09.04.2020

Kein bisschen Frieden

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Kein bisschen Frieden

Afghanistan wird mit dem Abkommen von Doha den Taliban ausgeliefert

von Georges Lefeuvre

Zalmay Khalilzad und Abdul Baradar haben unterschrieben, Doha, 29. Februar 2020 HUSSEIN SAYED/ap
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Am 29. Februar dieses Jahres unterzeichneten der US-Unterhändler Zalmay Khalilzad und Mullah Abdul Ghani Baradar als Vertreter der Taliban endlich das sogenannte Friedensabkommen, über das sie seit September 2018 verhandelt hatten.

Dass seit Beginn des Prozesses fälschlicherweise von „Frieden“ die Rede war, hat zu verzerrten Analysen geführt und falsche Hoffnungen geweckt. Als die Unterzeichnung verkündet wurde, führten viele Afghaninnen und Afghanen Freudentänze auf. Doch die Feierlaune verging ihnen bereits tags darauf, als die Taliban die Kampfhandlungen wieder aufnahmen.

In Wahrheit wurde zu keinem Zeitpunkt über den Frieden verhandelt1 – und zwar schon deswegen nicht, weil die afghanische Regierung bei den Verhandlungen gar nicht mit am Tisch saß. Verhandelt wurde vielmehr darüber, wie sich ein Rückzug der US-Truppen begründen und ohne allzu großen Gesichtsverlust bewerkstelligen ließ.

Immerhin galt es ein Wahlversprechen einzulösen, das US-Präsident Donald Trump im Dezember 2018 lautstark bekräftigt hatte. Und es ging darum, den Taliban als Gegenleistung vier Zugeständnisse abzuringen: Waffenruhe, Verhandlungen mit der Kabuler Regierung, die Zusicherung, dass von afghanischem Boden keine Anschläge gegen die USA angestiftet werden, und Sicherheitsgarantien für den schrittweisen Abzug der US-Truppen.

Seit der ersten Blockade im Januar 2019 hatte Zalmay Khalilzad, der selbst afghanischer Herkunft ist, bei der Taliban-Delegation trotz aller Bemühungen mehr oder weniger auf Granit gebissen. Mullah Baradar stellte die Ordnung der Dinge auf den Kopf und sperrte sich beharrlich dagegen, bis zum Abzug der US-Truppen die Waffen ruhen zu lassen und Gespräche mit der afghanischen „Marionettenregierung“ zu führen.

Die Taliban erklärten sich lediglich bereit, den sicheren Truppenabzug zu garantieren und künftig keine Terrorgruppen mehr zu unterstützen. Zweifellos hatte Trumps Erklärung vom Dezember 2018, in der er deutlich gemacht hatte, dass er die Angelegenheit vor dem Wahlkampfauftakt für seine Wiederwahl im kommenden November hinter sich bringen wollte, das Kräfteverhältnis nicht zugunsten der US-Delegation beeinflusst.

In den Straßen von Kabul war die Volksfreude nur von kurzer Dauer. Die Taliban ließen keinen Zweifel daran, dass sie sich als Sieger fühlten. Statt der Waffenruhe, die eigentlich die Vorbedingung für die Unterzeichnung des Abkommens war, gab es nur eine einwöchige sogenannte Gewaltreduzierung, und der innerafghanische Dialog kam nicht einmal ansatzweise zustande. Was die Modalitäten der praktischen Umsetzung angeht, nehmen die Zugeständnisse der Amerikaner im Vertragstext mehr Raum ein als die ziemlich unverbindlichen und schwammigen Zugeständnisse der Gegenseite.

Trump hatte ursprünglich vorschlagen, die Hälfte seiner Truppen zügig und die zweite Hälfte in vier oder fünf Jahren abzuziehen; die mehr als 8000 Soldaten der anderen Mitglieder der internationalen Koalition sollten so lange bleiben wie nötig, um den Aufbau einer afghanischen Armee zu gewährleisten. In der endgültigen Fassung des Abkommens2 verspricht Washington, binnen 14 Monaten sämtliche Soldaten und auch alle nicht im diplomatischen Dienst tätigen Zivilisten, Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste, Berater, Ausbilder und so weiter abzuziehen.

Dafür wurde ein straffer Zeitplan vereinbart: Innerhalb von 135 Tagen sollen fünf Militärstützpunkte geräumt und die Truppen um ein Drittel reduziert werden. Sonderbarerweise verpflichtet das Abkommen, obwohl es nur von den USA unterzeichnet wurde, auch die anderen Staaten der Koalition, die Personalstärke ihrer Truppen proportional zu verringern. In den folgenden neuneinhalb Monaten sollen alle internationalen Kontingente abziehen. Außerdem machten die USA im Namen der afghanischen Regierung – aber über deren Kopf hinweg – die Zusage, „vor dem 10. März“ 5000 inhaftierte Taliban-Kämpfer freizulassen und alle Taliban bis zum 27. August 2020 von ihrer Sanktions- und Kopfgeldliste zu streichen. Keine dieser Zusagen wurde bislang eingelöst.

Im Vergleich zu den ausgesprochen präzisen Zusagen von US-amerikanischer Seite wirken die Zugeständnisse der Taliban überschaubar und reichlich vage. Sie versprechen zwar Verhandlungen mit den „afghanischen Beteiligten“ („afghan sides“), aber da die Taliban die Kabuler Regierung nicht anerkennen, lässt das Abkommen offen, wer diese „Beteiligten“ sein sollen. Die Waffenruhe ist nur einer von vielen Punkten, die Gegenstand der Verhandlungen sein sollen. Indem sie einen sicheren Rückzug garantieren, handeln die Taliban im eigenen Interesse, da dieser Punkt das Herzstück dessen bildet, was sie ihren Sieg nennen.

Noch viel zweifelhafter ist die Zusage der Taliban, ihre Verbindungen zu al-Qaida zu kappen, denn die Nummer zwei in der Taliban-Führungsriege ist ausgerechnet Siradschuddin Haqqani. Der Sohn von Dschalaluddin Haqqani, dem früheren Anführer des gleichnamigen Terrornetzwerks, hält in der Taliban-Führung die Verbindung zu al-Qaida – eine Rolle, die einst sein Vater an der Seite von Mullah Omar gespielt hatte.

Letzterer hatte Osama bin Laden 1986 dabei geholfen, seinen ersten Stützpunkt in der Haqqani-Hochburg Dschadi einzurichten. Später hatte er erlaubt, dass Kämpfer aus Tschetschenien, Usbekistan und der chinesischen Provinz Xinjiang in seinem Einflussgebiet (der afghanischen Provinz Paktia und dem pakistanischen Waziristan) al-Qaida aufbauen. Dies alles ist in den Augen der Taliban ein unproblematisches Stück Geschichte. Während der Verhandlungen in Doha und auf ihrer offiziellen Website „Voice of Jihad“3 verwiesen sie darauf, dass auch sie sich längst im Kampf gegen den Terror engagieren, indem sie unermüdlich den IS bekämpfen.

Die Realität dieses Abkommens, das keine Lösungen bietet, aber in den Medien mit Schlagzeilen wie „Noch nie war Afghanistan dem Frieden so nah“ gefeiert wurde, klaffen so weit auseinander, dass man völlig sprachlos war, als die Taliban am 1. März den bewaffneten Kampf wiederaufnahmen. Die US-Nachrichtenwebsite Long War Journal zählte zwischen dem 1. und 10. März 147 Angriffe in 27 der insgesamt 35 afghanischen Provinzen. Die Taliban verschonten aber die ausländischen Streitkräfte, denn nur dazu hatten sie sich verpflichtet.

Riss durch die paschtunischen Gebiete

In der paschtunischen Version der Website „Voice of Jihad“ bekräftigte eine Fatwa, dass „die Taliban den heiligen Krieg so lange fortsetzen, bis ihr islamisches Emirat in Afghanistan Wirklichkeit geworden ist“.4 Erbost, weil er nicht konsultiert worden war, weigerte sich der afghanische Präsident Ashraf Ghani zunächst, die 5000 Häftlinge freizulassen.

Später erklärte er sich bereit, einen Teil der Inhaftierten in die Freiheit zu entlassen, und zwar nach und nach: Beginnend mit dem 7. März sollten 1500 Häftlinge freigelassen werden, jeweils 100 pro Tag. Im Anschluss sollten nach Aufnahme der von den Taliban zugesagten Verhandlungen alle zwei Wochen weitere 500 folgen, bis auch die restlichen 3500 Häftlinge die Gefängnisse verlassen hätten. Diesem Plan erteilten die Taliban eine klare Absage: Sie stellten klar, dass es keine Verhandlungen mit Kabul geben werde, solange nicht alle Inhaftierten auf freiem Fuß sind.

Drei Wochen nach seiner Unterzeichnung steckte das Abkommen von Doha in einer Sackgasse, die an die festgefahrene Situation von 2014 erinnert. Damals ging es darum, dass dem Rückzug der Nato-Truppen ein „Bilaterales Sicherheitsabkommen“ (BSA) vorausgehen sollte – eine mehr oder weniger ähnliche Situation wie heute beim Rückzug der restlichen Streitkräfte. Zur gleichen Zeit spielte sich damals eine besonders chaotische Präsidentschaftswahl ab. Der damals scheidende Präsident Hamid Karsai, dem die Verfassung eine dritte Amtszeit verwehrte, weigerte sich, das BSA zu unterzeichnen, weil er für seinen Nachfolger keine bindenden Verpflichtungen eingehen wollte.

Der Wahlprozess zog sich dann allerdings über acht Monate hin, weil Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah sich gegenseitig den Wahlsieg streitig machten. Acht lange Monate war die afghanische Staatsgewalt kopf- und führungslos, und den USA fehlten die Ansprechpartner.

Derzeit streiten dieselben Akteure um den Ausgang der Wahlen vom 28. September 2019 und beschwören damit erneut die Handlungsunfähigkeit der Exekutive herauf. Khalilzad bemüht sich nach Kräften um einen Ausweg aus der Krise, während die Taliban frohlocken, weil sie für die Verhandlungen, die am 10. März beginnen sollten, keine Gesprächspartner haben. Zehn Tage nach diesem Stichtag war noch immer keine Bewegung in Sicht.

Zwar wird sich, wie immer, auch dieses Mal eine wahrscheinlich wackelige Lösung finden, aber die verfahrene Lage damals wie heute macht die doppelte Zerrissenheit deutlich, unter der Afghanistan leidet. Der Riss, der durch die paschtunischen Gebiete geht, bildet den Nährboden für die Auf­stände, die den Taliban Zulauf bescheren.5

Der Dauerstreit zwischen Ghani und Abdullah ist ein Abbild der territorialen Spaltung: Die nichtpaschtunischen Volksgruppen des Nordens bilden die Stammwählerschaft von Abdullah, dem ehemaligen Gefährten des „Löwen von Pandschir“, Kommandant Massud (1953–2001). Dessen Anhänger sind es leid, dass die Paschtunen seit mehr als 200 Jahren ein politisches Übergewicht haben. Ghanis Anhängerschaft erstreckt sich zwar über ethnische Trennlinien hinweg, doch den größten Zuspruch erhält er im Stammgebiet der paschtunischen Ahmadzai, zu denen er selbst gehört.

Solche Feinheiten der Geschichte und der politischen Ethnologie, die allein die Erklärung für das hartnäckige Aufstandspotenzial liefern, finden bei den US-Strategen wenig und bei Trump gar keine Beachtung. Ein ethnologisch fundiertes Konzept für die Aussöhnung der afghanischen Nation hätte auch keine Wunder vollbracht, aber zumindest das große Comeback der Taliban erschwert.

Doch das hat sich nun erledigt: Das Abkommen von Doha ist kein Friedensvertrag, sondern besiegelt nur das Wiedererstarken jener Kräfte, die von einer Koalition aus 38 Staaten unter Führung der schlagkräftigsten Armee der Welt eigentlich bis zum letzten Mann hatten bezwungen werden sollen.

1 Siehe Georges Lefeuvre, „Werben um die Taliban“, LMd, April 2019.

2 Abrufbar auf der Website der US-Regierung: „Agreement for Bringing Peace to Afghanistan“, 29. Februar 2020, www.state.gov.

3 www.alemarahenglish.com.

4 Voice of America, Washington, 7. März 2020.

5 Siehe Georges Lefeuvre, „Afghanische Patrioten“, LMd, Oktober 2010.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Georges Lefeuvre war EU-Berater in Pakistan und arbeitet am Institut de relations internationales et stratégiques (Iris).

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Georges Lefeuvre