07.05.2020

Damaskus – Fragmente einer Stadt

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Damaskus – Fragmente einer Stadt

von anonym

Damaskus vor fünfzig Jahren akg-images/sputnik
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Über Damaskus sind heute so viele Klischees im Umlauf, dass für die tatsächlichen Bewohner gar kein Platz mehr zu bleiben scheint. Außenstehende stellen sich häufig eine Stadt in Trümmern vor, die von den Verheerungen des Krieges heimgesucht wurde wie viele andere Orte in Syrien. Einige machen Damaskus auch zum Objekt ihrer Nostalgie mit Bildern von engen Gassen und eleganten alten Häusern, deren Innenhöfe von Jasminduft erfüllt sind. Wieder andere sehen nur die Luxusrestaurants und das lebhafte Nachtleben, woraus sie schließen, dass Syrien schon wieder zur Normalität zurückgekehrt sei.

Doch die meisten Menschen, die wie ich in Damaskus geblieben sind, können mit derartig verzerrten Darstellungen nichts anfangen. Wir sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Schocks zu verarbeiten, die unsere Stadt fast täglich aufs Neue verändern.

Damaskus als eine der ältesten ununterbrochen bewohnten Städte der Welt hat im Laufe vieler Jahrhunderte freilich schon unzählige Veränderungen erlebt. Doch die heutigen Damaszener empfinden die Dimensionen und das Tempo des Wandels als ebenso beispiellos wie unumkehrbar. Gerade weil wir gezwungen sind, uns ständig aufs Neue anzupassen, klammern wir uns an alle beständigen Dinge, die uns die Stadt noch zu bieten hat. Und doch: Wie können wir, die wir Damaskus immer noch unser Zuhause nennen, uns einem Ort verbunden fühlen, den wir nicht mehr wiedererkennen?

Die Stadt zeichnete sich jahrhundertelang durch die Fähigkeit aus, Neuankömmlinge aufzunehmen. Damaskus entstand vor mehr als 4000 Jahren als eine Oase, deren Grenzen von der Natur vorgegeben waren: Im Westen erhob sich der kahle Bergzug, der das heutige Syrien vom Liba­non trennt; weiter im Osten lag die unfruchtbare Badia-Wüste, die sich bis zur irakischen Grenze erstreckt. Die ursprüngliche Siedlung am Fuß des Bergs Dschabal Qasyun wuchs mit der Zeit in Richtung Süden und Osten in eine halbkreisförmige fruchtbare Zone hinein, die man die Ghuta nennt.

Diese geografische Lage machte Damaskus zu einem Umschlagplatz für den Handel zwischen Ostasien und dem Mittelmeerraum. Die Stadt bewahrte diese Rolle durch ihre ganze Geschichte hindurch. Nur so konnte sie als Zentrum einer Zivilisation überdauern, obwohl sie immer wieder von anderen Reichen erobert und verwaltet wurde – von den Assyrern und Persern über die Griechen, Ägypter und Römer bis hin zu den Arabern, den Seldschuken, den Mamluken, Osmanen und schließlich den Franzosen.

Es waren die Visionen der jeweiligen Herrscher – und die Ansiedlung neuer Bewohner, die zusammen die Entwicklung der Stadt geprägt haben. Im 12. und 13. Jahrhundert flohen Palästinenser vor den christlichen europäischen Kreuzrittern nach Osten und gründeten am nordöstlichen Rand von Damaskus die Vorstadt Salahieh. Unter den Mamluken wuchs die Stadt in Richtung Süden, als Getreide- und Viehhändler aus der Hauran-Ebene im Südwesten des heutigen Sy­rien außerhalb der Stadtmauer das Midan-Viertel gründeten. Und ab dem 16. Jahrhundert entstand nordwestlich der Altstadt im Sarouja-Viertel das osmanische Regierungszentrum, womit die vielfältige Struktur der Metropole um eine weitere Schicht erweitert wurde.

Als der Völkerbund den Franzosen 1922 das Mandat über Syrien und den Libanon zusprach, entwickelte sich das im Westen gelegene Shaalan-Viertel zum bevorzugten Wohnort der kolonialen Elite. In den 1940er und 1950er Jahren kamen die Viertel Abu Rummaneh und Malki hinzu, in denen noch heute die besser Betuchten leben. Nördlich davon liegt das Viertel al-Muhadschirin, was „Einwanderer“ bedeutet. Hier hatten sich zunächst Flüchtlinge aus dem Balkan angesiedelt, die im Zuge des russisch-türkischen Kriegs von 1887/88 vertrieben worden waren. Einige der klassischen Wohnviertel von Damaskus tragen Namen, die an Herrscher erinnern, die wie etwa der Mamluken-Prinz Sarouja aus der Fremde stammen.

Auch die Namen vieler prominenter damaszener Familien deuten auf nichtarabische Vorfahren hin. Ahmad Kuftaro zum Beispiel – bis zu seinem Tod 2004 der sunnitische Großmufti ­Syriens – stammte aus einer vornehmen kurdischen Familie, und die berühmte sunnitische Familie al-Azm, zu der zum Beispiel der Philosoph und Menschenrechtsaktivist Sadiq al-Azm (1934–2016) gehört, hat türkische Wurzeln. Selbst Gruppen, die ihre eigenständige Identität pflegten, wurden von der kosmopolitischen Atmosphäre der Stadt stark beeinflusst. So haben sich die Armenier, die im 19. Jahrhundert nach Damaskus kamen, räumlich wie sprachlich viel stärker integriert als ihre Landsleute in Beirut oder Aleppo, die in ihren eigenen Vierteln leben und nach wie vor Armenisch sprechen.

Kahlschlag für die Revolutionsstraße

Diese schrittweise und weitgehend organische Expansion der Stadt hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dramatisch beschleunigt, und zwar durch eine ehrgeizige Landreform und die von den Baath-Regierungen verfolgte Konsolidierung des Staatsapparats. Die neuen Herrscher von Damaskus enteigneten Bauern in der Ghuta, aber auch Hausbesitzer in der osmanischen Altstadt, um Platz für Militäranlagen, Verwaltungsgebäude und Wohnhäuser für die rasch expandierende Bürokratie zu schaffen. Dabei wurden Teile der osmanischen Bausubstanz abgerissen, um Platz für sowjetisch inspirierte Regierungsgebäude und eine breite Verkehrsachse, die „Revolutionsstraße“, zu schaffen.

Die staatlich organisierte Stadtentwicklung fiel zeitlich mit einem unregulierten Bauboom zusammen: In den Randbezirken errichteten die Neuankömmlinge ihre zunächst provisorischen Behausungen meist ohne Genehmigung, so entstanden die ersten Slums. Zuerst kamen die Palästinenser, die im Krieg von 1949 aus dem Gebiet des heutigen Israels geflohen waren; 1967 folgten die sogenannten Nazihin, also syrische „Vertriebene“, von den Golanhöhen, die Israel seit dem Sechstagekrieg besetzt. Derweil blähte sich der Staatsapparat immer weiter auf. Bürokraten und Sicherheitskräfte zogen scharenweise in die Hauptstadt und erwarben Häuser und Wohnungen in den planlos wuchernden Vorstädten.

Zwischen 1960 und 1990 hat sich die Bevölkerungszahl von Damaskus etwa verdreifacht. Der enorme Zuzug bedeutete, dass manche alten Damaszener von ihrem Grund und Boden verdrängt wurden. Nach 1990 beschleunigte sich die Expansion der Metropole weiter. Weil der Nahverkehr zwischen der Innenstadt und den Außenbezirken durch importierte private Minibusse verbessert wurde, stiegen auch die Grundstückspreise in den Obstbaumhainen der Ghuta. Ärmere Familien verließen die alten Innenstadtviertel und zogen in die Vorstädte mit ihren relativ billigen Wohnungen. Was von der Oasenstadt Damaskus noch übrig geblieben war, verwandelte sich jetzt in eine trostlose Betonwüste.

Das Resultat war eine strukturlose Stadtlandschaft aus überfüllten anonymen Wohnvierteln. Ein besonders krasses Beispiel ist der Stadtteil Mezzeh im Südwesten von Damaskus, wo der Staat auf enteigneten Grundstücken viele Regierungsgebäude und Wohnanlagen für öffentliche Bedienstete errichtet hat. Dabei entwickelte sich das Zentrum von Mezzeh zu einer Wohnenklave für die bürokratische Elite, während sich das angrenzende Viertel Mezzeh 86 (benannt nach einer Militärbasis) nach und nach in einen Slum verwandelte, in dem einfache alawitische Polizisten und Armeeangehörige mit ihren Familien wohnen.

So bestand Damaskus eines Tages aus einem Konglomerat sozialer Untergruppen, die sich nach Klassen- und Religionszugehörigkeit oder geografischer Herkunft voneinander separieren. Sunnitische Familien, deren Vorfahren seit Jahrhunderten in der Stadt leben, bezeichneten sich noch immer stolz als „ursprüngliche“ Da­masze­ner. Aber jetzt teilten sie die innerstädtischen Viertel mit einer politischen Elite, die großenteils aus der Provinz stammte und der sie mit Misstrauen, wenn nicht Verachtung begegneten.

Dagegen stellt die Bevölkerung der unaufhörlich expandierenden Neubaugebiete an der Peripherie – im Volksmund heißen sie „gesetzeswidrige“ oder „spontane“ Zonen (mukhalafat oder ashwaiyat) – eine Mischung dar, die sich aus einheimischen Grundbesitzern, Zuwanderern aus der Provinz und ärmeren Damaszenern zusammensetzt, die aus den innerstädtischen Vierteln hierhergezogen sind. Heute ist das hügelige Umland der Ghuta übersät von Siedlungen für die zugewanderten Mitglieder der Militär- und Sicherheitskräfte. Verbitterte Damaszener bezeichnen diese Hochburgen der Dienstklasse des Regimes als „Kolonien“ (mustawtanat).

Dass es nicht gelungen ist, die verschiedenartigen Regionen der Hauptstadt zu integrieren, sollte sich als folgenreiches Versäumnis erweisen. 2011 wurde die nördliche Stadtrandkommune Barzeh zu einer Hochburg der Protestbewegung. Die dortigen Bewohner waren enteignet und jahrzehntelang vom Staat vernachlässigt worden, wohingegen im benachbarten Esh al-Warwar vornehmlich alawitische Polizei- und Sicherheitskräfte mit ihren Familien wohnten. Der Konflikt eskalierte zu Straßenkämpfen mit Schießereien auf beiden Seiten; die Bewohner der beiden Viertel betrachteten sich wie Feinde, die man vernichten muss.

Die 2011 einsetzende Eskalation der Gewalt stürzte das Leben auf vielfache Weise ins Chaos, mit tiefgreifenden und anhaltenden Folgen für die Stadt und deren Einwohnerschaft. Besonders hart traf es die Rebellenhochburgen in den Vororten, die von Regierungstruppen mit schweren Waffen beschossen und ausgehungert wurden. Vorstädte wie Darayya (südwestlich des Stadtzentrums) und Jobar (im Osten), deren graue Betonhochburgen die grünen Obstgärten von Damaskus verdrängt hatten, verwandelten sich in Ruinenlandschaften.

Aber auch Viertel, die von den Zerstörungen weitgehend verschont geblieben waren, veränderte der Konflikt. Als die sozialen Spannungen zunahmen und die Wirtschaftslage sich verschlechterte, ging ein Großteil der Damaszener Ober- und Mittelklasse außer Landes. Ärmere Familien flohen ebenfalls – wenn sie das Geld aufbringen konnten – vor der sich ausbreitenden Gewalt und der tödlichen Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die eine oder die andere Seite.1

Allerdings wurde der Exodus aus Damaskus durch die Zahl der Neuankömmlinge mehr als ausgeglichen, sodass die Einwohnerzahl weiter stieg. Familien aus den umliegenden Städten, die zerstört worden waren, ließen sich in relativ ruhigen Stadtteilen wie Dscharamana und Sahnaya (südöstlich und südwestlich der Innenstadt) nieder. Die Nachfrage nach sicheren Unterkünften war so groß, dass Flüchtlinge sogar in teilweise belagerten Stadtteilen Schutz suchten, wenn sie weniger zerstört waren als andere, wie etwa die von der Opposition kontrollierten Viertel Qudsaya und Barzeh.

Diese nach Damaskus drängenden Binnenflüchtlinge kamen aus allen Teilen des Landes, insbesondere aber aus dem Nordosten, wo Städte wie Raqqa und Deir ez-Zor durch den US-geführten Krieg gegen den IS zunehmend unbewohnbar geworden waren. Zwar gehörten die meisten Zugezogenen der verarmten Unterschicht an, aber es waren auch vertriebene Geschäftsleute und Freiberufler dabei, die zum Teil die hauptstädtische Bourgeoisie ersetzten, die bereits im Ausland war.

Das Neben- und Durcheinander von Zuwanderung, Abwanderung und sozioökonomischen Verwerfungen erzeugte eine Dynamik fast permanenter Veränderungen. Damaskus war dermaßen überfüllt, dass diejenigen Alteingesessenen, die es sich noch leisten konnten, ebenfalls emigrierten. Von der Überfüllung profitierten die Vermieter, die von den Neuankömmlingen horrende Mieten verlangten. Für eine Wohnung in einem Arbeiterviertel der Innenstadt – ohne Fenster und Küche – konnten sie 250 Dollar pro Monat verlangen, etwa dreimal so viel, wie ein normaler Staatsbediensteter verdiente. Manchmal forderten die Wohnungseigentümer die Miete sogar für ein Jahr im Voraus – und natürlich in harter Währung.

In dieser Situation spielt die Regierung eine widersprüchliche Rolle: Auf der einen Seite verkündet sie öffentlich die Rückkehr der Hauptstadt zur Normalität; auf der anderen Seite verhindert sie eben diese Normalisierung, indem sie den einen die Rückkehr in ihre Häuser verwehrt und andere, die während des ganzen Bürgerkriegs da geblieben waren, aus ihrem Viertel vertreibt.

Ein Grund, der nach eigener Aussage viele syrische Vertriebene daran hindere zurückzukehren, ist das schiere Ausmaß der Plünderungen durch regierungstreue Milizen. Im palästinensischen Jarmuk-Flüchtlingslager etwa, am Südrand von Damaskus, stehen inmitten einer ausgedehnten Trümmerlandschaft noch einige intakte Gebäude, die den Beschuss überstanden haben. Doch wegen der anschließenden Plünderungen sind auch sie unbewohnbar. Noch Monate nach der Rückeroberung des Viertels durch Regierungstruppen im Mai 2018 standen immer wieder Rauchwolken über dem Viertel, wenn Kämpfer der regime­treuen Milizen die Gummiummantelung der Kupferkabel verbrannten, um den Draht als Altmetall zu verkaufen.

Eine neue Etappe der Zerstörung läuft unter dem falschen Etikett der „Stadtentwicklung“, zum Beispiel im nordöstlichen Stadtteil Quaboun. Nach der Rückeroberung des Gebiets im Mai 2017 vollstreckte das Regime einen „Organisationsplan“, der auf den Abriss großer Teile der Wohninfrastruktur hinauslief. Ziel des Plans war es angeblich, nicht genehmigte und einsturzgefährdete Gebäude zu beseitigen, aber es wurden auch Häuser abgerissen, die amtlich registriert und völlig intakt waren. Die enteigneten Bewohner sind sich sicher, dass der Plan in Wahrheit darauf zielte, ihr aufsässiges Viertel zu bestrafen und zugleich die Günstlinge des Regimes mit Bauaufträgen zu belohnen.

Noch bezeichnender ist das Marota-City-Projekt. Dieser geplante Hochhauskomplex im Südwesten der Stadt wurde als das luxuriöseste Immobilienprojekt in der Geschichte von Damaskus vermarktet.2 Das Projekt wurde seit 2014 vorangetrieben, als die Behörden begannen, Wohnhäuser im Viertel Mezzeh-Basatin zu enteignen und abzureißen. Das Ganze wurde zwar als Sanierung eines zerstörten Wohngebiets ausgegeben, aber tatsächlich war noch gar nichts kaputt, als die Bulldozer anrückten, um die Häuser der früheren Bewohner plattzumachen.

Auf diese Weise brachte die Regierung ganze Wohngebiete unter ihre Kontrolle, wobei die Beschlagnahmungen auch gezielt gegen tatsächliche oder angebliche Feinde eingesetzt wurden. Dazu nutzte das Regime unter anderem das Gesetz zur „Terrorismusbekämpfung“ von 2012, um den Besitz von Dissidenten und ihren direkten Verwandten einzuziehen. Diese Methode der politischen Disziplinierung ist allerdings nicht neu: Auf dieselbe Weise hatte in den 1980er Jahren schon Hafis al-Assad, der Vater des heutigen Präsidenten, mutmaßliche Sympathisanten der Muslimbrüder abgestraft.

Für die Enteigneten, die ihr Grundstück oder ihre Wohnung zurückhaben wollen, sind die Erfolgsaussichten düster. Ein formelles Gesuch um Freigabe beschlagnahmter Besitztümer wird fast nie beantwortet. Deshalb bleibt meist nur der Weg durch das Labyrinth des Korruptionsgewerbes. Das verläuft dann meistens so: Ein Mitglied des Sicherheitsapparats kauft den beschlagnahmten Besitz von dem ursprünglichen Eigentümer zu einem Bruchteil seines Werts; dann beschafft er sich mithilfe von Beziehungen und Bestechungsgeldern eine Besitzurkunde, und am Ende verkauft er das Objekt zum wahren Preis wieder an den ursprünglichen Besitzer, der einzig auf diesem Wege einen Teil seiner Vermögenswerte zurückerlangen kann.

Kriegsgewinnler in SUVs

Es gibt viele einfache syrische Bürger, die bei der Konkurrenz um das wertvollste Gut des Landes, nämlich Wohnraum, aus schierer Verzweiflung handeln. In dicht bevölkerten Gegenden der Ost-Ghuta haben zum Beispiel viele Sicherheitsoffiziere, regierungstreue Milizen und Zivilisten, deren Unterkünfte zerstört wurden, die Wohnungen von Geflüchteten besetzt – die manchmal ihre früheren Nachbarn waren. Wenn die Bewohner zurückkommen, können die Hausbesetzer sich entweder weigern zu weichen oder sie werden selbst wieder vertrieben.

Eine andere Form von Wohnungsraub wird von raffinierten Profis betrieben: Diese fälschen Grundeigentumsdokumente für verlassene Häuser, um sie dann zu verkaufen. Die Käufer ahnen häufig nichts und glauben, es handle sich um ein legales Geschäft. Angeblich gibt es Zehntausende solcher Betrugsfälle, die von einer überlasteten und zunehmend korrupten Gerichtsbarkeit nicht geahndet werden. Es soll sogar Fälle geben, in denen Betrüger ein und dieselbe Immobilie – die ihnen ohnehin nicht gehörte – mehrmals verkauft haben.

Noch kafkaesker wird der Immobilienmarkt durch die Tatsache, dass vielen Eigentümern die nötigen Dokumente fehlen; sei es, weil sie ihre ganzen Papiere in den Kriegswirren verloren haben, sei es, weil sie den Besitz in einer Region erwarben, wo die Verwaltung von der Opposition ausgeübt wurde, deren Dokumente von der Zen­tralregierung nicht anerkannt werden. Um Eigentum nachzuweisen, braucht man einen neuen Vertrag mit dem Voreigentümer, der entweder schon verstorben ist oder im Exil lebt. Wenn die Voreigentümer noch greifbar sind, verlangen sie für die Bestätigung einer Transaktion, für die sie schon kassiert haben, zudem oft ein weiteres Mal Geld.

Rechtliche Streitigkeiten über Besitztitel gibt es selbst innerhalb von Familien, wenn etwa verzweifelte Menschen ihren Wohnraum gegen die eigenen Verwandten erkämpfen wollen. Dieses ganze System bietet Scharen von Anwälten und Maklern die Chance, die Not der Menschen auszunutzen. Viele Frauen, die eine Wohnung suchen, klagen über Belästigungen; und mancher Makler geht so weit, einen Preisnachlass als Gegenleistung für Sex anzubieten.

Nach der jahrzehntelangen Abwanderung vom Zentrum zur Peripherie hat sich dieser Trend jetzt umgekehrt. Viele Damaszener streben von den Vorstädten in die relativ intakten Viertel in der Innenstadt zurück. Einige beziehen sogar wieder ihre alten Wohnungen in der Altstadt, die sie vor langer Zeit aufgegeben haben, um in einen der modernen Vororte zu ziehen. Allerdings müssen viele Familien nach ihrer Rückkehr ins historische Stadtzentrum in überfüllten und zuweilen unhygienischen Wohnungen leben.

Durch das dichte Nebeneinander von Gemeinschaften, die aus allen Ecken des Landes vertrieben wurden, ist eine zunehmend heterogene und segmentierte Sozialstruktur entstanden. Dabei machen die alteingessenen Damaszener die Neuankömmlinge, die meist der Unterschicht angehören, für alle möglichen sozialen Missstände – wie etwa die verdreckten Straßen – verantwortlich. Ihre offene Verachtung bekommen vor allem die als rückständig und unsauber geltenden Flüchtlinge aus dem östlichen Gouvernement Deir ez-Zor zu spüren.

In einer Stadt, die jahrhundertelang Zuwanderer aufgenommen hat, denen eine neue Zukunft vorschwebte, fühlen sich die Menschen heute so, als lebten sie zukunftslos nur von Tag zu Tag. Die meisten konzentrieren sich aufs kurzfristige Überleben und fragen sich, welches neue Elend morgen auf sie zukommt. Wer echte Stabilität ersehnt, will nichts als weg.

Dieses Leben im Provisorium äußert sich zum Beispiel beim Umgang mit ihrem zerstörten Wohneigentum. Viele reparieren nur einen Raum, anstatt zu versuchen, die ganze Behausung wieder in den alten Zustand zu versetzen. Für Bad und Toilette kaufen sie billige, aus China oder Iran importierte Armaturen oder Plünderungsgut. Das zeigt nicht nur, dass sie nicht viel Geld haben, sondern auch die verbreitete Befürchtung, dass langlebige Anschaffungen nur zu erneuten Plünderungen einladen.

Selbst wer eine Immobilie kauft, tut dies meist aus einer kurzfristigen Überlegung heraus. Viele ärmere Familien versuchen damit nur dem brutalen Mietmarkt von Damaskus zu entrinnen. So kaufen sich manche Flüchtlinge, die wenig Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimatstadt haben, eine kleine, heruntergekommene Wohnung, wobei sie das Geld häufig von Verwandten im Ausland zusammenleihen.

Wegen der großen Nachfrage nach Wohnraum teilen viele Hauseigentümer größere Wohnungen in mehrere kleine auf oder Ladenbesitzer richten in ihren Geschäftsräumen Apartments ein. All dies sind Reaktionen auf die neue syrische Rea­lität: Das produzierende Gewerbe liegt zwar in Trümmern, aber die Immobilienbranche floriert.3

Für uns Damaszener ist der Überlebenskampf auch ein psychologischer: Wir müssen verarbeiten, was aus unserer Stadt geworden ist, deren tragende Säulen bis zur Unkenntlichkeit zerbröselt sind. Und wir müssen Entfremdungserlebnisse aller Art bewältigen. Zum Beispiel, dass eine Stadt, deren Name unmittelbar mit der eleganten Kultur der Levante assoziiert ist, immer stärker durch eine tiefe soziale Kluft geprägt ist zwischen einer verelendeten Unterschicht und einer Kaste vulgärer Kriegsgewinnler, die ihren Reichtum schamlos zur Schau stellen.

Während Damaskus verfällt, blühen die Luxusrestaurant auf, wo die Eliten in ihren SUVs mit getönten Scheiben vorfahren und für ein einziges Dinner das Monatsgehalt eines Staatsbediensteten ausgeben, während die große Mehrheit der Bevölkerung in Secondhandläden einkaufen muss, weil ihre Kaufkraft ebenso rapide dahinschwindet wie die Aussicht auf einen Job.

Dabei haben auch die sozialen Probleme, die es schon vor dem Krieg gab, in den letzten Jahren exponentiell zugenommen: etwa die Erosion der öffentlichen Dienstleistungen oder die Stigmatisierung der Armen. Mit dem Krieg sind neue hinzugekommen: von der Rauschgiftkriminalität bis zur Kinderarbeit. Auch die Umweltbelastung hat sich verschlimmert, was für eine Stadt, die einst als blühende Oase gepriesen wurde, besonders bitter ist.

Zwar wurden die Obstgärten der Ghuta – die „grüne Lunge“ der Stadt – schon vom Urbanisierungsprozess früherer Jahrzehnte verschlungen. Aber seit 2011 fegten über die verbliebenen grünen Flächen mehrere neue Angriffswellen hinweg: Das Assad-Regime und seine russischen Verbündeten bombardierten das Gebiet von oben, während unten regimetreue Soldaten und Milizionäre die Bäume fällten, um Feuerholz zu gewinnen.

Die Transformation der Ghuta hat über ihre düstere symbolische Bedeutung hinaus konkrete Folgen von enormer Tragweite: eine spürbare Veränderung der Temperaturen wie der Luftqualität, sinkende landwirtschaftliche Erträge, fortschreitende Wüstenbildung und häufige Dürreperioden, die vielleicht die größte Bedrohung für Damaskus’ Zukunft darstellen.

Um das ganze unfassbare Umbruchgeschehen zu verarbeiten, flüchten sich viele Damaszener in die Erinnerung an bessere Zeiten. Auf Facebook-Seiten kursieren Fotos aus der Zeit vor dem Baath-Regime. Initiativen entstehen, die Ausflüge zu den historischen Obstgärten und anderen Sehenswürdigkeiten veranstalten. Andere versuchen sich die Stadt wieder anzueignen, indem sie über ihre Geschichte und ihre Transformation forschen und publizieren. Und dann gibt es noch die, die sich unbewusst an ihre Identität klammern.

Die Damaszener pflegen seit jeher einen ausgeprägten Lokalpatriotismus, der häufig an Lokalchauvinismus grenzt. Heute hat man den Eindruck, als müssten sie ihre Einzigartigkeit noch eine Idee stärker betonen. In meinem Umfeld beobachte ich, wie Freunde und Verwandte nach alten Damaszener Rezepten um die Wette kochen und ihren Damaszener Akzent stärker betonen. Als hätten sie beschlossen, die Vergangenheit als Basis für eine ferne, bessere Zukunft zu be­wahren.

1 Siehe den Bericht des Synaps-Teams. „Syrien heute – eine Nahaufnahme“, LMd, November 2018.

2 Siehe Jakob Farah, „Assads Gesetz Nr. 10“, LMd, Juli 2018.

3 Siehe den Bericht des Synaps-Teams, „Überleben in Syrien“, LMd, Januar 2020.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Dieser Text wurde von einem Synaps-Fellow in Syrien verfasst und erschien zuerst auf Englisch auf www.synaps.network. Synaps ist eine Informationsagentur in Beirut, die junge Forscher:innen aus der Region ausbildet.

© Für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von anonym