Bitterer Sieg für Griechenland
Die Pandemie ist fürs Erste eingedämmt, aber die wirtschaftliche Prognose ist verheerend
von Niels Kadritzke
Griechenland ein Vorbild für Europa? Wer hätte das gedacht. Aber so lautet das Urteil in Medienberichten aus aller Welt. Das Land, das bis vor Kurzem als Paria der EU galt, sorgt angesichts der globalen Coronakrise für eine „success story“, die ihm in den zehn Jahren der Wirtschaftskrise nicht vergönnt war.
Bis zum 30. April meldete Griechenland nur 2591 Corona-Erkrankungen und lediglich 140 Todesfälle. Zum Vergleich: In Italien gibt es, relativ zur Einwohnerzahl, 13-mal mehr positive Fälle und 34-mal mehr Todesfälle. Und selbst in Deutschland liegen diese Kennziffern 8-mal respektive 5-mal höher.1
Diese Zahlen sind umso erstaunlicher, als das griechische Gesundheitssystem seit zehn Jahren dem Virus der Sparpolitik ausgesetzt war. Im Zeitraum von 2009 bis 2017 schrumpften die Ausgaben für das öffentliche Gesundheitswesen um 40 Prozent. Beim Ausbruch der Coronapandemie gab es in den staatlichen Krankenhäusern nur 565 Betten in Intensivstationen (ICU). Mit fünf Betten pro 100 000 Einwohner hatte Griechenland die niedrigste ICU-Quote innerhalb der Europäischen Union, Italiens Quote lag bei 12,8 Betten.
Doch genau diese Schwachstelle war der entscheidende Grund, warum man in Athen so schnell reagierte. Die Überforderung der Intensivstationen hätte katastrophale Folgen gehabt. Deshalb lösten die Horrorbilder, die Anfang März aus Bergamo um die Welt gingen, in Griechenland einen besonders heftigen Schock aus. Um den Zusammenbruch des gesamten Gesundheitssystem zu verhindern, musste die Regierung Mitsotakis handeln – sofort und radikal.
Am 11. März, als es erst 99 positive Fälle und noch keinen Toten gab, wurden Kindergärten, Schulen und Universitäten geschlossen. Am 13. März (190 Fälle und ein Toter) folgte die Schließung von Restaurants, Kafenions und Bars. Am 23. März (695 Fälle und 17 Tote) wurde eine weitgehende Ausgangssperre verhängt. Selbst das Einkaufen ist seitdem strikt reguliert, etwa durch die Kontrolle der Kundenzahl in den Supermärkten. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nur noch mit Ausweis auf die Straße gehen; der Zweck ihres „Ausgangs“ ist per SMS anzumelden, wer bei einer Kontrolle keine SMS-Genehmigung vorweisen kann, zahlt eine Geldstrafe von 150 Euro.
Dass dieses strenge Regiment erfolgreich durchgesetzt werden konnte, muss Beobachtern, denen das Klischee des ungebärdigen Zorbas-Griechen den Blick verstellt, wie ein Wunder vorkommen. Aber es war nicht nur der Bergamo-Effekt, der auf die Bevölkerung eine disziplinierende Wirkung ausübte. Hinzu kommt, dass sich die griechische Gesellschaft seit 2010 fast permanent im Krisenmodus befindet, meint Giorgos Pagoulatos vom Athener Thinktank Eliamep: „Wir haben die Art von Selbstgefälligkeit hinter uns, die sich heute Volkswirtschaften erlauben, denen es besser ergangen ist.“2
Notstand in Gefängnissen und Flüchtlingslagern
Die rigorose Krisenstrategie der Regierung wäre bei den Regierten nicht so gut angekommen, wäre sie nicht glaubwürdig kommuniziert worden. Dafür sorgte Sotiris Tsiodras, eine internationale Koryphäe auf dem Gebiet der Infektionskrankheiten. Der Leiter des Krisenstabs im Gesundheitsministerium erläutert der Nation jeden Abend um 18 Uhr auf ruhige und anschauliche Weise die Entwicklungen des Tages. Dabei wirkt der schmächtige Mann wie ein naher Verwandter, dem bei bitteren Nachrichten auch die Tränen kommen.
Dass Tsiodras mit Vornamen Sotiris (der „Retter“) heißt, ist ein Zufall, den viele nicht als Zufall empfinden. Eine Rettung ist er auf jeden Fall für Regierungschef Mitsotakis. Ohne die vertrauensbildende Autorität des Experten Tsiodras hätte die Regierung es zum Beispiel kaum geschafft, die mächtige orthodoxe Kirche in die Schranken zu weisen.
Die Corona-Eindämmungsstrategie wäre gescheitert, wenn es nicht gelungen wäre, die orthodoxen Ostern quasi abzublasen. Der hohe Klerus wollte nicht einmal auf die traditionelle Praxis verzichten, den Gläubigen das österliche Heilige Abendmahl auf einem gemeinschaftlichen Löffel zu verabreichen. Der könne unmöglich zur Verbreitung des Virus beitragen, befand die Synode. Und der erzreaktionäre Bischof von Piräus erklärte gar: „Wer an der heiligen Kommunion teilnimmt, ist Gott nah, der die Kraft zu heilen hat.“
Doch Mitsotakis ließ kurzerhand alle Kirchen schließen. Ohne große Proteste: Selbst die Strenggläubigen vertrauten Sotiris, dem Retter, mehr als den Popen und verzichteten tapfer auf das gewohnte Ostererlebnis. Dazu gehört für viele griechische Familien auch die Osterwoche auf dem Land, im Dorf der Oma oder im eigenen Ferienhaus.
Auch diese Reisen mussten unterbunden werden, sonst hätten die Städter das Virus in alle Ecken der Provinz getragen. Die Regierung verfügte ein Reiseverbot, das von der Polizei an allen wichtigen Ausfallstraßen, an Busbahnhöfen und in Häfen streng kontrolliert wurde. Wer ins Dorf oder auf eine Insel zu fahren versuchte, ohne dort den Hauptwohnsitz zu haben, zahlte 300 Euro Strafe, das Tatfahrzeug wurde für zwei Monate stillgelegt. Die Kontrollen waren so abschreckend, dass in der ganzen Osterwoche nur 106 Strafmandate fällig wurden.
Den Erfolg des strengen Corona-Regiments belegen die Zahlen, die Tsiodras der Nation allabendlich präsentieren kann. Die Ansteckungskurve hat sich stark abgeflacht, die berüchtigte Reproduktionszahl ist auf 0,6 gesunken, und vor allem: Von den für Coronafälle reservierten ICU-Betten war nie mehr als ein Drittel belegt.3
Allerdings ist auch Griechenland noch lange nicht über dem Berg. Am 4. Mai hat eine dreistufige „Lockerungsphase“ begonnen, die Tsiodras mit erkennbarer Sorge betrachtet. Aber vor allem gibt es drei potenzielle Krisenherde, die den bisherigen Erfolg gefährden könnten. Erstens die überfüllten Gefängnisse, in denen ein permanenter hygienischer Notstand herrscht; zweitens einige Roma-Siedlungen – Armutsenklaven, in denen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben; und drittens die Flüchtlingslager und insbesondere die berüchtigten Hotspots auf den ostägäischen Inseln, die als „tickende Zeitbomben“ gelten.4
Und die größte Krise steht den Griechen ohnehin noch bevor. Die ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, die unaufhaltsam auf eine weltwirtschaftliche Rezession hinauslaufen, werden Griechenland noch härter treffen als die übrigen EU-Länder. Deshalb steht die Athener Regierung bei der Abwägung zwischen dem Schutz von Menschenleben und der Rettung vor einer wirtschaftlichen Katastrophe verzweifelt vor einem Dilemma.
Die Prognosen für die Rezession in der gesamten EU schwanken zwar zwischen 5 und 15 Prozent Minuswachstum, aber alle sagen voraus, dass es Griechenland am schwersten erwischen wird. Die Analysten der Großbanken und Ratingagenturen rechnen für 2020 mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zwischen 8 und 15 Prozent; der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht die griechische Volkswirtschaft um mehr als 10 Prozent schrumpfen.5
Zur Begründung verweisen die Experten auf die bekannten strukturellen Schwachpunkte der griechischen Wirtschaft. Da ist erstens der hohe Anteil an Klein- und Kleinstbetrieben, von denen zwei Drittel in einer Rezession mangels Liquidität vom Bankrott bedroht sind. Da ist zweitens der angeschlagene Bankensektor, der schon vor der Coronakrise von extrem hohen Beständen an notleidenden Krediten erdrückt wurde.6 Der dritte Schwachpunkt ist die starke Abhängigkeit der Konjunktur vom inneren Konsum, der 70 Prozent des griechischen BIPs ausmacht. Doch der weitaus wichtigste Faktor ist der vierte: die starke Abhängigkeit vom Tourismus.
Die Tourismusbranche wird allenthalben als „Schwerindustrie Griechenlands“ bezeichnet. Warum, zeigen folgende Zahlen: 18 Prozent des BIPs werden direkt im Tourismussektor erzeugt; rechnet man die indirekten Effekte (Gastgewerbe, Einzelhandel, Transportwesen) dazu, kommt man auf fast 30 Prozent. Bei der Beschäftigung liegt der Anteil der Branche bei 20 Prozent, inklusive der indirekt erzeugten Jobs bei knapp 40 Prozent. Die Einnahmen durch ausländische Touristen wiederum – 2019 waren es 18,2 Milliarden Euro – halten das griechische Zahlungsbilanzdefizit in erträglichen Grenzen. Der wichtigste Punkt ist aber, dass der Tourismus in den letzten Jahren mehr als 50 Prozent des BIP-Zuwachses generiert und damit den Hauptbeitrag zur Überwindung der Krise geleistet hat.7
Genau diese ökonomische Erholung, die seit 2017 in Gang gekommen ist, geht jetzt durch die Coronakrise verloren, argumentieren Nick Malkoutizs und Yiannis Mouzakis in einer Analyse mit dem Titel „Recovery Lost“.8 Ein Rückgang des BIPs um 10 Prozent würde bedeuten, dass die Arbeitslosenquote von 16,4 Prozent (im Januar 2020) erneut auf mindestens 22 Prozent ansteigt. Die verfügbaren Einkommen würden um eine zweistellige Prozentzahl abnehmen und die Binnenkonjunktur entsprechend dämpfen. Auch die Steuereinnahmen würden wegbrechen, was bei schrumpfender Wirtschaftsleistung die Staatsverschuldung wieder ansteigen ließe, nach Schätzung des IWF bis Ende 2020 auf 200 Prozent des BIPs.
Eine solche – oder noch schlimmere – Entwicklung macht alle Hoffnungen zunichte, die sich die Mitsotakis-Regierung für 2020 und die kommenden Konjunkturjahre gemacht hat. Die Erwartungen waren allerdings ohnehin zu optimistisch: Die dem Staatshaushalt 2020 zugrundeliegende Annahme von 2,8 Prozent Wachstum hielten Experten schon seit Ende 2019 für unrealistisch. Aber jetzt schreddert das Virus alle Planungen und Projektionen zu Makulatur. Für die Athener Regierung kann es in der kommenden globalen Krise nur noch darum gehen, das Schlimmste zu verhindern.
Vor dem Hintergrund der überragenden Bedeutung des Tourismussektors steht außer Zweifel, dass die Hoffnung auf eine wenigstens partielle Rettung der Saison ein zentrales Kalkül bei der radikalen Corona-Strategie der Mitsotakis-Regierung war: Je schneller und rigoroser die Maßnahmen greifen, desto eher kann man eine „Öffnung“ riskieren, die zumindest einen begrenzten Tourismus zulassen würde.
Dabei hegte die Regierung bis Mitte März noch die Hoffnung, wenigstens „die halbe Saison“ retten zu können. Tourismusminister Charis Theocharis beschrieb ein „positives Szenario“, wonach die Gesundheitskrise innerhalb von drei Monaten unter Kontrolle sein werde, sodass die „eigentliche Sommersaison“ Anfang Juli anlaufen könne. Nach einem „negativen Szenario“ würde das Land dagegen „noch bis August ohne Tourismus bleiben“. Aber der Minister glaubte an das positive Szenario – mit der autosuggestiven Begründung, wenn sich die Lage nicht bis Juli „normalisiere“, wäre 2020 für den griechischen Tourismus ein „komplett verlorenes Jahr“.9
Noch am 24. April meinte Theocharis noch gegenüber der BBC, sein Land hoffe, den Großteil der Sommersaison „zu retten“. Aber das wird wohl eine Hoffnung bleiben. Selbst der Verband der Tourismusindustrie (Sete) sieht für den Hochsommer allenfalls ein Geschäft mit den Binnentouristen. Und auch die werden weniger zahlreich sein als letztes Jahr. Außerdem werden sie weniger ausgeben, weil das verfügbare Einkommen der griechischen Familien schwindet.
In Nordgriechenland hofft die Branche auf Feriengäste aus den Balkanländern, die mit dem Auto anreisen können. Doch die lassen bei Weitem nicht so viel Geld im Land wie Touristen aus den reicheren EU-Ländern. Ausländische Flugreisende sieht der Sete-Vorsitzende Yiannis Retsos in größerer Zahl erst ab September eintreffen. Retsos denkt dabei vor allem an Länder, die das Coronavirus relativ erfolgreich bekämpft haben, wie etwa Israel und einige arabische Staaten. Viele der traditionellen Herkunftsländer von Griechenlandtouristen – wie Italien, Frankreich und Großbritannien – werden nicht dazugehören.
Das macht das Grundproblem deutlich, vor dem die griechische Tourismusbranche steht. Es reicht ja nicht, dass man im Sommer wieder die Dienstleistungen von Hotels und Restaurants anbieten kann. Entscheidend ist die Nachfrage, auf die Griechenland keinen Einfluss hat. Also die Frage: Wer wird kommen und auf welchem Wege?
Das betrifft nicht nur die Art des Reisens, die aus epidemiologischer Sicht zu verantworten ist. Selbst wenn sich der Flugverkehr normalisieren sollte – was derzeit nicht absehbar ist –, bleibt ein entscheidender weiterer limitierender Faktor: die ökonomischen Verhältnisse in den wichtigsten Herkunftsländern. Wenn auch dort die Arbeitslosigkeit steigt und die verfügbaren Einkommen sinken, werden Urlaubsreisen nicht zu den Prioritäten gehören, zumal wenn sie mit Mühen und Risiken verbunden sind.
Ein Jahr ohne Tourismussaison
Allerdings liegt das Risiko nicht nur bei den Reisenden. Im Fall Griechenland ist es eher umgekehrt. Touristen aus aller Herren Ländern könnten ein Land erneut und massiv infizieren, das die Coronagefahr relativ erfolgreich eingedämmt hat. Für einen dauerhaften Erfolg der griechischen Krisenstrategie hat der griechische Chefepidemiologe Tsiodras drei Bedingungen genannt.
Die beiden ersten gelten allgemein: Die Ansteckungskurve muss einen stetigen Abwärtstrend aufweisen, und die Zahl der Tests muss drastisch erhöht werden. Die dritte Bedingung hat in Griechenland eine besondere Bedeutung. Es müsse unbedingt verhindert werden, dass neue Infektionssschübe von außen kommen, mahnt Tsiodras.10 Gerade weil die griechische Strategie so erfolgreich war, sei diese Gefahr besonders groß, erläutert Tsiodras: Weil die kollektive Immunität in Griechenland weniger entwickelt ist, sind strenge Kontrollen der einreisenden Touristen ein zwingendes Gebot.
Wie solche Kontrollen aussehen könnten, wird derzeit auf EU-Ebene diskutiert. Aber egal ob es den obligatorischen „Gesundheitspass“ oder Schnelltests auf den Flughäfen geben wird, das Kontrollregime wird die Reiselust dämpfen. Zumal bei einem positiven Coronabefund eine zweiwöchige „Hausquarantäne“ droht, die in Griechenland für Einreisende schon jetzt vorgeschrieben ist. Ein Urlaub auf dem Hotelbalkon ist allerdings nicht der „Sommertraum“, den sich ausländischen Touristen von Griechenland versprechen.
Aus all diesen Gründen ist das Szenario weit realistischer, das der Sete entwirft. In der gesamten Saison 2020, so die Prognose, werden Urlauber aus dem Ausland lediglich 5,65 Milliarden Euro ins Land bringen; das wäre im Vergleich mit 2019 weniger als ein Drittel. Der Hotelverband hat in einer Umfrage ermittelt, dass die meisten seiner Mitglieder mit einem Umsatzrückgang von mehr als 50 Prozent und mit einem Verlust von 40 Prozent der Arbeitsplätze rechnen. Zudem sehen 65 Prozent der Hotelbesitzer die akute Gefahr eines Bankrotts.11
Die Tourismusexperten rechnen auch im kommenden Jahr nicht mit einer raschen Rückkehr zur „Normalität“. „Der Aufschwung wird einige Zeit dauern“, meint der Sete-Forschungsdirektor Kikilias. Jetzt gehe es vor allem darum, dass sich „die Erfahrungen der wenigen Besucher“ herumsprechen und sich für die Zukunft auszahlen. Ob das der Fall sein wird, dürfte auch von den Corona-Schutzmaßnahmen in den Hotels und an den Stränden abhängen.
Dagegen verbreitet die Regierung Mitsotakis einen Optimismus, der wie das Pfeifen im Walde anmutet. Die Botschaft lautet: Mittelfristig hat Griechenland die tollsten Chancen, wenn man es schaffe, das neue „positive Image“, das in aller Welt gewürdigt werde, richtig auszunutzen. In diesem Sinne müsse man die „Marke Griechenland“ als „sichere Adresse“ für Investitionen und Touristen propagieren.12
Es gibt nur zwei Probleme: Ob die Touristen und die Investitionen kommen, hängt zum einen von Entwicklungen ab, auf die Griechenland keinen Einfluss hat. Und zum anderen von Fragen, die heute niemand beantworten kann. Zum Beispiel, wann die globale Rezession zu Ende ist und wie sich das Massenphänomen Fernurlaub in der Post-Corona-Welt entwickeln wird.
2 Zitiert nach Al Jazeera (englisch) vom 7. April 2020.
9 Siehe Kathimerini, 17. März 2020.
12 Siehe den Bericht von Ilias Bellos in: Kathimerini vom 27. April 2020.
Weitere Texte zur Coronakrise in Griechenland finden Sie auf dem LMd-Blog „Nachdenken über Griechenland“.
© LMd, Berlin