Die Lektion von Idlib
In Syrien stößt die aggressive Außenpolitik der Türkei an ihre Grenzen
von Günter Seufert
Am 27. Februar 2020 bombardierten russische Suchoi-Su-Kampfjets in der syrischen Provinz Idlib ein türkisches motorisiertes Infanteriebatallion. 36 Soldaten wurden getötet.1 Der Luftangriff war nicht nur ein tiefer Einschnitt für die türkisch-russischen Beziehungen, er offenbarte auch das Scheitern der türkischen Strategie in Syrien.
Damit markiert dieser 27. Februar den Anfang vom Ende einer aggressiven Außenpolitik, die in den letzten Jahren immer weniger Skrupel hatte, die gut geölte türkische Militärmaschinerie im Ausland einzusetzen. Letzteres belegen die vier Invasionen in Syrien, die andauernden „Operationen“ im Nordirak, der Einsatz „militärischer Berater“ in Libyen und die Machtdemonstrationen der türkischen Marine im östlichen Mittelmeer.2
Dass diese Politik an ihre Grenzen stößt, hat auch mit der Krise der türkischen Wirtschaft zu tun, die sich durch die Corona-Pandemie noch verschärfen wird. Damit wird es für Ankara immer schwieriger, militärische Abenteuer zu finanzieren. Zumal die Lektion von Idlib lautet: Selbst erfolgreiche Militäraktionen haben keinen Sinn, wenn sie nicht Teil einer wohl überlegten und langfristigen Politik sind.
Als Antwort auf den Angriff vom 27. Februar 2020 ordnete Staatspräsident Erdoğan die Operation „Spring Shield“ an: Am 29. Februar begannen türkischen Streitkräfte ihre Offensive, allerdings nur gegen die Truppen von Baschar al-Assad, weil die Türkei davor zurückschreckte, sich direkt mit Russland anzulegen. Zumal Moskau abstritt, den Luftangriff selbst durchgeführt zu haben.
Schon seit Monaten hatten sich Assads Truppen in der Provinz Idlib immer weiter nach Norden und Westen in Richtung türkische Grenze vorgekämpft. Unterstützt wurden sie von der russischen Luftwaffe, deren Flächenbombardements eine neue große Fluchtbewegung in Richtung Grenze ausgelöst hatten.
Militärisch war „Spring Shield“ ein voller Erfolg. Die Türkei hat sich seit einigen Jahren zu einem führenden Hersteller von bewaffneten Drohnen entwickelt. Diese neuen Waffen (vom Typ Bayraktar TB2 und Anka) kamen in ganzen Schwärmen zum Einsatz. Die syrische Armee wurde auch deshalb zum leichten Ziel der fliegenden Kampfroboter, weil es der türkischen Armee gelang, die russischen und syrischen Radarsysteme mittels eines hochmodernen – selbst entwickelten – Systems elektronischer Kriegsführung (Koral) zu stören und fast ganz auszuschalten.
In nur einer Woche verloren Assads Armee und ihre iranischen und libanesischen Hilfstruppen mindestens 700 Soldaten, drei Kampfflugzeuge, 3 Drohnen, 8 Hubschrauber, 135 Panzer, 86 Geschütze und 77 Truppentransporter.3 Trotz dieser imposanten militärischen Demonstration sah sich Erdoğan allerdings gezwungen, am 5. März 2020 nach Moskau zu fliegen und einen Waffenstillstandsvertrag zu unterschreiben, der die Türkei nahezu leer ausgehen ließ. Denn Ankara musste die Geländegewinne anerkennen, die Assad seit dem April 2019 gemacht hat. Ursprünglich hatte der türkische Blitzkrieg darauf gezielt, dass sich die syrischen Truppen in Idlib wieder auf die Waffenstillstandslinie zurückziehen, die Russland und die Türkei am 14. September 2017 in Sotschi ausgehandelt hatten.
Vier Monate zuvor, im Mai 2017, hatten sich Russland, die Türkei und Iran im Rahmen der Astana-Gespräche auf die Einrichtung sogenannter Deeskalationszonen geeinigt, in denen sie weitere Gefechte zwischen den sunnitisch-muslimischen Rebellen und Assads Truppen sowie den mit ihnen verbündeten Milizen unterbinden wollten. Neben Idlib wurden Ost-Ghuta bei Damaskus, Südsyrien um Daraa sowie die Region nördlich von Homs als Deeskalationszonen bestimmt.
Heute ist davon nur Idlib noch nicht von Assads Truppen erobert. In den drei anderen Gebieten herrscht längst das syrische Regime, das sich in enger Absprache mit Putin eine Zone nach der anderen einverleibt hat. Viele Einwohner und Kämpfer dieser Zonen flohen mittlerweile nach Idlib und in Gebiete, die türkisch besetzt sind, wie Afrin und die Region Dscharabulus/al-Rai/al-Bab.4 Damit wurde die Provinz Idlib zum letzten Rückzugsgebiet der Opposition und zum Zentrum des sunnitisch-muslimischen Widerstands, der mittlerweile klar von Salafisten und Dschihadisten dominiert ist.
Putin diktiert die Bedingungen
Dass auch in Idlib kein Waffenstillstand länger hielt, kam nicht überraschend. Mit dem Vorrücken der Assad-Truppen schrumpfte das von den Rebellen gehaltene Gebiet von September 2017 bis April 2019 von gut 9000 auf rund 7000 Quadratkilometer. Nach dem Waffenstillstand vom 5. März reduzierte sich das Gebiet der Rebellen nochmals auf nur noch 3000 Quadratkilometer.
Doch Erdoğan musste im Moskau noch mehr bittere Pillen schlucken: Die Abmachung sieht die Öffnung des Motorway Nr. 4 (M4) für den Verkehr zwischen Aleppo, dem wirtschaftlichen Zentrum Syriens, und der Hafenstadt Latakia vor. Beide Städte befinden sich unter Kontrolle Assads, weshalb die Öffnung der M4 ausschließlich dem syrischen Regime zugutekommt. Für die Sicherheit der Straße und einer beiderseitigen, 6 Kilometer tiefen Randzone sollen gemeinsame russisch-türkische Patrouillen sorgen.
Das Problem dabei ist, dass die M4 mitten durch das Gebiet der Dschihadisten verläuft. Die größte Gruppe der Rebellen ist die Hai’at Tahrir asch-Scham (HTS), eine Abspaltung von al-Qaida, die überall, auch in der Türkei, auf der Terrorliste steht. Daneben tummeln sich kleinere, aber ähnlich gefährliche Organisationen wie Huras al-Din, die noch immer zu al-Qaida hält, und die Islamic Party Turkestan, die von chinesischen Uiguren dominiert wird.
All diese Gruppen kämpften noch vor wenigen Wochen zusammen und zum Teil in Absprache mit der türkischen Armee gegen dieselben Feinde: gegen Russland, Assad und dessen Unterstützer. Mit der HTS hat die Türkei in den letzten beiden Jahren sogar offen kooperiert.5 Dann aber feuerten Dschihadisten am 19. März in Muhambal eine selbst gebaute Rakete auf türkische Soldaten ab, von denen zwei getötet wurden.
In der direkt an der M4 gelegenen Kleinstadt Muhambal herrscht Huras al-Din, die wie HTS die Abmachung von Moskau strikt ablehnt. Nur vier Tage zuvor hatten Kämpfer der sogenannten Nationalen Befreiungsfront (NLF) die erste türkisch-russische Patrouille auf der M4 im Ort Tronbeh gestoppt. Die NLF ist eine Koalition bewaffneter Gruppen, die auf Betreiben der Türkei gebildet wurde. Obwohl ihre Kämpfer bei Ankara im Sold stehen, traten die meisten NLF-Kommandeure an diesem Tag aus Protest gegen das Moskauer Abkommen zurück.6
Doch das größte Kopfzerbrechen bereitet Ankara ein anderer Punkt des Abkommens: Wie auch alle zuvor im Rahmen des Astana-Prozesses getroffenen Vereinbarungen nimmt es die Dschihadisten der HTS wie auch die Kämpfer kaukasischer und zentralasiatischer Herkunft vom Waffenstillstand aus. Diese Klausel erlaubt es Putin und Assad, auch den neuen Waffenstillstand fast nach Belieben zu brechen. Sie müssen in Idlib nur vermeiden, türkische Stellungen anzugreifen, und sich auf die Bekämpfung der Dschihadisten beschränken. Erdoğan hatte sich schon am 17. Oktober 2018 in Sotschi verpflichtet, die HTS und andere Terrorverbände in Idlib aufzulösen und zu entwaffnen. Ihre Kämpfer sollen nach Möglichkeit in die NLF integriert und damit neutralisiert werden. Das hat bisher nicht funktioniert.
Der Effekt war eher gegenteilig: Seit Januar 2019 hat die HTS die alleinige Kontrolle über Idlib errungen – zulasten der NLF und der sogenannten syrischen Übergangsregierung, die im türkischen Antep residiert. Dass Ankara die seit Langem zugesagte Auflösung und Entwaffnung der Dschihadisten noch nicht einmal begonnen hat, diente Putin und Assad bisher als Rechtfertigung dafür, die Kämpfe immer wieder neu anzufachen.
Das Einzige, was Erdoğan am 5. März in Moskau erreicht hat, ist, dass die türkischen Truppen vorerst in Idlib bleiben können. Ankara hatte bereits Mitte Februar etwa 2100 Militärfahrzeuge und 7000 Mann in der Provinz stationiert.7 Diese Truppen wurden nur drei Tage nach dem Waffenstillstand, am 8. März, weiter aufgestockt; bis zum 18. März hatten fast 2000 türkische gepanzerte Fahrzeuge die Grenze nach Idlib überschritten.
Derzeit dürfte die türkische Truppenstärke bei 14 000 türkischen Soldaten liegen, womit ein neuer Vorstoß Assads sicher zu parieren wäre. Zugleich kann Erdoğan mit diesen Truppen endlich gegen die Dschihadisten vorgehen, die ihrerseits den Waffenstillstand brechen. Seine Bereitschaft dazu hat er bereits im Februar angekündigt.
Damit hat Russland es geschafft, die Türkei für die Provinz Idlib verantwortlich zu machen. Das heißt: Ankara muss den Waffenstillstand überwachen, die Dschihadisten kontrollieren und mittelfristig tatsächlich entwaffnen. Zudem muss sich die Türkei um die Flüchtlinge kümmern, die von Assads Truppen aus anderen Teilen Syriens nach Idlib gedrängt wurden.
Auf den 3000 Quadratkilometern, die den Rebellen in Idlib noch verblieben sind, leben heute über 3 Millionen Menschen. Mehr als ein Drittel von ihnen sind Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens, die meisten hausen in Camps nahe der türkisch-syrischen Grenze.8 Die Grenzregion beherbergt damit auf 1000 Quadratkilometern fast 2 Millionen Menschen, das ist das Vierfache der Vorkriegsbevölkerung. Es fehlt an Lebensmitteln und Wasser, an Schulen und an der einfachsten medizinischen Versorgung.9
Assad dagegen befindet sich in einer idealen Position. Die Rebellen ist er los, ihre soziale Basis ist aufgelöst, und ihre territoriale Basis hat er stark verkleinert. Einige Beobachter sehen schon einen neuen Gazastreifen entstehen: ein schmaler überbevölkerter Streifen Land entlang der türkischen Grenze, unter der absoluten Herrschaft einer radikal religiösen Organisation, die nach innen mit harter Hand regiert und nach außen die Hand aufhält.
Die Zustände in diesem Gebiet sind schon jetzt katastrophal, aber sie werden sich noch drastisch verschlimmern, sollte sich hier das Coronavirus ausbreiten. Dann wird die Türkei auch noch für die Versorgung der Kranken in Idlib zuständig sein, denn im Nordwesten der Provinz ist sie nach der Vereinbarung mit Moskau offiziell Besatzungsmacht.
Allerdings verheißt der bisherige Umgang Ankaras mit der Epidemie nichts Gutes. Von Mitte bis Ende März kletterten die Zuwachsraten von Neuinfektionen in der Türkei bedenklich in die Höhe, wenn auch auf relativ niedrigem Niveau. Die Behörden halten Informationen zurück und schweigen über die regionale Verbreitung des Virus.10
Die Versäumnisse der Regierung in der Coronakrise werden mittlerweile stark kritisiert. Und das gilt ebenso für die Operationen in Libyen und in Idlib, die in der Bevölkerung von Anfang an nicht besonders populär waren. Die Stimmen, die nach dem Nutzen und den Kosten der Militäraktionen fragen, werden immer mehr.
2 Siehe Günter Seufert, „Die Türkei auf dem Weg zur Seemacht“, LMd, Mai 2019.
5 Sultan Al Kanj, „Reviewing the Turkey HTS relationship“, Chatham House, Mai 2019.
6 Siehe den Bericht von Charles Lister in: Middle East Institute, 16. März 2020.
8 Fabrice Balanche, „Idlib may become the next Gaza Strip“, The Washington Institute, 26. März 2020.
9 Ghosh-Siminoff (siehe Anmerkung 3).
Günter Seufert ist Forscher bei der Stiftung Wissenschaft und Politik.
© LMd, Berlin