07.05.2020

Schwedens umstrittene Freiheit

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Schwedens umstrittene Freiheit

Die Konsenskultur gerät in der Corona-Pandemie unter Druck

von Violette Goarant

Skaten in Stockholm, 26. April 2020 JESSICA GOW/picture alliance
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Gehen Sie raus und nutzen Sie Ihre öffentlichen Parks!“ Das Plakat der Stadtverwaltung, das in Stockholms Straßen den Frühlingsbeginn verkündet, würde anderswo wohl als Provokation aufgefasst, angesichts der Ausgangssperren, von denen mehr als 4 Milliarden Menschen weltweit betroffen sind. Doch die zentral gelegene U-Bahn-­Station Abrahamsberg ist an diesem Tag Ende März zur Stoßverkehrszeit nahezu menschenleer.

Überhaupt ist die Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel in Stockholm im März um zwei Drittel zurückgegangen, obwohl fast alles wie gewohnt funktioniert. Auf der Anzeigentafel, die in roten Leuchtbuchstaben die Ankunft der nächsten U-Bahn anzeigt, läuft in Dauerschleife die aktuelle Empfehlung: „Fahren Sie nur, wenn es unbedingt nötig ist.“ Gegenüber hält ein Bus. Der Fahrer, der blaue Plastikhandschuhe trägt, verweist die wenigen Fahrgäste auf die hintere Tür. Er mustert sie im Rückspiegel, die Reihe hinter seinem Sitz ist abgesperrt.

Die schwedische Hauptstadt hat ihren Puls verlangsamt, um gemäß den Ratschlägen der Nationalen Schwedischen Gesundheitsbehörde die Ausbreitung des Coronavirus zu bremsen. Seit dem 29. März sind alle Versammlungen von mehr als 50 Personen verboten. Die Arbeit im Homeoffice und häusliches Lernen für Schülerinnen und Schüler sowie Studierende „wird empfohlen“.

Institutionen mit Publikumsverkehr wie Schulen, Bibliotheken und Sportstätten bleiben aber weiterhin geöffnet. Restaurants, Cafés und Bars müssen über ausreichend Abstand und einen Sitzplatz für jeden Kunden verfügen, bei Verstößen werden Sanktionen verhängt. Doch grundsätzlich ist jeder selbst verantwortlich für sein Risiko einer möglichen Ansteckung oder bei der Übertragung des Coronavirus.

Am 1. April erinnerte die Gesundheits- und Sozialministerin nochmals an die offizielle Empfehlung: „Halten Sie Abstand und verhalten Sie sich verantwortlich.“ Dieses Prinzip war auch vor der Krise bereits so fest in der schwedischen Gesellschaft verankert, dass man selbst bei einem kleinen Schnupfen aus Höflichkeit eine Einladung zum Abendessen absagte und lieber von zu Hause aus arbeitete.

Die Schweden sind es zudem gewohnt, in öffentlichen Verkehrsmitteln und Räumen Abstand zu wahren. Homeoffice gehört zur Unternehmenskultur. 90 Prozent aller Bürger sind Tag für Tag im Internet unterwegs, ohnehin ist ganz Schweden auf dem Weg zur ungebremsten und umfassenden Digitalisierung, so dass sich die offi­ziel­len Empfehlungen schnell verbreitet haben und anonymisierte Bewegungsdaten leicht von der Gesundheitsbehörde verfolgt werden können.1 Das Internet trägt dazu bei, dass jeder für sich bleibt, sei es in der Freizeit, sei es beim Einkauf oder bei Behördenkontakten: Alles kann online erledigt werden. Was zu normalen Zeiten vielleicht als pro­ble­matisch für die Gesundheit gegolten hätte, erweist sich dieser Tage als eher zuträglich.

Die Schweden, die großes Vertrauen in ihre staatlichen Institutionen setzen, unterstützen das Vorgehen ihrer Regierung. Es soll keine allgemeine Ausgangssperre geben, denn das wäre gegen die Verfassung, die jedem schwedischen Bürger das Recht zusichert, „sich innerhalb des Staatsgebiets frei zu bewegen oder es zu verlassen“.

„Wir müssen unbedingt an die Zukunft denken: Dann werden wir zurückschauen und analysieren, ob wir unsere grundlegenden Freiheitsrechte, die uns so wichtig sind, bewahren konnten“, sagt Titti Mattson, Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Lund.2 Im Gegensatz zu den skandinavischen Nachbarstaaten, die Schulen und Grenzen geschlossen haben, verfügt Schweden über keine gesetzliche Regelung, mit der in Friedenszeiten ein Ausnahmezustand verhängt werden könnte.

Trotzdem unternimmt die Regierung einiges seit Februar. Nachdem internationale Wissenschaftler in der Zeitschrift Science bestätigt hatten, dass es sich bei der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus um eine Pandemie handle, geben nahezu täglich Experten des medizinischen Zivilschutzes und der sozialen Dienste über die Kanäle der Gesundheitsbehörde Erklärungen ab. Auch der sozialdemokratische Premierminister Stefan Löfven ist regelmäßig dabei; er lässt sich ständig von Wissenschaftlern beraten und stimmt sich mit den Vorsitzenden aller politischen Parteien ab.

Risikogruppen wie über 70-Jährige oder Menschen mit chronischen Atemwegsproblemen wurden aufgefordert, ihre sozialen Kontakte einzuschränken und sich viel im Freien aufzuhalten. Freiwillige Helfer übernahmen den Einkauf für sie. Der Besuch von Angehörigen in Senioren- und Pflegeheimen ist seit Anfang April verboten.

Anfang März wurde eine nationale Arbeitsgruppe zum Kampf gegen die Pandemie einberufen, und man begann mit den Tests. Auch wenn in Schweden mehr Bürger (95 von 10 000 Einwohnern) auf das Virus getestet wurden als beispielsweise in Frankreich, waren es sehr viel weniger als in Deutschland und den anderen skandinavischen Ländern, vor allem in Island, wo bis Mitte April bereits jeder zehnte Einwohner getestet worden war.

Im Lauf der folgenden Wochen brachte man Plexiglasscheiben vor den Supermarktkassen an und markierte Wartezonen am Boden und in den Gängen. Desinfektionsmittel, Toilettenpapier, Reis und Hefe waren wie andernorts ausverkauft. Kulturveranstaltungen wurden abgesagt, viele fanden stattdessen im Netz statt. Wer beim Spaziergang am See auch nur einmal hustete, zog alle Blicke auf sich. Die Stockholmer, die gewöhnlich am Samstagabend nach Eingang des Monatsgehalts feiern gehen, blieben zu Hause.

Seit Anfang März verloren etwa 60 000 Beschäftigte ihre Arbeit, etwa 100 000 befinden sich in Kurzarbeit. Das ist der stärkste Anstieg seit 1992 innerhalb einer so kurzen Zeitspanne. Die Regierung schätzt, dass die Arbeitslosenquote in diesem Jahr von 6,8 auf 9 oder sogar 13 Prozent klettern könnte.

Schweden ist also beileibe kein Paradies, wo alles in sicheren und geordneten Bahnen läuft. „Das Land ist schlecht vorbereitet“, erklärte Stefan Löfven. „Die strategischen Reserven wurden seit Ende des Kalten Kriegs allmählich abgebaut.“ Das schwedische Gesundheitssystem erhält jetzt die Quittung für dreißig Jahre Sparpolitik und schleichende Privatisierung: Es gibt nur noch 2,2 Krankenhausbetten pro 1000 Einwohner4 , das ist ein Viertel der deutschen und ein Sechstel der japanischen Kapazitäten.

In Krankenhäusern, Ärztezentren und Seniorenheimen fehlt es an medizinischer Ausrüstung und ausgebildetem Personal. Wie in ganz Europa verfolgt man auch hier die Strategie, die Krankenhäuser nicht zu überlasten, und lässt Armee und Zivilschutz Feldlazarette errichten – das Lazarett in Stockholm wurde bis Mitte April allerdings noch nicht genutzt.

Inzwischen haben sich mehrere kritische Stimmen zu Wort gemeldet, die unter Berufung auf die Zahlen der skandinavischen Nachbarn eine Ausgangssperre im Land fordern. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl gab es in Schweden bis zum 20. April doppelt so viele Corona-Tote wie in Dänemark und zehnmal so viele wie in Finnland. Stand 24. April sind es dreimal so viele wie in Deutschland. Allerdings werden in Schweden sämtliche Todesfälle gezählt – in Pflegeheimen, in Krankenhäusern und zu Hause. Die norwegischen Behörden haben eingeräumt, dass sie bei derselben Art der Zählung vermutlich mehr Todesfälle verzeichnen müssten. Seit dem 10. April sinkt jedoch die Zahl der Neuinfektionen in Schweden deutlich, ebenso wie die Zahl der Intensivpatienten.5

„Nein, Schweden verfolgt keine Strategie einer Herdenimmunität“, erklärte Chefepidemiologe Anders Tegnell bei der Pressekonferenz der Gesundheitsbehörde am 4. April auf die Frage, warum die Infektionszahlen in Schweden höher ausfielen als in den Nachbarländern. Tegnell führte dies auf eine zeitliche Verschiebung zurück, erklärte jedoch einer Reporterin des finnischen Fernsehens: „Ich glaube, dass alle Länder auf Herdenimmunität hoffen. Denn erst wenn viele Menschen immun sind, wird die Ansteckungsrate von allein dauerhaft zurückgehen.“6

Verwirrung entstand um einen gravierenden Rechenfehler der Gesundheitsbehörde, die in Studien davon ausging, dass auf jeden getesteten Infizierten 1000 unerkannte Infizierte kämen. Diese Zahl wurde nun auf 75 korrigiert.7

Langfristig gerät die schwedische Konsenskultur unter Druck. Zum ersten Mal in der Geschichte Schwedens hat eine Regierung – die aus Sozialdemokraten und Grünen bestehende Minderheitsregierung, die von der Linkspartei unterstützt wird – für drei Monate erweiterte Machtbefugnisse erhalten.

Seit dem 18. April kann sie per Dekret regieren, um den Alltag in der Corona-Pandemie zu meistern. Das Parlament vermag deren Entscheidungen nur im Nachhinein zu kontrollieren. Diese Befugnisse bedeuten jedoch keineswegs, dass die Regierung nun allmächtig ist: „Man kann keine Gesetze gegen ein Virus erlassen“, sagt Stefan Löfven, der weiterhin an den „Gemeinsinn“ der Bürger appelliert. „Die Krise wird lang anhalten, es wird hart.“ Seit Anfang April ist das Plakat „Gehen Sie raus und nutzen Sie Ihre öffentlichen Parks!“ aus dem Straßenbild verschwunden.

1 „Folkhälsomyndigheten tar hjälp av mobildata“, Website der schwedischen Gesundheitsbehörde, 8. April 2020.

2 „Därför kan Sverige inte utfärda utegångsförbud“, SVT Nyheter, Stockholm, 2. April 2020.

3 Svenska Dagbladet, Stockholm, 15. April 2020.

4 OECD-Statistik für 2018.

5 Offizielle Statistik der schwedischen Gesundheitsbehörde.

6 Yle, Helsinki, 4. April 2020.

7 Kai Strittmatter, „Verwirrende Variablen“, Süddeutsche Zeitung, 23. April 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Violette Goarant lebt als Journalistin in Stockholm.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Violette Goarant