazis verglich. Auch Mattis’ Nachfolger Mark Esper wandte sich gegen den Einsatz des Militärs – und damit gegen seinen obersten Boss.

Im Januar 2017 hatte Trump in einer Rede in der CIA-Zentrale noch getönt, er und das Militär seien „auf derselben Wellenlänge“. Das ist allerdings nicht unbedingt der Fall, wie sich nun herausgestellt hat. Sollte Trump am Ende doch – über die Köpfe der Gouverneure und Bürgermeister hinweg – Soldaten in die Bundesstaaten entsenden, werden einige seiner stärksten Befürworter, die auf die einzelstaatlichen Rechte pochen, sauer auf ihn sein.

Mullens Wortmeldung hat viele in der Einschätzung bestätigt, dass sich bestimmte Insti­tutionen Trumps Androhung nackter Gewalt widersetzen würden. Der „tiefe Staat“ aus Militär und Geheimdiensten, den das „progressive Amerika“ früher stets mit Argwohn betrachtet hat, wird nun unter Trump von vielen als Retter gesehen.

Aber selbst wenn die Innenstädte nicht zu „Kampfzonen“ in Trumps Krieg gegen die Protestbewegung werden sollten, wird hier ein asymmetrischer Kampf zwischen einer militarisierten Polizei und Menschen ausgetragen, für die die Gleichheit vor dem Gesetz aufgrund ihrer Hautfarbe eine Illusion bleibt.

Die Demonstranten glauben nicht mehr an den American Dream

Dieser Konflikt hat seinen Ursprung in den Siedlerkolonien mit ihren „Sklavenpatrouillen“, die es schon im frühen 18. Jahrhundert in South Carolina gab. Diese hatten nicht nur die Aufgabe, geflüchtete Sklaven zu fangen, sie sollten auch mit Terrormethoden mögliche Sklavenaufstände verhindern und eine strenge Arbeitsdisziplin durchsetzen. Damals wurden schwarze Sklaven juristisch als „unfreie Personen“ definiert. Doch in den USA bleibt die Freiheit der Schwarzen – bei allem seitdem erreichten „Fortschritt“, von dem zu reden man nicht müde wird – eine nur bedingte und prekäre Freiheit, zumal im Verständnis der Polizei.

Es ist dieser ältere Kampf gegen brutale Polizeigewalt und diskriminierende, massenhafte Gefängnisstrafen, der in Demonstrationen heute auf die Straßen getragen wird. Bei jener vom 1. Juni in Brooklyn ist der Name Trump gar nicht gefallen, denn die Leute wissen genau, dass er lediglich Symptom einer alten US-amerikanischen Krankheit ist, die auch ein Sieg Bidens kaum kurieren würde. Die Demonstranten riefen: „No ­jus­tice, no peace!“, und dazu die Namen von George Floyd und anderen Opfern polizeilicher Gewalt. Auf ihren Plakaten stand: „I can’t breathe“, „I’m not black, but I will fight for you“, „Prayer to God to stop the virus of racism in America“, und natürlich: „Black lives matter“.

Die meisten Protestierenden sind jung. Sie sind mit den Folgen der Finanzkrise groß geworden und müssen nun ihre durch das Studium entstandenen Kreditschulden abzahlen. Länger als zwei Monate waren sie zu Hause eingeschlossen – als Gefangene einer Pandemie, die die Wirtschaft lahmgelegt hat.

Die Aufstände der 1960er Jahre fielen dagegen in eine Zeit, als die Arbeitslosenquote in den USA auf einen historischen Tiefstand gefallen war und die jungen Schwarzen in den Slums von Watts und Detroit das Gefühl hatten, dass ihnen die Teilhabe am American Dream vorenthalten wurde.

Die Protestierenden von heute glauben nicht mehr an diesen Traum. Ihr Gefühl, einen Anspruch auf Teilhabe zu haben, wird durch die vielen, die ihren Wohlstand erheblich gemehrt haben, stets aufs Neue verhöhnt. Und obwohl ihnen vorgeworfen wird, die Identitätsfrage ernster zu nehmen als die soziale Frage, verstehen sie viel besser als frühere Generationen, dass der Rassismus in ein System von Institutionen eingebettet ist; also eine Klassenfrage und nicht eine Sache von persönlichem Hass, von Vorurteilen und „Unwissenheit“. Solange sich daran nichts ändert, wird die US-amerikanische Demokratie für Schwarze und PoC ein Raum der Ungleichheit und der Unsicherheit bleiben.

Es sind die Kinder des „großen Erwachens“ (Matthew Yglesias), das allerdings die jungen Weißen stärker zu prägen scheint als ihre schwarzen Altersgenossen. Diese sehen in ihren weißen Mitstreitern eher Verbündete als Genossen oder Brüder und Schwestern wie noch zu Zeiten ­Martin Luther Kings. Es hat den Anschein, als ob das Misstrauen zwischen schwarzen und weißen Aktivisten weniger bekämpft als vielmehr institutionalisiert wird.

Am 1. Juni sah ich eine Gruppe junger Weißer in einer von schwarzen Aktivisten geleiteten Zeremonie feierlich auf ihre Privilegien verzichten. Doch solche Gesten besagen nicht viel, denn es sind die repressiven Verhältnisse, die den Rassismus hervorbringen, und nicht etwa umgekehrt. „Menschen werden eher als von Natur aus minderwertig wahrgenommen, wenn man sie schon als unterdrückt betrachtet“, vermerkt die afroamerikanische Historikerin ­Barbara ­Jeanne Fields. Ohne einen radikalen Wandel der politischen und ökonomischen Strukturen muss die Selbstreinigung weißer Seelen folgenlos bleiben.

Es ist einfach, sich über solch rituelle weiße Bußfertigkeit zu mokieren, die naiv bis narzisstisch anmutet, oder das Fehlen einer umfassenden politischen Ideologie und Programmatik zu bedauern. Die Protestbewegung bietet in der Tat das Bild einer unausgegorenen Mischung aus Marxismus, Antikolonialismus, Black-Power-Rhetorik, intersektionalem Feminismus, radikaler Selbstbezüglichkeit und – wir sind schließlich in den USA – Berufung auf Jesus Christus und andere Propheten.

Aber unter dem aktuellen Primat des Handelns muss diese Protestbewegung ihre ­Ideen und ihre Pläne auf den Straßen entwickeln, und das ohne jene charismatischen Anführer, die die Bürgerrechtskämpfe der 1950er und 1960er Jahre prägten. Die heutigen De­mons­tran­ten verdienen Anerkennung dafür, dass sie etwas begreifen, das ihre Vorläufer noch nicht sahen und schon gar nicht die progressiven Verfechter „humanitärer Interventionen“ im Nahen und Mittleren Osten sehen: dass die USA mit der Verwirklichung der Menschenrechte, die sie nach außen predigen, zu Hause beginnen sollten. Und dass das Bemühen, demokratische Prinzipien zu exportieren, die in unseren eigenen Städten schwerlich eingehalten werden, eine moralische Ausflucht ist.

Es ist der Beharrlichkeit dieser Bewegung zu verdanken, dass der Polizist Derek Chauvin inzwischen wegen Totschlags angeklagt ist (was ihm 40 Jahre Gefängnis einbringen kann); und dass Anfang Juni auch seine drei Polizeikollegen angeklagt wurden. Zudem haben die Demonstrationen den wie immer zögerlichen Barack Obama zu einer – rhetorisch ausgesprochen uninspirierten – Stellungnahme gezwungen. Obamas Lob für die Demonstrierenden und sein verhaltener Ruf nach Polizeireformen klang so unzeitgemäß wie die Stimme eines wohlmeinenden Vaters, dessen Kinder längst erwachsen sind.

Was wir nach dem Mord von Minneapolis erleben, ist weniger eine Bewegung als eine Protestwelle. Die Forderungen sind zwar dieselben, für die frühere schwarze Aktivisten gekämpft haben, aber die spontanen Aktionsformen erinnern mehr an Occupy Wall Street oder die Gelbwesten in Frankreich als an die Ära von Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Die einen Demonstranten fordern eine Reform des Gefängnissystems und die totale Abrüstung der Polizei, andere die Abschaffung der Gefängnisse und die Umschichtung der Ausgaben für die Polizei zur Finanzierung von Sozialprogrammen. Die einen wollen das System verändern, die anderen wollen es zerschlagen.

Die Demonstranten von heute wollen, im Gegensatz zu fast allen Rebellionen von Schwarzen in den späten 1960er Jahren, ihren Protest in weiße Viertel tragen.4 Dabei wurden auch die Zentralen von CNN und dem Kaufhauskonzern Macy’s angegriffen. Doch gingen einige der härtesten Aktionen und Plünderungen offenbar nicht von Schwarzen aus, sondern von weißen Splittergruppen, die auf ihre Weise ein Spiegelbild der nihilistischen „Trumpworld“ darstellen. Wohingegen zu den schärfsten Kritikern solcher Aktionen der politisch engagierte Rapper Killer Mike und Terrence Floyd, der Bruder des Ermordeten, gehörten, die damit ihre Community schützen wollen.

Auch einige ältere Leitfiguren des progressiven Lagers reagierten erschrocken auf diese Vorkommnisse, weil sie fürchten, dass sie Trump bei den Wahlen im November in die Hände spielen. Wobei allerdings die Gewalt aufseiten der Demonstranten weit hinter der Polizeigewalt – mit Elektroschockwaffen, Tränengas und Gummigeschossen – zurückbleibt.

Tatsächlich haben die Protestierenden dringlichere Sorgen als die Wahlen im November. Und bereits jetzt haben sie mit ihrer überwiegend gewaltfrei praktizierten Militanz ihr erstes Ziel erreicht: dass die Killer angeklagt wurden und dass George Floyd nicht in Vergessenheit gerät. Und zwar auch jenseits der USA, denn sein Name ist längst zu einem internationalen Symbol geworden und steht für alle Opfer rassistisch motivierter Ungerechtigkeit.

Was Trump betrifft, so lässt ihn die weltweite Empörung über den Mord in Minneapolis völlig kalt. Er will das Land ohnehin vom Rest der Welt absondern und zieht sich mehr und mehr in seine Fantasiewelt eines bewaffneten weißen Amerikas zurück. Damit setzen die USA allerdings ihre internationale Legitimität aufs Spiel. Denn die Demonstranten bringen nicht nur die Polizei, sondern die ganze Nation vor ihr Tribunal. Sie kämpfen damit gleichermaßen für strukturelle Veränderungen wie für das, was Martin Luther King 1967 in seiner Rede gegen den Vietnamkrieg eine „Revolution der Werte“ nannte.

1 James Baldwin, „Fifth Avenue, Uptown“, Esquire, 1. Juli 1960.

2 Siehe Maxime Robin, „Texas, das Virus und die Waffen“, LMd, ­Juni 2020. Trotz der massiv steigenden Infektionszahlen kündigte Gouverneur Abbott Anfang Juli weitere Lockerungen an.

3 Mike Mullen, „I cannot remain silent“, The Atlantic, 2. Juni 2020.

4 Der Hauptgrund für diese veränderte „Geografie des Protests“ ist die Tatsache, dass die ethnische Separation in den Geschäftsvierteln der USA – ganz im Gegensatz zu den Schulen – weitestgehend aufgehoben ist.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Adam Shatz ist Redakteur und Autor bei der London Review of Books.

© LRB; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.07.2020, von Adam Shatz