09.04.2020

Das Haus von Fathiya

zurück

Das Haus von Fathiya

Frauen waren am Sturz von Omar al-Bashir maßgeblich beteiligt. Zu Besuch in Khartum, ein Jahr danach

von Charlotte Wiedemann

Gedenken an die Toten, Khartum, Januar 2020 CHARLOTTE WIEDEMANN
Das Haus von Fathiya
Chrono: Was wann geschah

Ein abgeschnittener Zopf; dünn und fest geflochten liegt er in der Hand der Sudanesin. Ihre Finger spielen damit während unseres Gesprächs, wie ein Mann mit seiner Gebetskette spielen würde. Dies ist eine säkulare Reliquie, das Haar einer unbekannten Gefährtin, gefunden draußen auf dem Sandplatz vor dem Haus, in den Tagen der Kämpfe, als sich Soldaten an Frauen vergriffen und ihnen mit einer schnellen Bewegung des Messers die Zöpfe abtrennten.

Soldaten taten auch Schlimmeres, und vielleicht deutet sich dieses andere im Akt des Abschneidens ebenso an wie im Akt des Bewahrens. Ein Jahr nach dem Sturz von Omar al-Bashir1 erinnert der Zopf an Demütigung und an Resilienz, doch vor allem daran, dass es zum Erinnern zu früh ist. Denn so vieles, eigentlich alles, ist offen im neuen Sudan, und dazu gehört, was die Frauen ernten werden aus einer Revolution, die so sehr die ihre war.

Ein Wohnzimmer in Khartum; drei Generationen von Frauen und Mädchen sind darin versammelt, wie vor einem Jahr, als sich auf dem Sandplatz draußen, wo später der Zopf lag, blutige Szenen zutrugen. Das Haus an der Ecke des Platzes, im Windschatten einer Moschee, gewährte Dutzenden Menschen Zuflucht, während im Kugelhagel des Militärs die Fensterscheiben splitterten. Fathiya Mohamed Ahmed, ein hellgrünes Tuch um ihre aufrechte Gestalt gewickelt, führte als Großmutter damals die Verteidigung an, so wie sie jetzt unangefochten das Wort führt. Sie sei hinausgetreten vor das Haus und habe den Soldaten gesagt: „Wann wir sterben, liegt in Gottes Hand. Aber wir werden eine zivile Regierung bekommen.“ Ihr Ton ist ohne Pathos.

Auf dem Sandplatz stehen am Tag meines Besuchs hunderte von Stühlen, eine Zeremonie für die Opfer der Revolution ist in Vorbereitung. In Fathiyas2 Eckhaus herrscht ein reges Kommen und Gehen; Anwälte nehmen Zeuginnenaussagen auf, für Prozesse gegen die Täter, während die Jüngeren Kartons mit Sandwiches auf den Platz tragen. Dann ein Schweigen zum Gedenken an die Toten, 20 lange Minuten, Frauen und Mädchen stehen in eigenen Blöcken, bewegungslos ernst, manche halten selbstgemalte Schilder: Strafe, Vergeltung. Nach dem Abendgebet, es ist nun dunkel, tritt die erste Rednerin auf die Bühne, eine Märtyrermutter, bis zu den Augen verschleiert, sie trägt Nikab und schwarze Handschuhe, spricht feurig ins Mikrofon, einen behandschuhten Zeigefinger anklagend in die Luft gereckt. Ihr Schleier flattert im Abendwind, wirft im Scheinwerferkegel um die schwarze Gestalt einen überlebensgroßen Schatten.

Eine revolutionäre Sudanesin mit verhülltem Gesicht, das wirft Fragen auf, zumal für den westlichen Blick, der nach eindeutigen Bildern sucht. Sie sind im Sudan oft nicht zu finden. Frauen setzten ihr Leben auf Spiel, um eine islamistische Diktatur zu stürzen, die das Tragen einer Hose mit Peitschenhieben ahndete. Im Eckhaus von Fathiya trägt die neue Freiheit indes keine neuen Kleider. Alle hüllen sich genauso wie vorher in große Tücher, Tobes,3 und lange Röcke, und Fathiya lässt durchblicken, dass sie Hosen missbilligen würde.

Nicht weit von ihrem Haus sprühten Graffiti-Künstlerinnen auf verwitterte Mauern die Silhouetten von Kämpferinnen mit Küchenutensilien (siehe nebenstehendes Bild). Frauen stellten die Mehrheit auf Demonstrationen, gebildete wie ungebildete, alte wie junge. Das macht den Aufstand, neben seiner Gewaltfreiheit, so besonders. Doch die Sudanesinnen waren von ihrer Stärke nicht überrascht. Aus der Ferne mögen wir in ihnen nur Opfer gesehen haben, doch sie selbst waren sich längst mehr. Und sie hatten bereits eine Geschichte von Kämpfen.

Als ein Gouverneur den Frauen von Khartum per Dekret verbieten wollte, in Tankstellen, Hotels und Gaststätten zu arbeiten, erhob sich ein Aufschrei, und am Ende musste der Gouverneur gehen. Das war vor zwei Jahrzehnten. Seitdem nahm unter Bashir die Verarmung zu, viele Männer können ihre Familie nicht ernähren, jedenfalls nicht allein. Immer mehr Sudanesinnen wurden erwerbstätig, und mancher Haushalt wird heute von einer Frau geführt, obwohl das rechtlich nicht vorgesehen ist.

Wie Arbeit, Öffentlichkeit und Selbstbehauptung zusammenhängen, dafür sind die Teeverkäuferinnen ein Beispiel. Mit ein paar Höckerchen aus Drahtgeflecht, einer Handvoll Gläser und einem Wasserkessel sitzen sie an vielen Ecken von Khartum.

Die Sprecherinnen ihrer Gewerkschaft empfangen mich im ehemaligen Lagerraum eines Markts; vor den Fenstern Eisenläden, der Zementboden fleckig, die Sessel schief. Awadiya Koko, die Präsidentin, hustet und wirkt erschöpft. Geboren in den Nuba-Bergen, vertrieben von einem Bürgerkrieg, so kam sie in den 1980er Jahren nach Khartum, eröffnete später einen Teestand und erlebte die Schikanen. Für Bashirs Sicherheitskräfte, sagt Awadiya, waren die Teefrauen „wie Straßenschmutz“; ihre Stände wurden zerschlagen, Tee und Utensilien konfisziert; oft waren Schulden und Gefängnis die Folge. Zur Gegenwehr gründete Awadiya die Gewerkschaft, auch dies ist schon Jahre her, mittlerweile sind in Khartum 20 000 Teefrauen und andere Kleinsthändlerinnen organisiert. Die Revolution zu unterstützen war für viele selbstverständlich, Awadiya wurde mit einer Straßenküche zur Legende.

Emanzipation – in diesem Versammlungsraum mit dem fleckigen Zementboden bedeutet das Wort: rauer Lebenskampf. Wie es sich anfühlt, täglich zwölf Stunden auf einer staubigen heißen Straße Tee zu kochen und Gläser zu spülen und davon sämtliche Schulgebühren für die Kinder aufzubringen. Weil sich der Mann nicht beteiligt oder weil kein Mann da ist. Beim Erzählen kommen manch einer die Tränen.

Und dann, als ginge die Sonne auf, treten zwei junge Frauen ein, mit Kopftüchern aus Kunstseide und langen Mänteln anders gekleidet als die älteren in ihren pastellfarbenen Tobes. Es sind die Töchter einer Gewerkschafterin, sie verkauft Khumra, das traditionelle sudanesische Parfüm, und mit dem jahrelangen Zerstampfen von Beerensamen, Nelken, Muskatnuss und Sandelholz hat sie diese beiden Töchter zur Universität gebracht, eine ist bereits Anwältin. Welch ein Sprung in einer Generation!

Doch wirft auch dieses Bild Fragen auf. Die langen Mäntel der Töchter ähneln der arabischen Abaya, sie haben eine Mode der Golfstaaten übernommen, wie auch die Nikab-Trägerinnen. Die Zahl vollverschleierter Studentinnen sei merklich gestiegen, sagt mir ein Dozent. Manche von ihnen sind am Golf aufgewachsen, während die Eltern dort arbeiteten; für manche ist die Kleidung auch ein Statussymbol, Verweis auf einen gewissen Wohlstand. Bei den Töchtern der Marktfrau deutet der Mantel den sozialen Aufstieg an.

Als in den Tagen der Kämpfe eine 22-jährige Architekturstudentin namens Alaa Salah weiß verhüllt von einem Wagendach ihre Stimme erhob, machten westliche Medien sie rasch zum „Gesicht der Revolution“. Die Tochter einer Designerin hatte ihr Outfit mit Bedacht gewählt, doch als Botschaft an die eigenen Landsleute. Ein goldenes Ohrgehänge in Halbmond-Form erinnerte an eine Frauengestalt der späten Antike, die Kandake: Die Königinmutter hielt im nördlichen Sudan in der sakralen Machtstruktur des Meroe-Reichs die weltliche Herrschaft in Händen; ihr Sohn blieb in der Abgeschiedenheit des Tempels. Dass der Sudan weibliche Regentschaft kannte, schmeichelt dem Nationalstolz, zumal in einer Generation, die mit dem Gefühl aufwuchs, einem weithin verachteten Staat anzugehören.

Die weiße Verhüllung von Alaa Salah legte eine frischere Spur, nämlich zur sudanesischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Ab den 1940er Jahren wurde der Tobe zum Markenzeichen erwerbstätiger Frauen und früher Aktivistinnen. In einem Gewand, das den Zeitgenossen Reinheit und Bescheidenheit signalisierte, eroberten sie Räume in Beruf, Bildung und Politik. Manche Tobe-Modelle hießen „Freiheit”, „Republik” oder „Der russische Satellit“, wer sie trug, wollte teilhaben an einer aufregenden neuen Zeit, schreibt die Historikerin Marie Grace Brown.4

Emanzipation bedeutet rauen Lebenskampf

Stets in Weiß ging auch Fatima Ahmed Ibrahim, prägende Gestalt der Epoche und langjährige Präsidentin der Sudanesischen Frauen-Union. Wie andere Pionierinnen gehörte sie der großen Kommunistischen Partei an, die sich als erste für Frauen geöffnet hatte. 1965, in einer kurzen Phase erkämpfter Demokratie, wurde Fatima die erste Abgeordnete im sudanesischen Parlament und konnte manche ihrer Forderungen in der Verfassung verankern: Zumindest auf dem Papier bekamen die Sudanesinnen zwanzig Jahre früher als westdeutsche Frauen und Schweizerinnen das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Im selben Jahr erregte die erste Richterin des Sudan Aufsehen in der muslimischen Welt.

Im Wohnzimmer der Ärztin Ihsan Fagiri verbindet sich die Moderne von einst mit den Kämpfen der Gegenwart. Die 65-jährige Medizinprofessorin saß mehrfach im Gefängnis, nicht weil sie eine bekannte Kommunistin ist, sondern als Aktivistin für Frauenrechte. Emphatisch erzählt sie, wie ihr eigener Werdegang durch die Pionierinnen überhaupt erst möglich wurde. Fagiris Mutter, als Elfjährige verheiratet, kam in Kontakt zur Frauenunion, weil deren Abgesandte in die Häuser von Ungebildeten gingen, um sie über Hygiene aufzuklären. So gelangte die Tochter auf eine der Mädchenschulen, die von der Union gebaut wurden.

Fagiri holt aus dem Nebenzimmer ihr großes Tuch und macht mir vor, wie sich damals die Sitten änderten: Ihre Mutter noch bis zu den Augen verschleiert, „und ich“, sagt Fagiri, während sie das Tuch über die Knie hochzieht zum Rock, „ich ging in den 60er Jahren so!“ Mit einem staatlichen Stipendium studierte sie dann in Prag Medizin. Erst dort, im Hörsaal, vor einem anatomischen Modell der weiblichen Geschlechtsorgane realisierte sie ihre eigene genitale Verstümmelung. Das war die Kehrseite einer Gesellschaft, an deren Oberfläche es in jenen Jahrzehnten so progressive Strömungen gab. Fagiri beteiligte sich später an Kampagnen gegen die Verstümmelung der weiblichen Genitalien, die bis heute verbreitet ist. „Wir sprachen nur von Gesundheit, nie von weiblicher Lust. Unsere Gesellschaft ist sehr konservativ, wir gingen immer langsam und vorsichtig vor.“

Was machen junge Feministinnen heute anders?, frage ich sie. „Wir forderten Arbeit und Bildung, sie fordern persönliche Freiheiten, eine Freiheit des Lebensstils. Aber das allein ist mir zu eng, ich will die Gesellschaft als Ganzes befreien.“ Süffisant setzt sie hinzu: „Frauen zu empowern, damit sie anfangen, Alkohol zu trinken, ist nicht besonders schwer. Aber in Darfur gibt es tausende Kinder, die bei einer Vergewaltigung gezeugt wurden und deren Mütter Analphabetinnen sind. Wie werden sie ermächtigt?“

Emanzipation für wen und mit welchem Ziel? Die Kontroverse begann bereits im 20. Jahrhundert, zur Zeit der Pionierinnen. „Welche Priorität kann sexuelle Freiheit für eine Frau haben, deren Kind in ihren Armen verhungert?“, fragte Fatima Ibrahim.5 Emanzipation bedeute nicht Nachahmung westlicher Muster, sondern Befreiung von Analphabetentum, Rückschrittlichkeit und Armut. Rückblickend notierte sie: „Wir bestanden darauf, dass Feminismus einheimisch in unserer Kultur ist und dass volle Gleichberechtigung auf Basis unserer eigenen religiösen und kulturellen Gebote erreicht werden kann.“6

Drei Jahrzehnte später wiederholt die Ärztin Fagiri: „Wir können nicht die Erfahrungen westlicher Frauen kopieren.“ Das ist auf die Organisa­tio­nen gemünzt, die mit einem Arsenal sogenannter Capacity-Building-Programme in Khartum präsent sind. Solange sie keine politischen Ziele verfolgten, wurden sie unter Bashir geduldet. Von den Leadership-Kursen profitierten eher Privilegierte, sagt Fagiri, Frauen der Mittel- und Oberschicht. Auch nach dem Sturz des Regimes bleiben die Budgets ausländischer Sponsoren Garant von Einfluss, und er wird eifersüchtig gehütet.

Wie zur Mitte des 20. Jahrhunderts kommen bekannte Wortführerinnen für Frauenrechte häufig aus sudanesischen Elite-Familien, manche mit antikolonialer Tradition – denn die Briten förderten nur die Jungen-Bildung, für den Nachwuchs an unteren Kolonialbeamten. Was die Herkunft betrifft, begannen sich also bereits damals Feminismus und Klassenfrage zu verstricken. Als 1956 die ersten Akademikerinnen die Universität verließen, waren 96 Prozent der Sudanesinnen noch Analphabetinnen.7 In abgemilderter Form hält das Ungleichgewicht bis heute an. Die Revolution war eine Bühne, die für einen Moment alle einte, über soziale und ethnische Grenzen hinweg. Doch wie können künftig Kämpfe eine Richtung finden, wenn die Emanzipation von Frauen nicht in eine allgemeine Vision gesellschaftlichen Fortschritts eingebettet ist, wie es vor gut einem halben Jahrhundert der Fall war?

Im Korridor der Sudanese Organization for Research and Development (SORD) stapeln sich Taschen, Bündel und Kartons. 17 Teams sind dabei, in die 17 Provinzen jenseits der Hauptstadtregion aufzubrechen; sie sollen Frauen ausfindig machen, die fähig und willens sind, im Gesetzgebenden Rat mitzuwirken. Das 300-köpfige Gre­mium wird über die Gestalt des postrevolutionären Sudan entscheiden, Frauen wurde ein Quorum von 40 Prozent der Sitze zugesichert. „Aber wir werden um die Einhaltung kämpfen müssen; darum wollen wir möglichst viele fähige Frauen präsentieren“, sagt Asha Elkarib. Die SORD-Gründerin, eine Agrarökonomin mit britischem Doktortitel, ist eine majestätische Erscheinung, deren Stimme seit Jahren zu hören ist. „Wir beobachten, dass der Einfluss von Frauen wieder schrumpft“, sagt sie. Im Kabinett der Übergangsregierung haben sie nur 4 von 21 Posten, und überfällige rechtliche Reformen wurden noch kaum in Angriff genommen, etwa das Mindestheiratsalter für Mädchen auf 18 Jahre zu erhöhen.

Ich berichte ihr vom Besuch bei einer Familie am Vortag: vorne der Raum für männliche Gäste, hinten in Hof und Küche die Frauen, kochend, spülend. Weil Männer zu Besuch waren, mit denen sie nicht verwandt waren, betrat keine der Frauen das vordere Zimmer, wo es sich die Männer vor dem Fernseher gemütlich machten, bis die Essensplatten hereingereicht wurden. Alle im Haus hatten die Revolution unterstützt, doch schien sie die alltägliche Ordnung wenig berührt zu haben.

„Die Männer wollen ihre Prestigeposition behalten“, kommentiert Elkarib, „das Essen muss pünktlich auf dem Tisch stehen. Wenn wir genug qualifizierte und effiziente Frauen für öffentliche Angelegenheiten haben wollen, muss sich diese Arbeitsteilung ändern; Männer müssen Aufgaben im Haus übernehmen.“ Das Thema sei sensibel, viele Frauen brächten es nur verschämt zur Sprache. „Wir sitzen, was die Sitten betrifft, in einer Falle. Auch gebildete Männer haben ein konservatives Frauenbild, und falls sie Hausarbeit übernehmen, verbergen sie es, sobald Gäste kommen.“

Auch das sogenannte Wali-Prinzip hat die Revolution bisher nicht beseitigt: Vater und später Ehemann gelten als Vormund einer Frau; wenn sie arbeiten oder ins Ausland reisen will, braucht sie dessen Einwilligung. Im Entwurf für ein neues Familiengesetz schlägt SORD folgende Lösung vor: Werden der Ehefrau Berufstätigkeit, Stu­dium oder freie Bewegung vorenthalten, soll das ein Scheidungsgrund ein. Polygamie will SORD nicht verbieten, aber durch einen Kanon von Einschränkungen möglichst schwer machen. „Wandel braucht Zeit.“

Und doch gibt es ein Milieu, eine Nische, in der schon lange familiäre Gleichberechtigung beherzigt wird, auf Basis einer progressiven Lektüre des Islam. Sie geht auf Mahmoud Mohamed Taha zurück, einen sudanesischen Gelehrten und spirituellen Führer, er wurde 1985 als vermeintlicher Apostat öffentlich hingerichtet. Der Koran enthalte zwei Ebenen von Botschaften,8 so Taha, die erste ist eine ethische Botschaft für alle Zeiten, sie findet sich in den zuerst, also in Mekka offenbarten Suren, dort wird die Gleichwertigkeit der Geschlechter betont. Die zweite Botschaft sei nur bindend gewesen für die Zeitgenossen des Propheten im 7. Jahrhundert, nämlich jene Gebote und Verbote, die Mohammed als Staatsmann der frühislamischen Gemeinde in Medina verkündete und die heute teilweise archaisch wirken.

Tahas Lehre macht es Musliminnen leicht, für gleiche Rechte einzutreten. Die Wände seines früheren Wohnhauses sind mit Zitaten geschmückt, schöne Sätze wie „Jeder Mann und jede Frau ist ein Ziel in sich selbst.“ Tahas Tochter Asma hat aus dem bescheidenen Lehmgehöft ein Kulturzentrum gemacht, das Zimmer des Vaters ist originalgetreu erhalten, ein schmales Bett neben einem blau gestrichenen Holztischchen, daran schrieb er seine Bücher, manchmal auf und ab gehend der Tochter diktierend.

Asma stellt im Gespräch die eigene Person ganz zurück hinter den Vater, dabei ist die Juristin die bekannteste Vertreterin der „Republican Sisters“, der Name hat seine Herkunft in der Republikanischen Partei, die Taha 1945 gründete, um seine Vision eines föderalen sozialistischen Sudan zu verbreiten; später wurde aus der Partei eine spirituelle Vereinigung. Die Sisters erlitten heftige Verfolgung; Asma wurde für Jahre ins Exil gezwungen.

Vergewaltigungen waren eine systematisch eingesetzte Waffe

Heute trägt sie wieder wie auf alten Fotos, die sie mit dem Vater zeigen, den weißen Tobe der emanzipatorischen Frühzeit, ohne Goldschmuck, wie bei den Sisters üblich, denn sie lehnen auch die Brautgabe ab – statt Gold lieber Rechte für die Frau. „Wir sind ein kleiner Zirkel der Gesellschaft und wir praktizieren, was wir denken. Unsere Eheverträge geben Frauen das gleiche Recht auf Scheidung, wir haben die Polygamie abgeschafft, und mein Mann teilt sich mit mir die Hausarbeit.“

Seit der Revolution kann sie endlich öffentlich tätig sein im Sinne des Vaters; weil Tahas Bücher verboten waren, hielten ihn viele Sudanesen tatsächlich für einen Abtrünnigen. Nun werden im Kulturzentrum Vorlesungen gehalten; junge Leute, hofft Asma, fänden auf neue Weise relevant, wie Taha Freiheit, Demokratie und Religion versöhnte. Vielleicht täuscht sie sich, und die Zeit ist über den verehrten Vater hinweggegangen. Doch für sie bleibt er Richtschnur; nun müsse Gesetz werden, wofür er hingerichtet wurde: gleiche Rechte, auch beim Erbe.

„Die Sudanesen müssen begreifen, wie Rechte in der Gesellschaft und in der Familie miteinander verknüpft sind. Wir müssen die Curricula an den Schulen ändern, die ganze geistige Atmosphäre islamischer Bildung. Wir müssen hart ­daran arbeiten, innerlich demokratisch zu werden.“

Vergewaltigung war bei der Bekämpfung der Revolution eine systematisch eingesetzte Waffe. Brecht die Mädchen, wurde den Soldaten und Milizionären gesagt, dann brecht ihr die Bewegung. So ist es nicht gekommen, doch hat der Sieg der Revolution von den Opfern bis heute nicht die Last der Scham genommen. Vermutlich waren es Hunderte, die in Haftzentren und Fahrzeugen vergewaltigt wurden, eine Quelle spricht gar von über tausend.

Bei einer Ermittlungskommission der Übergangsregierung sprachen nur wenige Frauen vor; da das Militär beteiligt ist, also die Seite der Täter, misstrauen die Opfer dem Verfahren. Verschwiegenheit ist das höchste Gebot; eine junge Frau, die von einer Hilfsorganisation betreut wurde, nahm sich das Leben, nachdem ihr Name an die Öffentlichkeit drang.

Ich treffe Tahani Abass, schmal, zurückhaltend, von leiser Entschiedenheit. Unter dem alten Regime hat die Journalistin Frauen im Gefängnis betreut; nun steht sie Vergewaltigten bei, zählt zu den wenigen, die deren Vertrauen besitzen.

Manche Familien seien verständnisvoll und beschützten ihre Töchter, sagt sie, aber viel häufiger würden die Mädchen beschuldigt, selbst schuld zu sein an dem, was ihnen zustieß. Von manchen Eltern hört sie gar: „Wäre unsere Tochter doch getötet worden, dann hätten wir eine Märtyrerin, die der Familie zur Ehre gereicht, und nicht diese Schande.“ Den Ruf der Familie über die Liebe zum eigenen Kind stellen, dazu neigten eher die Väter, doch erlebe sie gleichfalls grausame Mütter.

Manche Mädchen werden aus dem Haus gejagt und verstoßen. Tahani sucht für sie Unterkünfte, geheime sichere Orte. Findet sie eine solche Unterkunft, zieht sie nur möglichst wenige ins Vertrauen. Für die Nachbarn wird die Legende verbreitet, die Mädchen hätten ihre Schlafplätze im Studentenwohnheim verloren. Zu Tahanis Schützlingen zählt eine Christin; ihr Onkel, ein Priester, habe sie öffentlich verflucht.

In einer Familie fand Tahani die Tochter ans Bett gefesselt; sie aß nicht mehr. Tahanis Vermittlungsangebot wies die Familie schroff zurück. Einige Tage später versuchte das Mädchen sich in einem unbewachten Moment das Leben zu nehmen; erst jetzt suchte die Familie Rat.

Kann man sich vorstellen, dass es in einer solchen Gesellschaft Genderstudies gibt? Im Sudan steht das Dunkle manchmal brutal neben dem Hellen.

Als sich die ersten Studentinnen in Genderstudies einschrieben, auch dies ist Jahre her, schnitten sich manche die Haare kurz und begannen zu rauchen, das schien zum Feministin-Sein dazuzugehören. Nahla Hesen Medani erzählt mir diese Geschichte mit einem kleinen Lachen, ihr selbst sind solche Allüren fern.

Die 32-Jährige hat an der privaten Ahfad-Frauenuniversität ihren Master in „Gender and Governance“ mit dem Schwerpunkt Armutsbekämpfung gemacht; das trägt die Handschrift der eigenen Herkunft. Die Eltern verließen aus wirtschaftlicher Not die von Dürren geplagte Provinz Nord-Kordofan; Nahla kommt als Fünfjährige aus dem Dorf in die Region von Khartum. Weil ihre Haut dunkel ist, wird sie in der Schule mit Kindern aus dem südlichen Sudan in die hinterste Reihe gesetzt. „Ich bekam ein Gefühl dafür, was Rassismus ist, lange bevor ich das Wort kannte.“

Zu Hause sechs jüngere Geschwister und eine Mutter, die alle mit Teeverkauf und dem Kochen für Reiche durchbringt. Zum Unterhalt beizutragen, ist für Nahla normal, und als die Mutter früh verstirbt, übernimmt sie die Verantwortung. „Meine Mutter“, erinnert sie sich, „hat das Wort Frauenrechte zum ersten Mal von mir gehört.“

Der Vater, er arbeitet in einem Restaurant, taucht in ihrer Erzählung nicht auf. Sie zieht ihn nie zu Rate („es wäre unnütz, er ist altem Denken verhaftet“) und stellt ihn lieber vor vollendete Tatsachen. Über eine Reise nach Indien, für die sie als Unverheiratete eigentlich seine Zustimmung braucht – das Vormundprinzip –, informiert sie ihn mit dem gepackten Koffer in der Hand. „Ich war ihm entwachsen.“

Der Begriff bleibt haften: entwachsen sein.

Dass ihre Genitalien versehrt sind, erwähnt Nahla wie beiläufig und setzt sofort hinzu: „Ich betrachte mich nicht als Opfer.“ An der Ahfad-Universität, die Sponsorengelder für die Förderung Marginalisierter erhält, galt sie als „change agent“ aus konservativen Verhältnissen, Nahla zitiert dieses Vokabular spitz. Die Universität9 gehört einer Elitefamilie, auch hier ein Klassenhintergrund, doch bringt sie selbstbewusste junge Frauen hervor. „Ich lernte, mich wertzuschätzen und mit erhobenem Kopf zu sprechen.“ Und was auf der Change-Agenda steht, wird ihre eigene Sache sein.

Was ist Feminismus?, frage ich sie.

Manche Frauen würden sich Feministinnen nennen, weil sie Genderstudies absolviert haben oder weil sie auf einen Job bei einer westlichen Organisation hoffen. Für sie gehört zum Feministin-Sein das Handeln. „Ich war die Erste in meiner Familie, die zur Universität ging. Andere sind nachgedrängt. Es ist für eine Frau sehr wichtig, einen starken Willen zu haben. Sonst wird sie zum Opfer.“

Vielleicht hat der unbedingte Wille, kein Opfer zu sein, sie gezeichnet, mit ihrer kerzengeraden Haltung, den stets etwas kalten Händen und der leichten Traurigkeit in den Zügen, die auch bleibt, wenn sie lächelt.

Wir führen unsere Gespräche auf den Drahthöckerchen von Teefrauen, um uns herum die debattierende Jugend, die sich außer einem Tee kaum etwas leisten kann. Bei Nahla verbindet sich, was schon vor der Revolution da war und was nun geschieht – geschehen kann. „Die Erfahrung der Revolution war: Frauen können alles tun“, sagt sie. „Die Barrieren sind psychologisch, und sie sind überwindbar.“

1 Sturz im April 2019, seit Juli 2019 Machtteilung zwischen ziviler Opposition und Militär, siehe auch nebenstehende Chronik.

2 Bei rein männlichen Familiennamen wird hier der Vorname bevorzugt.

3 Von arab. thawb, auch tob, tobe, thobe. Vier Meter dünner Stoff.

4 Marie Grace Brown, „Khartoum at Night. Fashion and Body Politics in Imperial Sudan“, Redwood (Stanford University Press) 2017. S. 11 ff.

5 Zitiert nach Magdi El Gizouli, „Fatima Ahmed Ibrahim (1933–2017): emancipation as a craft“.

6 Zitiert nach Brown (siehe Anmerkung 4), S. 133.

7 Brown (siehe Anmerkung 4), S. 138.

8 Mahmoud Mohamed Taha, „The Second Message of Islam. Translation and Introduction by Abdullah Ahmed An-Na’im2, New York (Syracuse University Press) 1996.

9 Die Ahfad-Universität geht auf eine private Mädchenschule in der Kolonialzeit zurück. www.ahfad.edu.sd.

Charlotte Wiedemann ist Autorin, zuletzt erschien von ihr „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“, München (dtv) 2019.

© LMd, Berlin

Was wann geschah

Dezember 2018 Beginn landesweiter Proteste gegen die Regierung, und erste Forderungen nach dem Rücktritt von Präsident Omar al-Bashir. Der Frauenanteil unter den Demonstranten liegt Schätzungen zufolge bei 60 bis 70 Prozent. Dutzende Menschen werden von Sicherheitskräften getötet.

6. April 2019 Beginn der großen Sit-ins vor dem Militärhauptquartier in Khartum.

11. April 2019 Die Armee stellt Präsident al-Bashir unter Hausarrest und verkündet die Einrichtung eines militärischen Übergangsrats (TMC). Beginn der Verhandlungen mit Vertretern der Protestbewegung.

3. Juni 2019 Beim „Massaker von Khartum“ töten die paramilitärischen „Rapid Support Forces“ über 100 Menschen (laut sudanesischen Organisationen 240 Tote).

17. August 2019 Unterzeichnung eines Abkommens, das die Einzelheiten einer dreijährigen Übergangsperiode und neuer staatlicher Institutionen festlegt. Als oberstes Staatsorgan fungiert der elfköpfige Souveränitätsrat, dem allerdings nur zwei Frauen angehören. Das Dokument sieht die Einrichtung einer Untersuchungskommission zum Massaker von Khartum vor.

Seit September 2019 Anhaltende Proteste für Frauenrechte und gegen eine befürchtete Straffreiheit von Militärs.

März 2020 Der Ausnahmezustand infolge der Corona-Epidemie stärkt Armee und „Rapid Support Forces“.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Charlotte Wiedemann