09.04.2020

Ölriese zum Verkauf

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Ölriese zum Verkauf

Die Demontage von Brasiliens Staatskonzern

von Anne Vigna

Petrobras-Arbeiter streiken für den Erhalt ihres Unternehmens SILVIA IZQUIERDO/ap
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Im Februar blockierten 20 000 Streikende 130 Fabriken, Ölplattformen und Raffinerien des staatlichen brasilianischen Erdölkonzerns Petrobras. Sérgio Borges Cordeiro vom Vorstand der Ölarbeiter-Gewerkschaft Federação Única dos Petroleiros (FUP) im Bundesstaat Rio de Janeiro erklärt, man habe damit die Bevölkerung warnen wollen: „Die Regierung will Pet­robras privatisieren.“

Der Ölriese, das größte Unternehmen Lateinamerikas, konzipiert als gemischtwirtschaftliches Unternehmen, befand sich 1995 noch zu 75 Prozent im Besitz des brasilianischen Staats. Heute liegt der staatliche Anteil bei nur noch 50,2 Prozent. Glaubt man der Regierung, steht kein Verkauf von Petrobras an. Wirtschaftsminister Guedes hatte zwar im Juli 2019 ein „ehrgeiziges Programm“ zur Veräußerung von Staatsunternehmen angekündigt und in diesem Zusammenhang 17 Unternehmen genannt – von der Post über diverse Banken und die Lotteriegesellschaft bis hin zur Casa da Moeda, der Banknotendruckerei.

Auf der Liste standen auch Filetstücke wie Electrobras, der wichtigste Stromerzeuger Lateinamerikas, sowie der größte Hafen des Kontinents in Santos, Bundesstaat São Paulo. Von Petrobras war zunächst nicht die Rede. Im August 2019 erklärte Guedes dann doch seine „Absicht, das Unternehmen zu privatisieren“.1

Dieser Plan ist vor allem bei der Armee äußerst unpopulär,2 aber nicht nur dort: Laut einer Umfrage des Instituts Datafolha vom August 2019 sind 65 Prozent der Brasilianer gegen eine Privatisierung von Petrobras, 27 Prozent dafür. Die Regierung suchte nach Ausflüchten: „Es gibt seitens der brasilianischen Regierung keine Pläne für die Privatisierung von Petrobras“, versuchte Salim Mattar, der Sondersekretär für Privatisierungen beim Wirtschaftsministerium, im Februar 2020 zu beschwichtigen.

Dabei hat der Verkauf des Unternehmens bereits begonnen. „Es sieht nach einer scheibchenweisen Privatisierung aus“, sagt Felipe Coutinho, Vorsitzender der Vereinigung der Petrobras-Ingenieure (AEPET). „Die Geschäftsführung nennt es ‚Desinvesti­tions­strategie‘.“ Sie verfolgt diese Politik der kleinen Schritte zum einen deshalb, weil Petrobras so groß ist, dass nur wenige Börsen eine vollständige Privatisierung auf einen Schlag verdauen könnten. Vor allem aber soll der Kongress umgangen werden: „Bei der Privatisierung eines Staatsunternehmens als Ganzes ist die Zustimmung des Parlaments erforderlich. Die Regierung verfügt aber über keine Mehrheit im Abgeordnetenhaus und im Senat.“

Die Idee, bei der Privatisierung des Erdölriesen eine Salamitaktik anzuwenden, wurde schon von der Regierung Temer nach dem Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff entwickelt. Vor deren Amtsenthebung hatte Petrobras eine Schlüsselrolle bei der staatlichen Lenkung der Wirtschaft gespielt. Das gilt vor allem für die Zeit nach 2007, als vor der brasilianischen Küste in 5.000 bis 7.000 Metern Tiefe unter einer bis zu 2.000 Meter dicken Salzschicht gigantische Erdölvorkommen entdeckt wurden – die sogenannten Vorsalzreserven.

Während der Amtszeit Luiz Inácio Lula da Silvas von der Arbeiterpartei (PT) 2003 bis 2010 galt Petrobras als Entwicklungsmotor für die brasilianische Wirtschaft. Der immense Ölreichtum sollte genutzt werden, um Schiffswerften zu errichten, Forschung und Entwicklung zu fördern, den kleinen Zulieferbranchen zur Blüte zu verhelfen und tausende Arbeitsplätze zu schaffen. Letztlich sollte so der gesamte Industriesektor des Landes aufgewertet werden. Damals gingen bei Petrobras die Ausweitung der Erdölförderung und der Ausbau eigener Raffinerien Hand in Hand: Förderung, Verarbeitung und Verteilung wurden als eine Einheit betrachtet.

Die Absetzung von Präsidentin Rousseff am 31. August 2016 war der Wendepunkt. Die neue Geschäftsführung des Unternehmens konzentrierte sich fortan auf die Förderung der Erdölreserven aus dem Vorsalzbecken, um den finanziellen Spielraum zu vergrößern. Der größte Teil des Logistikbereichs wurde verkauft. 2017 wurden 70 Prozent des firmeneigenen Tankstellennetzes (BR Distribuidora) auf den Markt gebracht. 2019 gingen 90 Prozent des Aktienkapitals der Tochtergesellschaft Transportadora Associada de Gás (TAG), die das 4500 Kilometer lange Gasleitungsnetz im Norden Brasi­liens betreibt, für 7,8 Milliarden Euro an den französischen Energiekonzern Engie und die kanadische Caisse de Dépôt e Placement du Québec.

Petrobras fuhr seine Auslandsaktivitäten zurück, in Afrika (Nigeria, Angola, Gabun, Benin und Äquatorial-Guinea) und Lateinamerika (Argentinien, Uruguay, Chile, Kolumbien und Paraguay), wo sich das Unternehmen von seinen Joint Ventures in den Bereichen Erdölexploration und -verteilung trennte, ebenso wie in den USA. Dort markierte der Verkauf der Raffinerie Pasadena an Chevron für 509,7 Millionen Euro den Schlusspunkt dieser Entwicklung.

Das Wort Privatisierung wird möglichst vermieden

Ende Februar 2020 kündigte der Petrobras-CEO Roberto Castello Branco an, 51 Prozent der Unternehmensanteile am 10 000 Kilometer langen Gasverteilungsnetz Gaspetro verkaufen zu wollen, außerdem acht der dreizehn brasilianischen Raffinerien. Der Konzern will außerdem seine Stickstoffdüngerfabriken abstoßen, seine Projekte im Petrochemie- und Biokraftstoffbereich einstellen und seine Förderanlagen an Land und im untiefen Meer verkaufen. Das Wort Privatisierung wird dabei vermieden.

Die Strategie trägt Früchte: Im Januar 2020 übersprang Petrobras bei der Tagesfördermenge erstmals in seiner Geschichte die Marke von 4 Millionen Barrel, was einem Anstieg um 100 Prozent gegenüber 2012 entspricht.3 Nach einem Bericht der Energieagentur Rystad Energy4 ist Petrobras weltweit das Erdölunternehmen mit der am schnellsten steigenden Fördermenge. 2030 könnte Petrobras gemessen an der Fördermenge somit zum größten staatlichen Ölproduzenten aufsteigen und die russische Rosneft und die chinesische PetroChina hinter sich lassen.

2019 erzielte der brasilianische Erdölgigant ebenfalls ein Rekordergebnis, was durch den Verkauf von Anlagen, die Erhöhung der Fördermenge und die Senkung der Kosten erreicht wurde. Im selben Jahr ging die Lohnsumme um 8,9 Prozent zurück – nach einem Abbau von 22 900 Arbeitsplätzen innerhalb von vier Jahren. Die Dividenden für das Jahr 2020 werden den Ankündigungen zufolge auf umgerechnet 2,7 Milliarden Euro steigen. 2018 wurden noch 1,6 Milliarden ausgeschüttet.

Angesichts dieser Zahlen warnt William Nozaki vom Institut für strategische Studien über Erdöl, Erdgas und Biokraftstoffe (INEEP): „Petro­bras vollzieht derzeit eine gegenläufige Entwicklung. Andere Gesellschaften im selben Sektor, egal ob privat oder öffentlich, streben die Integration ihrer verschiedenen Aktivitäten an, um die gesamte Kette zu kontrollieren, von der Ölquelle bis zur Zapfsäule. Petrobras beschränkt sich künftig auf den Export von Rohöl. Das ist kaum zu verstehen, zumal das Unternehmen alle nötigen technischen Anlagen besaß, um eben nicht einfach nur Erdöl zu fördern.“

Die Folge: Brasilien hat seit 2016 zwar seine Exporte an Rohöl gesteigert – das einen geringeren Mehrwert als verarbeitete Produkte aufweist –, muss aber nun mehr Benzin und Diesel importieren. Die Rohölexporte gehen größtenteils nach China, während das importierte Benzin zu 60 Prozent aus den USA stammt. Der Ingenieurverband AEPET spricht von der „neuen Kolonie im 21. Jahrhundert“. Früher exportierte das Land Zuckerrohr und importierte Puderzucker. Heute exportiert es Rohöl und importiert Benzin – keine überzeugende Strategie, zumal der Rohölpreis wieder einmal fällt.

Petrobras hat seine Desinvesti­tions­strategie mit der Überschuldung des Unternehmens begründet. Diese, so die Geschäftsleitung, sei eine Folge der Misswirtschaft und Korruption gewesen, die ab 2014 offenbar wurde. 2015 belief sich die Verschuldung des Konzerns auf 100 Milliarden US-Dollar bei einem Umsatz von 64,3 Milliarden Dollar. Damit zählte Petrobras zu den am stärksten verschuldeten Unternehmen der Welt.

Für Adriano Pires, Consultant beim privaten Beratungsunternehmen Centro Brasileiro de Infra Estrutura, ist die Sache klar: „Die Arbeiterpartei hat Petrobras zerstört. Sie hat den Benzinpreis kontrolliert, angeblich um die Infla­tion im Zaum zu halten. Und sie hat das Unternehmen zum Bau der Raffinerien im Nordosten gezwungen, um künstlich Arbeitsplätze zu schaffen. Von der Korruption möchte ich gar nicht erst reden.“

Gilberto Bercovici, Professor für Volkswirtschaft an der Universität von São Paulo, hält dagegen: „Der Bankrott von Petrobras ist ein Mythos, mit dem die Privatisierung gerechtfertigt werden soll.“5 Schulden müssen ja nicht per se schlecht sein, solange das aufgenommene Fremdkapital genutzt wird, um in die künftige Geschäftstätigkeit zu investieren. Laut Bercovici resultiert die Verschuldung von Petrobras aus Investitionen von fast 1,5 Billionen Reais (circa 272 Milliarden Euro), die zwischen 2009 und 2014 in Technologien für Tiefseebohrungen gesteckt wurden.

„Sie hat rein gar nichts mit der Korruption zu tun, wie suggeriert werden sollte. Der Schuldenstand war zwar hoch, die Projekte rentierten sich aber. Das ist der heutige Kenntnisstand.“ In der Ölbranche gilt Petrobras mittlerweile als führend in der Förderung aus der Tiefsee.

Es sind also weniger ökonomische als ideologische Gründe, die hinter der Entscheidung zum Verkauf des Unternehmens stehen: Der jetzige CEO von Petrobras wurde von Wirtschaftsminister Guedes ernannt, mit dem ihn eine enge Freundschaft verbindet. Beide haben an der University of Chicago studiert und sind überzeugte Monetaristen, die für beschleunigte Privatisierungen eintreten. Und Präsident Bolsonaro hört auf sie. Seine Regierung veräußerte die Petrobras-Aktien aus dem Besitz der Brasilianischen Entwicklungsbank und der Staatsbank Caixa Econômica Federal, wodurch die staatliche Beteiligung von 62,7 auf 50,2 Prozent sank.

Auch mit dem Vorkaufsrecht und der automatischen Beteiligung von Petrobras an Förderlizenzen für die Vorsalz-Öllagerstätten soll Schluss sein.6 Doch die letzte große Versteigerung der Lizenzen im November 2019 war ein Flop: Die meisten Branchenriesen boten gar nicht erst mit, der Erlös blieb weit hinter den Erwartungen zurück.

Bei mehreren vorherigen Versteigerungen haben sich die Ölmultis allerdings bereits bedient: Nach Angeben von INEEP sicherten sich Exxon geschätzte 11 Milliarden, Total 6 Milliarden und BP 4 Milliarden Barrel Erdöl aus dem Vorsalzbecken. Brasilien hat auch, um multinationale Konzerne anzuziehen, seine Vorschriften zu den obligatorischen Inlandsbeteiligungen gelockert, welche ausländische Unternehmen dazu verpflichten, bei der Erdölförderung brasilianische Tools und Technologien einzusetzen.

Der Wettbewerb und die Öffnung des Landes bringe Investitionen, meint Décio Oddone, Chef der nationalen Erdölagentur ANP, die für die Regulierung des Energiemarkts zuständig ist. „Ich setze alles daran, diesen Sektor für die Konkurrenz zu öffnen, um die Investitionen zu erhöhen, die Petrobras nicht mehr stemmen kann.“ Über diese Aussage kann William No­za­ki von ­INEEP nur grinsen: „Man bekommt dauernd zu hören, der Privatsektor könne ‚endlich‘ investieren, sobald ihm der öffentliche Sektor Platz mache. Die Geschichte lehrt uns aber etwas anderes.“

1953 wollte Brasiliens Präsident Getúlio Vargas ein nationales Erdölunternehmen mit privatem Kapital betreiben. Das private Kapital hielt sich jedoch fern, weil die Exploration von Ölfeldern auf einem derart großen Staatsgebiet wenig interessant erschien. So entstand der Staatsbetrieb Petrobras. Er war 20 Jahre auf sich allein gestellt und investierte, bevor die ersten wirklich großen Erdölvorkommen entdeckt wurden.

1997 hob die neoliberale Regierung Cardoso das Monopol von Petrobras auf die Erdölreserven des Landes auf. Doch erneut trat der Privatsektor bei der Exploration nicht an die Stelle des öffentlichen Sektors. „In den zehn Jahren zwischen 1997 und 2007 ging auf dem Gebiet der Tiefseebohrungen niemand ein Risiko ein. Shell und Chevron beschäftigten sich einige Zeit mit der Frage, machten dann aber wegen des für sie zu hohen Risikos einen Rückzieher. Petrobras ergriff also allein die Initiative.“

Fazit: Für die kostspielige Explora­tion darf die öffentliche Hand herhalten, während sich der Privatsektor um die profitable Förderung kümmert.

1 „Guedes retoma processo de privatização da Petrobras iniciado na gestão Temer“, Estadão, São Paulo, 22. August 2019.

2 Siehe Raúl Zibechi, „Bolsonaro und das Militär“, LMd, Februar 2019.

3 Agência nacional do petróleo.

4 Ucube Research and Analysis, Rystad Energy, November 2019.

5 Gilberto Bercovici, „A inconstitucionalidade do regime de desinvestimento de ativos das sociedades de economia mista“, Revista de Direito, Associação dos advogados da caixa econômica federal, Brasília 2019.

6 „Perda de preferência não incomoda Petrobras“, Valor econômico, São Paulo, 21. Januar 2020.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Anne Vigna ist Journalistin in Rio de Janeiro.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Anne Vigna