07.05.2020

Eine andere Wirtschafts­ordnung ist möglich

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Eine andere Wirtschafts­ordnung ist möglich

von Lori M. Wallach

Jan De Vliegher, Hofburg 3, 2011, Öl auf Leinwand, 45 x 60 cm
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Beendet die Coronapandemie die Ära des ungebremsten Freihandels? Ist dieses auf den Privatsektor zugeschnittene Wirtschaftssystem, das seit Jahren weltweit enorme soziale und ökologische Kosten verursacht hat, ein Auslaufmodell? Einflussreiche Interessengruppen wehren sich dagegen und rufen nach einem „Krisenkapitalismus“, der schon heute sicherstellen soll, dass nach der Pandemie alles wieder seinen gewohnten Gang nimmt. Vielen Politikern fehlt es an Mut oder der notwendigen Vorstellungskraft, sich für eine Transformation einzusetzen – oder sie stellen sich direkt in den Dienst der Konzerne.

Dennoch sprechen vier gewichtige Gründe dafür, dass die Coronakrise eine einmalige Chance sein könnte. Vielleicht ist das jetzt der Moment für eine positive Umkehrung jener „Schock-Strategie“, vor der die kanadische Glo­ba­lisie­rungs­kritikerin Naomi Klein warnt1 und auf die in Krisenzeiten die Mächtigen stets gesetzt haben, um die Welt nach ihrem Gusto zu gestalten.

Erster Hoffnungsschimmer: Durch die Pandemie haben die meisten Menschen in den Industrieländern am eigenen Leib erfahren, dass für ihre Schmerzen und Ängste die Globalisierung der Neoliberalen mitverantwortlich ist. In einer auf den Nutzen der multinationalen Konzerne getrimmten Welt sind selbst die reichsten Länder nicht in der Lage, genügend Be­atmungs­geräte, Masken und medizinische Ausrüstung zur Behandlung der Erkrankten und zum Schutz des medizinischen Personals zu beschaffen. Der Ausfall der Produktion in einem einzigen Land hat in einer Kettenreaktion die medizinischen und wirtschaftlichen Systeme auf dem gesamten Globus lahmgelegt. Dies vergrößert die Leidensbilanz des Sars-CoV-2-Virus.

Viele lebensnotwendige Güter werden heute in nur einem Land oder allenfalls zwei Ländern hergestellt, der allergrößte Teil in China. Und es ist äußerst schwierig, die Produktion woanders hochzufahren. Unternehmen, die in die Bresche springen möchten, können sich die nötigen Rohstoffe, Komponenten und Produktionsmittel nicht beschaffen. Das verhindern die globalisierten ausgedünnten Lieferketten, die keinerlei Flexibilität zulassen. Ein Beispiel: Die meisten der rund 100 in einem Be­atmungs­gerät verbauten Einzelteile werden nicht in den Ländern produziert, in denen die Geräte montiert werden. Und 90 Prozent aller zur Medikamentenherstellung benötigten Wirkstoffe werden in nur zwei Ländern hergestellt.

Wichtige Kapazitätsreserven wurden dem „Gott der Effizienz“ geopfert, der auf dem Freihandelsolymp thront. So kommt die gesamte Produktionskette zum Erliegen, wenn auch nur eines ihrer zahllosen Glieder – eine Firma in irgendeiner Ecke der Welt – versagt. Wenn in einem Land die Belegschaften erkranken, wenn zur Eindämmung des Virus Kontaktsperren verordnet werden oder wenn Regierungen die potenzielle Versorgung der eigenen Bevölkerung priorisieren, können anderswo lebenswichtige Güter schnell knapp werden. In der aktuellen Krise erleben viele Menschen zum ersten Mal die katas­trophalen Auswirkungen der Hyperglobalisierung, die Millionen von Arbeiterinnen und Kleinbauern bereits seit Jahrzehnten am eigenen Leib erfahren.

Der Frosch im Kochtopf hat nicht gemerkt, wie das Wasser langsam heißer wurde. Es bedurfte einer plötzlichen Katastrophe, um all jene aufzurütteln, die sich bisher noch nicht bedroht fühlten. Selbst die Verfechter des Freihandels, die nicht müde wurden, die Segnungen der neoliberalen Globalisierung zu rühmen, räumen nun ein, dass der Bogen vielleicht etwas überspannt wurde und dass ein Produk­tions­modell, das die Möglichkeiten vor Ort nutzt, etliche Vorteile bieten könnte. Zahlreiche Artikel im Economist oder in der Financial Times, die bislang immer das Lob des Marktes singen, bezeugen diese Kehrtwende.

Zweiter Hoffnungsschimmer: Die Fesseln des „Sachzwangs“ sind aufgesprengt. Keine Regierung behauptet mehr, dass die erforderlichen Maßnahmen nicht ergriffen werden könnten, weil sie „bedauerlicherweise“ gegen die Regeln der großen internationalen Handelsorganisationen verstießen. Die Bedrohung durch Covid-19 zwingt die Regierungen dazu, die Grundprinzi­pien des Neoliberalismus ad acta zu legen. Ein schnelles „Zurück auf Los“ ist kaum vorstellbar, weil die Pandemie den Regierungen eine neue Rolle aufzwingt.

Viele Länder zahlen nun einen hohen Preis dafür, dass sie den Schutz ihrer Bevölkerung vorsätzlich vernachlässigt haben. Anstatt sich ihr weiteres Vorgehen von den Multis diktieren zu lassen, entsprechen einige nun endlich dem Wählerwillen: Sie intervenieren da, wo es nötig ist, um den Bedürfnissen der Bevölkerung Rechnung zu tragen.

Während eines Seminars der Washington International Trade Associa­tion (Wita) am 9. April 2020 überraschte Sabine Weyand, die deutsche Leiterin der Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission, ihr Publikum mit folgenden Worten „Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass man im Auge des Sturms die Verteilung knapper Ressourcen nicht allein dem Markt überlassen kann. Wir müssen diese in den Gesundheitssektor lenken und dürfen nicht zulassen, dass Spekulanten alles an sich reißen, was sie bekommen können.“

Gleichwohl will auch Weyand so schnell wie möglich zum business as usual zurück. Derweil prescht der irische EU-Handelskommissar Phil Hogan schon voran: Er will Verhandlungen zur Abschaffung aller Handels­beschränkungen für medizinische Geräte initiieren. Und zwar, um sicherzustellen, „dass die globalen Produk­tions­ketten in diesem kritischen Bereich ungehindert funktionieren“, wie er am 16. April 2020 in einem informellen Video­meeting mit den EU-Handelsministern erklärte.2 Hogan und die Jünger der Globalisierung sind entschieden gegen die Rückverlagerung von Produktionskapazitäten, die sie als unsinniges „Autarkiestreben“ verunglimpfen.

Es geht aber nicht darum, zwischen Globalisierung und Autarkie zu entscheiden. Es gilt einfach anzuerkennen, was viele Menschen mittlerweile verstanden haben: dass ihr Land unter der Fahne des Freihandels nicht in der Lage war, sie zu beschützen. Diese Lehre werden sie nicht vergessen. Entsprechend hohl klingen inzwischen die Loblieder auf die Vorzüge des just in time und der „maximalen Effizienz zu aller Nutzen“. Alle haben verstanden, dass dieses System der Gewinnmaximierung zu Lasten der Gesundheit, der Gerechtigkeit und sogar der nationalen Sicherheit geht.

Dass sich etwas geändert hat, zeigt auch die Erklärung der G20-Handelsminister vom 30. März 2020. Da heißt es, dass die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie als zulässige Ausnahmen von den WTO-Regeln betrachtet werden können. Neuerdings gibt es demnach viele Maßnahmen, die dem Geist der WTO widersprechen. Daran lässt sich erkennen, wie sehr diese Organisation die öffentliche Hand der einzelnen Länder daran hindert, die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung zu erfüllen.

Dritter Hoffnungsschimmer: In der Frage des Freihandels hat die Krise die politischen Fronten insbesondere in den USA verschoben. Der Gegensatz zwischen rechts und links wird abgelöst durch eine Konfrontation zwischen Populisten aller Couleur und Big Business. Bernie Sanders bekennt sich zum demokratischen Sozialismus, und Eli­zabeth Warren vertritt linkskeynesianische Positionen, aber beide sind progressive Populisten, weil sie ein Globalisierungsregime beenden ­wollen, das von den Großkonzernen betrieben wird.

Politische Forderungen, die sie und andere progressive Demokraten seit Langem formulieren, vertreten mittlerweile auch konservative Republikaner wie der junge Senator Josh Hawley, der bislang vor allem als Anwalt der Kirche in Erscheinung getreten ist: „Diese Pandemie hat gezeigt, dass in unseren Lieferketten eine Lücke von der Größe des Grand Canyons klafft. Einige lebenswichtige Produkte werden nicht mehr auf amerikanischem Boden gefertigt. Das bedroht unsere Gesundheit, unsere nationale Sicherheit und unsere Wirtschaft. Die Amerikaner kennen das Problem seit Langem, während es Washington langsam dämmert. Und die Wall Street hat gehofft, nicht auf frischer Tat ertappt zu werden.“3

Vierter Hoffnungsschimmer: Die Mythen über die beste aller Wirtschaftsordnungen und die Rolle Chinas als Werkbank der Welt werden immer stärker hinterfragt. Ein Beispiel für diesen Sinneswandel ist die jüngste Ankündigung Tokios, japanische Konzerne mit einem 2 Milliarden US-Dollar schweren Programm beim Rückzug aus China zu unterstützen.4 Vor der Pandemie suchten viele Länder nach einer Möglichkeit, um durch eine Ausweitung ihrer Forschungs- und Produktionskapazitäten den Masterplan „­Made in China 2025“ zu durchkreuzen. Der Plan soll Peking zur Dominanz in den Zukunftstechnologien (künstliche Intelligenz, Ökofahrzeuge, Luft- und Raumfahrt, Medizintechnik und so weiter) verhelfen.

Chinas Bemühungen, eine Art Hightech-Autokratie zu errichten, und sein von manchen als „Innovationsmerkantilismus“5 bezeichnetes Wirtschaftssystem werden zunehmend mit Sorge verfolgt. Dasselbe gilt für die Aufrüstung der chinesischen Armee, die durch den enormen Außenhandelsüberschuss finanziert wird. All das hat dazu geführt, dass die politischen Führungen und die Sicherheitsorgane zahlreicher Staaten ihre Außenpolitik gegenüber China grundlegend geändert haben.

Diese vier Faktoren könnten dazu führen, dass die Coronakrise den Debatten um die Organisation der Weltwirtschaft eine neue Dynamik verleiht. Und das just zu einer Zeit, in der die Frage, wer was wo und wie produziert, über Leben und Tod entscheiden kann.

Wenn wir die Krise zu positiven Veränderungen nutzen, haben wir die Chance, auf lokaler, nationaler und regionaler Ebene stärkere Wirtschaftsstrukturen zu schaffen. Sie sollten so konzipiert sein, dass verschiedene Akteure die Chance erhalten, lebenswichtige Güter und Dienstleistungen zu erschwinglichen Preisen herzustellen.

Weitere Schwerpunkte müssen dabei die Schaffung regulärer Arbeitsplätze, die Förderung einer lokalen Landwirtschaft und der Schutz der Umwelt sein. Genau diese Veränderungen sind natürlich auch für die Abwendung der Klimakrise unabdingbar.

Mitte der 1990er Jahre war in den Statuten über den internationalen Handel noch festgeschrieben, dass Nahrungsmittel nicht als gewöhnliche Waren zu behandeln seien. Mit gutem Grund, denn jeder Mensch braucht Nahrung zum Überleben. Daher forderten die Staaten einen Handlungsspielraum bei der Festlegung von Maßnahmen, um die Versorgung ihrer Bevölkerungen zu garantieren. Dazu zählen die Vorratshaltung und die Subvention bestimmter Produktionsprozesse.

Diese Logik gilt noch immer und müsste auf andere Schlüsselsektoren wie die Pharmaindustrie im Hinblick auf Medikamente und lebenserhaltende medizinische Geräte ausgeweitet werden. In diesen Bereichen könnten Lücken in den nationalen und regionalen Produktionsketten manche Länder in eine äußerst prekäre Lage bringen.

Die Instrumente staatlicher Indus­triepolitik sind wohl bekannt. Sie stehen fast überall in schlechtem Ruf – außer in China, wo sie große Erfolge gefeiert haben. Zu diesen Instrumenten gehören etwa fiskalpolitische Maßnahmen zur Unterstützung inländischer Produktion und umweltfreundlicher Branchen (statt der Verlagerung von Produktionsstandorten) oder auch Auflagen für den Finanzsektor im Sinne der Förderung produktiver Investitionen und der Verhinderung von Spekulation. Desgleichen Maßnahmen zum Schutz national und regional spezifischer Produkte und öffentliche Aufträge für den Aufbau lokaler Produktionsketten, oder auch geistige Eigentumsrechte, die den Zugang zu preisgünstigen Medikamenten und Technologien eröffnen und gleichzeitig Innovationen vorantreiben. Und viele weitere Ideen etwa zur Förderung der Forschung oder zur Aus- und Weiterbildung von Arbeitern und Lehrlingen. Ob aus solchen Ideen etwas wird, hängt jedoch letztlich vom politischen Willen ab.

1 Naomi Klein, „Die Schock-Strategie“, Frankfurt am Main (Fischer) 2007.

2 www.ec.europa.eu/commission/com­mis­sioners/­2019-­2024/­hogan/announcements/introductory-statement-commissioner-phil-hogan-informal-meeting-eu-trade-ministers_en.

3 www.hawley.senate.gov/sites/default/files/2020-04/Getting-America-Back-to-Work_0.pdf.

4 Kenneth Rapoza, „Japan ditches China in multi-billion dollar coronavirus shakeout“, Forbes, New York, 9. April 2020.

5 Robert D. Atkinson, „The case for a national industrial strategy to counter China’s technological rise“, Website der Information Technology & Innovation Foun­da­tion, 13. April 2020.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Lori Wallach ist Anwältin in den USA und leitet die Abteilung Global Trade Watch innerhalb der weltweit größten gemeinnützigen Verbraucherschutzorganisation Public Citizen.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Lori M. Wallach