07.05.2020

In den verlassenen Straßen von Brooklyn

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In den verlassenen Straßen von Brooklyn

von Adam Shatz

Jan De Vliegher, Koi 11, 2013, Öl auf Leinwand, 120 x 240 cm
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Irgendwann habe ich aufgehört, die Tage zu zählen, die vergangen sind, seit ich meinen Geruchssinn verlor und in Quarantäne gegangen bin. Camus schreibt, während einer Seuche könne man nichts weiter tun, als zu warten. Aber das Warten ist schwerer, als es klingt. Haben wir Montag oder Dienstag? Und ist das wichtig? Die verlässlichste Methode, das Vergehen der Zeit zu messen, ist neuerdings nicht mehr das Zählen der Tage oder Wochen, sondern der Toten. In New York City sind längst weit mehr Menschen gestorben als bei den Angriffen vom 11. September.

Die meisten meiner Freunde verlassen ihre Wohnungen nicht mehr. Seit mein Geruchssinn zurück ist, mache ich jeden Morgen einen Spaziergang. Neulich saß ich in einem leeren Park in der Nähe des Brooklyn Navy Yard, als ein ­städtischer Arbeiter kam, um mir zu sagen, der Park sei ab sofort geschlossen. Am nächsten Tag war er von einem provisorischen Zaun umgeben.

„Baudelaire liebte die Einsamkeit“, schrieb Walter Benjamin, „aber er wollte sie in der Menge.“1 Heute ist jeder Ort, der eine Menge anziehen könnte, abgesperrt, und New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo erklärt Spaziergänge für bedenklich. Die einzigen „Mengen“, in die du dich noch begeben kannst, bestehen aus Bekannten, die du aber nur über Zoom oder Facetime siehst, weil ein Treffen im „realen Leben“ zu riskant ist.

Dies ist bereits meine zweite Quarantäne-Erfahrung in diesem Jahr. Ende Dezember flog ich nach Beirut. Kurz nach meiner Ankunft, am 3. Januar, ermordete die US-Regierung Qassem Soleimani auf dem Bagdader Flughafen mit einer Drohnenattacke. Danach legte sie ihren Staatsbürgern, die sich im Nahen und Mittleren Osten aufhielten, die Abreise nahe; in Beirut rieten mir Taxifahrer, meine US-Identität zu verheimlichen.

Die meiste Zeit verbrachte ich mit Lesen, Schrei­ben und Kochen – in etwa dasselbe, was ich jetzt tue. Unter anderem las ich einen 2019 veröffentlichten Essay von Amin Maalouf mit dem Titel „Le naufrage des civilisations“ (Der Schiffbruch der Zivilisationen). Maalouf ist Libanese christlicher Konfession, der seit zwei Jahrzehnten vor der Bedrohung warnt, die von „identitären“ politischen Bewegungen ausgeht. Sein Essay ist zugleich eine Elegie auf die Levante, in der er aufgewachsen ist, und eine Reflexion über die gewaltsame Fragmentierung und das politische Elend, die der globalisierte Kapitalismus verursacht. Maaloufs Essay beginnt so:

„Ich wurde gesund geboren, in den Armen einer sterbenden Zivilisation, Zeit meines Lebens hatte ich das Gefühl zu überleben, während rings um mich so viele Dinge zerfielen; wie diese Filmfiguren, die über die Straße gehen, während um sie herum alle Mauern einstürzen, die alles unversehrt überstehen, sich den Staub von den Kleidern klopfen, während hinter ihnen die ganze Stadt ein einziger Trümmerhaufen ist.“2

Ein Trümmerhaufen ist New York heute nicht, aber die Leere ist dennoch schockierend. Noch schockierender – wenn auch nicht überraschend, wenn man den Zustand des Gesundheitssystems in den USA kennt – sind die Bilder aus den überfüllten Krankenhäusern, wo es an Beatmungsgeräten und Schutzmasken fehlt, und der Anblick des Feldlazaretts im Central Park. Das wurde von einer christlichen Hilfsorganisation namens Samaritans’ Purse (Geldbeutel der Samariter) errichtet, an deren Spitze ein fundamentalistischer Prediger steht.

Während Donald Trump und sein Schwiegersohn ­Jared Kushner die Krise – wie sie sagen – „managen“, haben viele von uns das Gefühl, dass wir an einem historischen Wendepunkt angelangt sind: Von einer Rückkehr zur „Normalität“ zu reden, empfinden wir nicht nur als lächerlich, sondern als verantwortungslos.

Natürlich werden wir weiterhin alles tun, um Normalität vorzutäuschen: Ein virtuelles „Meeting“ kann wenigstens eine Zeit lang das Gefühl des Eingesperrtseins lindern. Das gilt auch für die täglichen Pressekonferenzen von Gouverneur Cuomo, der klar und nüchtern die Fakten präsentiert, mit denen er die halluzinatorischen Fantastereien bekämpft, die Trump auf seinen Pressekonferenzen darbietet. Wobei das Auftreten Cuomos auch ansonsten vernünftige Leute vergessen lässt, dass derselbe Cuomo, der heute lautstark bundesstaatliche Unterstützung einfordert, einen Haushaltsplan durchgebracht hat, der die Mittel für die New Yorker Krankenhäusern um 400 Millionen Dollar zusammenstrich.

Allerdings frage ich mich auch, ob nicht der wahre Gewinner im „Krieg“ gegen die Pandemie das „virtuelle Leben“ sein wird. Die Mogule der „sozialen Medien“ hatten nie etwas dagegen, uns von der Straße fernzuhalten, und dasselbe gilt für autoritäre Politiker. Als Bill Gates vorschlug, für die absehbare Zukunft keine großen öffentlichen Veranstaltungen mehr zuzulassen, müssen Viktor Orbán, Benjamin Netanjahu und Narendra Modi zufrieden gelächelt haben.

„Wir hörten die Sirenen der palästinensischen Sicherheitskräfte aufheulen“, schrieb mir ein Freund aus Ramallah kurz nach Beginn der ersten Sperrstunde, „und ich dachte bei mir: Die Ausgangssperre durchzusetzen, muss ihnen einen ganz schönen Kick geben, nachdem sie selbst immer wieder unter den von Israel verhängten Ausgangssperren gelitten haben. Aber es ist wohl richtig, das jetzt zu machen.“ Doch selbst wenn es nicht richtig wäre – wer würde es heute wagen, auf die Barrikaden zu gehen?

Eine Wohnung als Zuflucht ist in den USA ein Privileg

Ende März starb Bill Withers im Alter von 81 Jahren. „Lean on Me“, sein bekanntester Song, wurde zur Hymne für das Krankenhauspersonal, das Covid-19-Patienten behandelt und versorgt. Nach Withers’ Tod kursierte eine Version, gesungen von einem Arzt in New Haven, in den sozialen Medien. Aber für diejenigen von uns, die allein leben, stellt sich die Frage: „Anlehnen an wen?“

Ganz sicher nicht an deinen Nachbarn, und schon gar nicht an deine Eltern. Berühren ist jetzt tabu. Zwei Menschen, die ich kannte, sind gestorben: der Kunstkritiker und Menschenrechtsaktivist Maurice Berger und der radikale Architekt und Architekturkritiker Michael Sorkin. Den Schmerz, der mit Social Distancing und Isola­tion einhergeht, sollte man nicht unterschätzen, aber er ist nicht tödlich; und eine Wohnung als Zuflucht zu haben, ist in den USA ein Privileg, wenn nicht gar ein Luxus.

Für diejenigen, die im Krankenhaus an vorderster Linie arbeiten, diejenigen, die Lebensmittel und Essen ausfahren oder einen anderen dieser „systemrelevanten“ Jobs ausüben, die von den herrschenden Eliten früher kaum wahrgenommen wurden, birgt jeder Tag die Gefahr einer Ansteckung. Viele von ihnen fahren immer noch mit der U-Bahn, weil sie anders nicht zur Arbeit kommen. Und wir? Wir öffnen um 7 Uhr abends unsere Fenster und applaudieren ihnen.

1971 erklärte Bill Withers in einem Interview, warum sein früherer Job – Toiletten in Linien­flugzeugen zu installieren – sehr viel „re­vo­lu­tio­närer“ gewesen sei als Singen: „Den Typen, der unseren Müll einsammelt, brauchen wir dringender als den Typen, der Baseball spielt. Dafür wird er zwar nicht berühmt, aber mir ist es wichtiger, dass mein Müll wegkommt, als dass ich jemandem zusehen darf, der einen Ball 150 Meter weit wegdreschen kann. Und ich würde lieber einen Monat lang nicht singen als einen Monat nicht aufs Klo gehen.“ Ich denke mal, Marx hätte diese hausgemachte Darlegung seiner Arbeitswerttheorie gefallen. Und wie treffend sie ist, haben die Ereignisse der letzten Wochen überaus klar bestätigt (die nebenbei etlichen Hollywood-Größen böse Reaktionen einbrachten, weil sie es angebracht fanden, ihre Zwangsquarantäne mit Fotos aus ihren Luxusvillen zu dokumentieren).

Aber es gibt noch eine weitere Dimension des Marx’schen Denkens, die uns hilft, die Covid-19-Krise zu verstehen: sein Bewusstsein von der Gefährdung der Umwelt durch die kapitalistische Produktionsweise. In den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten schreibt Marx: „Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozess bleiben muss, um nicht zu sterben. Dass das physische und geistige Leben des Menschen mit Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als dass die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.“3 Und in der „Dialektik der Natur“ warnte Friedrich Engels: „Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns.“4

Es wäre falsch, Covid-19 als Rache der Natur zu bezeichnen, es sei denn im metaphorischen Sinne. Krankheit hat keinen „Sinn“, schreibt Susan Sontag, und wer einen in sie hineininterpretiere, laufe Gefahr, die Träger der Krankheit zu stigmatisieren – insbesondere wenn sie als irgendwie „anders“ dargestellt werden: als Ausländer, Homosexuelle oder Nichtweiße. Das Wüten Trumps gegen das „chinesische Virus“ hatte „­Hate Crimes“ gegen US-Bürger asiatischer Abstammung zur Folge. Und in New York husteten ein paar junge orthodoxe Juden einem muslimischen Feuerwehrmann ins Gesicht, der später positiv getestet wurde.

Die Krankheit mag sinnlos sein, aber die Gewalt, die sie entfesselt, und die Infektionsmuster, durch die sie sich verbreitet, könnten bedeutungsvoller kaum sein. Besonders verwundbar sind ältere Menschen; aber auch bei Armen und Nichtweißen ist die Sterberate alarmierend, besonders bei Afroamerikanern und Latinos, die in den USA ohnehin Opfer des medizinischen Apartheidsystems sind. Die Tatsache, dass Covid-19 in den USA so vernichtend zugeschlagen hat, ist nicht nur Folge der Realitätsverleugnung, des Missmanagements und des schieren Dilettantismus, mit dem die Trump-Administration auf die Krise reagiert hat. Sie macht auch den Verfall der Infrastruktur sichtbar. Die USA gleichen heute immer mehr einem failed state.

Eine aus Pakistan stammenden Freundin erzählte mir kürzlich, wie schockiert ihre Mutter in Karatschi war, nachdem sie Bilder aus US-amerikanischen Krankenhäusern gesehen hatte. Damit steht sie nicht allein: Der furchtbare Zustand unseres öffentlichen Gesundheitssystems und die Ausweidung des Bundeshaushalts sind hierzulande hinlänglich bekannt, aber im Ausland entdecken viele erst jetzt mit Schrecken, dass das stärkste Land der Welt gegenüber dem Virus anfälliger ist als jedes andere.

Die USA sind zwar kein „Papiertiger“ (wie einst Mao meinte), aber was den Kampf gegen das Virus betrifft, doch weit weniger effektiv als Südkorea, Taiwan oder Deutschland, ja sogar als Spanien und Italien. Zur gleichen Zeit, als Trump Anfang Januar mit einem Krieg gegen Iran drohte, warnte man ihn vor den Gefahren durch das Coronavirus. Doch er entschied sich, diese Information zu ignorieren. Die USA haben sich die Covid-19-Krise also teilweise selbst eingebrockt, genau wie die anderen selbst verschuldeten Demütigungen, die das Land seit 9/11 erlebt hat: den Irakkrieg, den Hurrikan „Katrina“, die Finanzkrise – und die Präsidentschaft Trumps.

Die Todesrate wird weiter steigen – auch wegen der Erosion des öffentlichen Vertrauens, die nicht nur durch rechtsradikale Medienkasper wie Alex Jones befeuert wird, sondern auch durch Trump selbst, der zum Beispiel das ungetestete „Wundermittel“ Hydroxychloroquin als „Geschenk Gottes“ anpries5 und später über die positive Wirkung von Desinfektionsmitteln bei der Behandlung von Covid-19 fantasierte.

Der TV-Sender Fox News stört sich an Widersprüchen und Unstimmigkeiten genauso wenig wie sein geliebter Präsident. Fox News propagierte einerseits, dass Covid-19 ein Komplott sei (eingefädelt von den Chinesen oder von George Soros oder von den Demokraten oder von allen zusammen), andererseits, dass die Krankheit nicht schlimmer sei als eine Grippe. Auch religiöse Fundamentalisten haben in den Chor der Skeptiker eingestimmt, die etwa die Notwendigkeit von Social Distancing leugnen. Bei CNN erklärte eine Evangelikale in einem Interview, sie habe kein Problem, an Gottesdiensten teilzunehmen, denn sie sei „vom Blut Jesu getränkt“. Und ein ultraorthodoxer Jude meinte, er fühle sich durch seinen Schofar6 geschützt.

Eine globale Krise erfordert eine koordinierte globale Antwort. Aber eine solche Koordination ist undenkbar angesichts des Wiederauflebens eines autoritären nationalistischen Modells, das von Washington nach Kräften gefördert wurde. Deshalb leidet heute jedes Land weitgehend allein und muss sich allein um die Opfer der Epidemie kümmern.

Covid-19 trifft uns in einem Moment, da das Global Village eine ökonomische Realität ist, zugleich aber der Glaube bröckelt, der diesem Gebilde zugrunde liegt. Die gegenseitigen Abhängigkeiten innerhalb des globalen Dorfs sind eine Tatsache, ebenso wie die brutalen und gewaltigen Disparitäten, die das Ganze am Laufen halten. Die „liberalen“ Vorzüge dieses Systems, wie Wahlen und eine freie Presse, sind vornehmlich ein – schwindendes – Privileg der Menschen, die in Westeuropa und Nordamerika leben. Heute jedoch sitzt das halbe Dorf zu Hause eingeschlossen, der Himmel ist frei von Flugzeugen und klarer als je zuvor, und das ganze System ist im Pausenmodus.

Am 31. März starb Rafael Gómez Nieto im Alter von 99 Jahren in Paris an Covid-19. Nieto war das letzte überlebende Mitglied von La Nueve (die Neunte), einer Einheit der zweiten französischen Panzerdivision, die im August 1944 an der Befreiung von Paris beteiligt war. Der spanische Repu­bli­kaner hatte sich freiwillig gemeldet, weil er „zum Wohle der Menschheit kämpfen wollte“. Wie merkwürdig fremd klingen solche Gefühle heute.

„Das traurige Paradox dieses Jahrhunderts“, schreibt Maalouf in seinem Essay „Le naufrage des civilisations“, bestehe darin, „dass wir zum ersten Mal in der Geschichte die materiellen Mittel haben, um die menschliche Gattung von allen Plagen zu befreien und sie ruhig und gelassen in ein Zeitalter von Freiheit und Fortschritt, von planetarischer Solidarität und geteiltem Wohlstand zu führen; in Wirklichkeit jedoch steuern wir mit voller Kraft in die entgegengesetzte Richtung“.

Fast das gesamte 20. Jahrhundert hindurch ließen sich linke Bewegungen jeglicher Couleur – Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, Tier-Mondisten – von der Vision interna­tio­naler Solidarität leiten. Doch wie Maalouf aufzeigt, bewirkte die Globalisierung zugleich „die Schwächung aller Bewegungen und Lehrmeinungen, die für ebendieses Prinzip der einen Welt kämpfen“. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist keine Bewegung entstanden, die eine gesellschaftliche Transformation mit egalitärer Zielsetzung – das zeitgemäße „moralische Äquivalent“ des proletarischen Internationalismus – anstreben würde.

Wie konnten wir den Kompass verlieren?

Selbst die Sozialdemokratie, die das bescheidene Projekt einer Kombination von Marktwirtschaft und Sozialstaat verfolgte, wurde durch das Scheitern des Kommunismus „kontaminiert“. Denn zum einen wurde damit das Gleichheitsprinzip überhaupt entwertet; und zum anderen geriet der Staat zum Objekt eines zerstörerischen Misstrauens nicht nur seitens der Marktliberalen, sondern auch im progressiven Lager.

Die Welt „treibt steuerlos dahin“, wie Maalouf schreibt. Die Menschen sind „ohne Kompass“, und zunehmend empfänglich für die verschiedensten Arten von „magischem Denken“, sei es für religiösen Fundamentalismus, sei es für den Glauben an die „unsichtbare Hand des Markts“. Und so glauben wir, „dass wir vorankommen, während wir in Wirklichkeit nur dahintreiben“.

Wie konnten wir den Kompass verlieren? Wann kam das Schiff vom Kurs ab? Für Maalouf geschah dies 1979, im „Jahr der großen Kehrtwende“, als Thatcher und Reagan der Sozialdemokratie und dem Wohlfahrtsstaat den Krieg erklärten, als Chomeini in Iran an die Macht kam, als Deng Xiaoping sein Land gegenüber dem Weltmarkt öffnete und die Sowjetunion mit der Invasion in Afghanistan ihren Ruin einleitete. Für Maalouf machen all diese Ereignisse, so unterschiedlich sie sind, in der Summe die eine große Wende aus. Eine historische Wende, die nicht nur den Sieg der Marktideologie und des religiösen Fundamentalismus über den Kommunismus brachte, sondern auch zur Schwächung der So­zial­demokratie, des Laizismus und anderer universalistischer Ideale führte.

Maalouf beschreibt den Kalten Krieg als einen Boxkampf zwischen den USA und der Sowjetunion, mit China als Ringrichter, der am Ende die USA zum Sieger erklärte, indem es sich selbst dem Kapitalismus zuwendete. „Der Konservatismus wurde revolutionär“, zugleich wurde die Linke konservativ in dem Sinne, dass sie die Errungenschaften der Vergangenheit verteidigen musste. Das Resultat ist eine „Welt in Auflösung“, in der die meisten Menschen aufgehört haben, „an eine Zukunft des Fortschritts und des Wohlstands zu glauben“.

Wie Maalouf haben vor ihm andere argumentiert. Aber die Analyse des libanesischen Autors nährt sich aus den Erinnerungen an den Nahen Osten seiner Kindheit. Für viele seiner Genera­tion ist der Verlust einer ganzen Welt keine neue Erfahrung. In „Le naufrage“ zeigt er auf, dass die Menschen in der Levante das, was die Welt gerade erlebt, nur zu gut kennen: wie die individuellen Unterschiede zu streng abgegrenzten, antagonistischen Identitäten erstarren; wie sich fundamentalistische Strömungen und Verschwörungstheorien ausbreiten, wie Misstrauen, Angst und Überwachung immer intensiver werden; wie sich die sozialen Sicherheitsnetze auflösen.

Mit elegischer Verehrung beschreibt Maalouf das levantinische Modell multikulturellen Zusammenlebens von Muslimen, Christen und Juden, die sich gegenseitig in ihren Unterschieden respektierten. Es war ein fragiles Experiment, das durch nationalistische Leidenschaften (wie Panarabismus oder Zionismus) überschattet und am Ende begraben wurde.

Maalouf weiß, dass das alles womöglich zu nostalgisch klingt, und doch versichert er, dass dieses Modell hätte funktionieren und als Vorbild dienen können. Als ich seinen Essay zum ersten Mal las, kam er mir vor wie ein waghalsiger Sprung oder gar ein Akt magischen Denkens. Doch als ich das Buch jetzt wieder las, nach einem meiner einsamen Spaziergänge durch die verlassenen Straßen von Brooklyn, erschienen mir Maaloufs Argumente – gerade in ihrer allegorischen Kraft – noch schlagender.

Was die Levante verloren hat, ging der Welt verloren; und was wir heute erleben, lässt eine vergleichbare Logik erkennen, die nationale, ethnische und religiöse Unterschiede in globalen Dimensionen „tribalisiert“. Die Vereinigten Staaten haben sich, nachdem sie so lange die Rolle des großen Steuermanns beansprucht haben, dieser Logik der Desintegration ohne Kompass verschrieben – unter dem Banner „Make America great again“.

Maalouf zeichnet die Welt, in der Covid-19 seinen verheerenden Auftritt hat, als orientierungslos und gefährlich zugleich, zersplittert in verschiedene Gruppen, die sich gegenseitig bekriegen und dennoch alle an den einen Markt glauben. „Ich wage mir kaum vorzustellen, wie sich unsere Zeitgenossen verhalten würden, wenn unsere Städte morgen einen schweren Angriff mit nichtkonventionellen – bakteriologischen, chemischen oder nuklearen – Waffen erleben würden.“ Er muss es nicht mehr seiner Vorstellung überlassen.

1 Walter Benjamin, „Charles Baudelaire – Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus“, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1974, S. 48.

2 Amin Maalouf, „Le naufrage des civilisations“, Paris (Grasset) 2019.

3 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW, Bd. 40, S. 516.

4 Das Zitat aus dem Abschnitt: „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“, MEW, Bd. 20, S. 452.

5 Nachträglich kam heraus, dass dieses Anti-Malaria-Medikament unter anderem von einer Firma produziert wird, in die Trump investiert hat, siehe: „Trump’s Aggressive Advocacy of Malaria Drug for Treating Coronavirus Divides Medical Community“, New York Times, 6. April 2020. Inzwischen hat eine neue Studie ergeben, dass das Medikament sehr wahrscheinlich unwirksam oder gar schädlich ist. Siehe: „Studie deutet auf Wirkungslosigkeit von Malaria-Mittel hin“ Der Spiegel, 22. April 2020.

6 Blasinstrument, das im jüdischen Kult zum Beispiel zur Ankündigung des Sabbats verwendet wird und meist aus einem Widderhorn gefertigt ist.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Adam Shatz ist Redakteur und Autor bei der London Review of Books.

© LRB; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Adam Shatz