09.04.2020

Der überfällige Abschied von der schwarzen Null

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Der überfällige Abschied von der schwarzen Null

von Ulrike Herrmann

Yuya Suzuki, City Language Sapporo, 2016, Acryl-Gouache auf Papier, 36 x 51 cm
Der überfällige Abschied von der schwarzen Null
Cura Italia

Wie stark wird die Wirtschaft durch die Corona-Epidemie leiden? Diese Frage beschäftigt Regierungen genauso wie Ökonomen. In einem Sondergutachten gehen die Wirtschaftsweisen davon aus, dass die deutsche Wirtschaftsleistung in diesem Jahr um 2,8 bis 5,4 Prozent schrumpfen könnte.1 Falls dieses Szenario tatsächlich eintritt, würde die Coronakrise glimpflicher verlaufen als die Finanzkrise: 2009 brach die deutsche Wirtschaft um 5,7 Prozent ein.

Allerdings dürfte die Coronakrise deutlich teurer werden. Der Bund rechnet damit, dass sich die staatlichen Kosten auf knapp 1,2 Billionen Euro belaufen könnten. Allein die „Rettungsschirme“ für Unternehmen umfassen inzwischen 820 Milliarden an Krediten und Garantien. Hinzu kommen Hilfen für Kurzarbeiter, Solo-Selbstständige und Kleinstfirmen.

Diese Milliardensummen sind beeindruckend, dürften aber nicht reichen. Zum einen gibt es immer noch Gruppen, die existenziell bedroht und von den Hilfen kaum erfasst sind: Dazu gehören viele Solo-Selbstständige und Kleinstfirmen, aber auch Arme und Alleinerziehende. Zum anderen handelt es sich nur um ein Notprogramm für die ersten Wochen. Die Corona-Epidemie dürfte sich aber viele Monate hinziehen, so dass weitere Rettungsprogramme unumgänglich sind.

Vor der Coronakrise lag die deutsche Staatsverschuldung bei etwa 1,9 Billionen Euro, was 59 Prozent der Wirtschaftsleistung entsprach. Nun wird der Schuldenstand wieder deutlich steigen und dürfte sogar noch höher liegen als nach der Finanzkrise: 2010 belief sich die deutsche Staatsverschuldung auf über 80 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Corona-Bonds als Alternative

Von der „schwarzen Null“, die die deutsche Politik lange bestimmt hat, redet also niemand mehr. Das ist gut so. Unter Ökonomen ist unbestritten, dass der deutsche Staat umfangreiche Schulden aufnehmen muss, um die Wirtschaft zu retten. Es kommt sogar zu einem Schulterschluss von Neoliberalen und Keynesianern, die in gemeinsamen Papieren ausreichende Staatshilfen anmahnen.2

Die Deutschen müssen nicht befürchten, dass ihr Land demnächst pleite sein könnte. Im Gegenteil. Versicherer, Banken und Investoren sind heilfroh, dass sie dem deutschen Staat Geld leihen können: Die Bundesrepublik gilt als „sicherer Hafen“, und andere Investitionen sind derzeit kaum möglich. Vor allem die Spekulation mit Aktien ist extrem riskant: Durch den Corona-Schock fielen die Börsenkurse zeitweise um bis zu 30 Prozent. Noch nie in der Finanzgeschichte sind die Aktienpreise in so kurzer Zeit so stark in die Tiefe gerauscht.

Also drängen die Anleger in die deutschen Staatsanleihen. Ende März musste die Bundesregierung für einen zehnjährigen Kredit minus 0,47 Prozent Zinsen zahlen. Bundesfinanzminister Olaf Scholz bekommt also noch Geld geschenkt, wenn er Darlehen aufnimmt.

Trotzdem fragen sich viele Deutsche besorgt, was mit dem neuen Schuldenberg passiert, wenn die Coronakrise überstanden ist. Werden die Steuern dann erhöht, damit der Staat seine Darlehen zurückzahlen kann? Dieses Szenario ist unwahrscheinlich, wie die Finanzkrise zeigt: Die Steuern wurden damals nicht angehoben. Stattdessen hoffte die Bundesregierung auf Wachstum, und dieses Kalkül ging auf. Nach der Finanzkrise legte die deutsche Wirtschaft in nur zwei Jahren um insgesamt 8,3 Prozent zu. Sobald aber die Wirtschaftsleistung steigt, nimmt die Last der Schulden relativ ab. Die Kredite wurden nicht zurückgezahlt, sondern verloren an Bedeutung.

Ein derartiger Wachstumsschub ist auch nach der Corona-Epidemie zu erwarten. Millionen Menschen werden Urlaub und Anschaffungen nachholen. In ihrem Sondergutachten gehen die Wirtschaftsweisen davon aus, dass die deutsche Wirtschaftsleistung im nächsten Jahr um stattliche 3,7 Prozent zulegt.

Trotzdem leuchtet vielen Bürgern nicht ein, warum der Staat seine Schulden nicht zurückzahlen muss. Wenn eine Familie eine Hypothek aufnimmt, um ein Haus zu kaufen, muss sie diesen Kredit doch auch abstottern. Gleiches gilt für Firmen, die Darlehen beantragen, um in ihren Maschinenpark zu investieren. Doch so naheliegend es wirkt, an den Staat die gleichen Maßstäbe anzulegen wie an seine Bürger – bei Krediten wäre es fatal.

Es würde eine schwere Wirtschaftskrise drohen, wenn die Bundesregierung plötzlich anfinge, in großem Stil ihre Schulden zurückzuzahlen. Der deutsche Staat könnte seine Kredite nämlich nur tilgen, wenn er vorher die Steuern erhöht. Doch sobald die Bürger mehr Geld an das Finanzamt abführen müssten, hätten sie selbst weniger Mittel, um zu konsumieren. Die Nachfrage würde also einbrechen, was dann in eine Wirtschaftsflaute führt. Die Coronakrise würde sich endlos verlängern.

Schon jetzt könnte es für die Wirtschaft schwierig werden, sich vom Corona-Einbruch zu erholen. Denn viele Solo-Selbstständige; Künstler und Firmen müssen staatliche Notkredite beantragen, um nicht in die Pleite zu schlittern. Doch Darlehen sind keine echten Einnahmen. Sie sind zurückzuzahlen, sobald die Coronakrise vorbei ist.

Diese neuen Privatschulden könnten jedoch die ökonomische Zukunft Deutschlands schwer belasten, wie der Keynesianer Peter Bofinger und der Neoliberale Michael Hüther gemeinsam warnen: „Die Kredite erhöhen den Verschuldungsgrad von Unternehmen und somit das Insolvenzrisiko. Sie erschweren es Unternehmen und Selbstständigen künftig, sich bei Banken zu verschulden …, wenn es um Expansion des Geschäfts und Investitionen geht.“3 Die beiden Ökonomen fordern daher direkte Zuschüsse des Staates, um zu vermeiden, dass die Coronakrise noch lange schwelt.

Die Idee ist also: Nicht Privatleute nehmen Schulden auf, um die Corona-Epidemie zu überstehen – sondern der Staat. Vielen Bürgern wird mulmig, wenn sie hören, dass ihre Regierung ständig neue Darlehen schultern soll. Droht denn keine Inflation, wenn immer mehr Geld in Umlauf kommt?

Was stimmt: Die Banken schöpfen das Geld im wahrsten Sinn des Wortes „aus dem Nichts“, wenn sie einen Kredit gewähren. Ein paar Klicks am Computer reichen, und dann ist neues Geld in der Welt. Trotzdem ist derzeit nicht mit einer Inflation zu rechnen, wenn der Staat seine Schulden erhöht. Stattdessen sinken die Preise derzeit, weil weltweit die Wirtschaft einbricht und Nachfrage fehlt.

Besonders billig ist das Öl geworden: Bis Ende März fiel der Preis um etwa 65 Prozent, so dass ein Barrel Nordseeöl nur noch 25 Dollar kostete. So billig war das Öl zuletzt im Jahr 2001.

Nicht nur Deutschland legt momentan milliardenschwere Rettungspakete auf. Weltweit versuchen die Staaten die ökonomischen Folgen der Corona-Epidemie abzumildern. Die Gruppe der 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer (G20) schätzt, dass sich die globalen Hilfsprogramme auf etwa 5 Billionen Dollar summieren dürften – was über 6 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung entspricht. Allein die USA wollen rund 2 Billionen Dollar ausgeben.

Besonders schwer wurden Italien (siehe Kasten auf Seite 10) und Spanien von der Pandemie getroffen. Die beiden Länder haben nicht nur viele Tote zu beklagen, auch ihre Wirtschaft bricht stark ein. Trotzdem will Italien seinen Staatshaushalt nur um ganze 25 Milliarden Euro erhöhen – während Deutschland längst mit hunderten Milliarden für seine Rettungsprogramme plant.

Italien hat Angst, weitere Kredite aufzunehmen, weil es bereits auf einem hohen Schuldenberg sitzt. Vor der Coronakrise beliefen sich die italienischen Staatsschulden auf etwa 2,36 Billionen Euro, was rund 136 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung entsprach. Die italienische Regierung fürchtet daher, dass sie als Pleitekandidat gelten könnte, wenn sie weitere Schulden aufhäuft – und dass dann die Risikoaufschläge steigen, die die Anleger auf den Finanzmärkten verlangen. Im März war bereits zu beobachten, dass die Zinsen für italienische Staatsanleihen deutlich zulegten. Für einen zehnjährigen Kredit musste die italienische Regierung zwischenzeitlich fast 3 Prozentpunkte mehr Zinsen zahlen als der deutsche Staat.

Italien saß in einem Teufelskreis fest: Das Land benötigt zusätzliches Geld, um die Corona-Folgen zu bekämpfen. Aber neue Schulden hätten die Risikoaufschläge nach oben getrieben, so dass der italienische Staat seine Kredite nicht mehr hätte bedienen können.

In dieser Notlage griff die Europäische Zentralbank (EZB) ein. Am 18. März kündigte sie an, dass sie bis zum Jahresende weitere 750 Milliarden Euro ausgeben würde, um die Anleihen von Unternehmen und Staaten in der Eurozone aufzukaufen. „Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliches Handeln“, twitterte EZB-Chefin Christine Lagarde. „Es gibt keine Grenzen für unser Engagement für den Euro.“

Neu ist an diesem „Pandemic Emergency Purchase Programme“ (PEPP) nicht, dass die EZB überhaupt Papiere erwirbt. Auch vor der Coronakrise war schon geplant, dass die EZB Anleihen aufkauft, um die Banken mit Geld zu fluten. Denn die Wirtschaft der Eurozone schwächelte bereits, noch bevor sie durch den Corona-Schock endgültig einbrach. Allerdings hat die EZB diese Gelder jetzt etwa vervierfacht, so dass insgesamt 1,1 Billionen Euro zur Verfügung stehen, um Papiere aufzukaufen. Auch diese Grenze ist nur vorläufig; bei Bedarf kann noch mehr Geld fließen.

Vor allem aber wendet die EZB neue Regeln an, um einzelnen Eurostaaten gezielt zu helfen.4 Bisher galt, dass die Zentralbank nur maximal 33 Prozent der Staatsanleihen eines Eurolandes aufkaufen durfte. Diese Vorschrift wurde jetzt außer Kraft gesetzt. Auch eine andere Regel wird „flexibel“ ausgelegt: Wenn die EZB Staatsanleihen erwirbt, müssen diese Papiere nicht mehr zwingend die ökonomische Bedeutung der einzelnen Eurostaaten widerspiegeln.

Bisher musste die Zentralbank immer besonders viele deutsche Staatsanleihen kaufen, weil die Bundesrepublik knapp 30 Prozent zur Wirtschaftsleistung der Eurozone beiträgt. Dieses Vorgehen war kontraproduktiv, da die Zinsen für deutsche Staatsanleihen sowieso schon im Minusbereich liegen und nicht weiter gedrückt werden müssen. Jetzt kann die EZB partiell in den Markt eingreifen, um beispielsweise die Zinsen für Italien zu senken.

In Deutschland hält sich hartnäckig das Bild, dass die Italiener an ihrer Misere selbst schuld seien. Gern wird das Bild bemüht, die „Südländer“ könnten nicht wirtschaften und würden immer nur auf Pump leben. Doch dieses Vorurteil ist falsch. Italien hat zwar hohe Staatsschulden, aber diese Kredite sind alt und werden seit Jahrzehnten verlässlich bedient.

Die Italiener wirtschaften so sparsam wie die Deutschen, wie sich am sogenannten Primärüberschuss erkennen lässt. Damit ist das Plus im Staatshaushalt gemeint, wenn man die Kreditkosten für die Schulden abzieht. Italien kommt auf einen Primärüberschuss von 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung – und liegt damit sogar über dem Durchschnitt in der Eurozone.5

Zudem war es für die Italiener viel schwerer als für die Deutschen, einen Primärüberschuss zu erzielen, denn die italienische Wirtschaftsleistung stagniert seit zwanzig Jahren. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt hingegen legte in der gleichen Zeit um mehr als 30 Prozent zu.

Oder anders gerechnet: Hätten die Italiener ein Wachstum genossen wie die Deutschen, dann lägen ihre Staatsschulden heute nicht bei 136 Prozent der Wirtschaftsleistung, sondern nur bei rund 100 Prozent. Italien befände sich in einer Liga mit Belgien und Frankreich, die als vorbildliche Euroländer gelten.

Das permanente Spardiktat hat tiefe Spuren in Italien hinterlassen. Die Steuern wurden erhöht und die So­zial­leistungen abgesenkt. Auch im Gesundheitswesen musste stark gekürzt werden, was nun dazu führt, dass nicht genug Intensivbetten für die Corona-Patienten zur Verfügung stehen. Der Sparkurs war im wahrsten Sinne des Wortes tödlich. Für Italien wird die Coronakrise existenziell. Läden, Restaurants und viele Fabriken sind geschlossen – ohne dass die Regierung ausreichend Mittel hätte, Arbeitslose und Selbstständige zu unterstützen.

Auch Deutschland bliebe nicht verschont, wenn die italienische Wirtschaft schlingert. Italien ist die drittgrößte Volkswirtschaft in der Eurozone und einer unserer wichtigsten Handelspartner.6 Die „Nordländer“ in der Eurozone sind daher zögerlich bereit, die Italiener zu unterstützen. Allerdings stellen sich Deutsche, Niederländer, Finnen und Österreicher vor, dass die Italiener Kredite beim Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) beantragen sollen. Der ESM wurde 2012 in der Eurokrise gegründet, und dort wären momentan 410 Milliarden Euro abrufbar. Auf den ersten Blick mag dieser ESM-Plan plausibel wirken: Warum soll man nicht Gelder nutzen, die schon bewilligt sind? Außerdem wurde bereits zugesichert, dass keine „Strukturreformen“ verlangt würden. Die Italiener müssten also nicht fürchten, dass sie später zu weiteren Sparexzessen gezwungen werden.

Trotzdem wäre es für die gesamte Eurozone extrem gefährlich, wenn man einzelne Länder nötigen würde, um ESM-Mittel nachzusuchen. Denn die Eurozone würde wieder in angeblich „gute“ und „böse“ Länder zerfallen: Deutschland wäre der „Superstar“, während Italien oder Griechenland wie Versager dastehen würden. Die Botschaft wäre, dass die „Südländer“ eigentlich Pleitestaaten sind, die nur noch künstlich am Leben gehalten werden.

Dieses Signal würden sich die Finanzmärkte für immer merken – und prinzipiell höhere Zinsen für Italien oder Griechenland verlangen. Die Eurokrise würde sich ins Unendliche verlängern. Größter Verlierer wäre übrigens Deutschland, denn bisher ist die Eurozone sein bester Kunde. Selbst neoliberale Ökonomen warnen, dass ESM-Mittel tückisch wären, weil sie ein Stigma bedeuten. Als Alternative werben sie für „Corona-Bonds“, also für Kredite, die die Eurozone gemeinsam aufnimmt. Diese Anleihen wären bombensicher, weil alle Eurostaaten haften würden, und daher so begehrt, dass die Zinsen ins Minus rutschen würden. Die Eurozone bekäme sogar Geld geschenkt.

Die Coronakrise wäre also leicht zu überwinden. Doch im Augenblick sieht es so aus, als würde die Pandemie nicht nur Menschen töten – sondern auch Europa. Die EU kann nicht überleben, wenn es noch nicht einmal im Notfall möglich ist, solidarisch zu handeln.7

1 Der Sachverständigenrat, „Die gesamtwirtschaftliche Lage angesichts der Corona-Pandemie“, Sondergutachten 2020.

2 Peter Bofinger, Sebastian Dullien, Gabriel Felbermayr, Clemens Fuest, Michael Hüther, Jens Südekum und Beatrice Weder di Mauro, „Wirtschaftliche Implikationen der Coronakrise und wirtschaftspolitische Maßnahmen“, 10. März 2020.

3 Peter Bofinger und Michael Hüther, „Her mit der Negativ-Steuer für den Mittelstand“, 27. März 2020.

4 Decision of the European Central Bank 2020/440, 24. März 2020.

5 European Central Bank, Statistical Data Warehouse.

6 Statistisches Bundesamt, Rangfolge der Handelspartner im Außenhandel, 18. März 2020.

7 EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen schlägt inzwischen ein europaweites Kurzarbeitergeld vor. Es soll 100 Milliarden Euro umfassen.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin, zuletzt: „Deutschland. Ein Wirtschaftsmärchen“, Frankfurt am Main (Westend) 2019.

© LMd, Berlin

Cura Italia

von Ulrike Herrmann

Noch nicht auf der Intensivstation, aber komplett sediert: So präsentiert sich derzeit der Patient Italien. Seit dem 11. März sind fast alle Läden – ausgenommen für Lebensmittel oder auch Computerteile – geschlossen und fast alle Dienstleister, vom Friseur bis zum Umzugsunternehmen, wurden in den Zwangsurlaub geschickt. Am 25. März folgte die Schließung aller Fabriken, die nicht Lebensnotwendiges produzieren, das macht fast 60 Prozent der industriellen Produktion aus.

Es ist bisher der härteste Lockdown in Europa, und es liegt auf der Hand, dass die Folgen verheerend sein werden, für Unternehmen, für die Beschäftigten, für kleine Selbstständige, aber auch für das Millionenheer derjenigen, die in der Schattenwirtschaft tätig sind.

Fast schon optimistisch muss man die Schätzung des Unternehmerverbands Confindustria nennen, der für das Jahr 2020 einen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 6 Prozent erwartet. Goldman Sachs zum Beispiel prognostiziert gar ein Minus von fast 12 Prozent. Der Ökonom Fabiano Schivardi rechnet damit, dass 124 000 der 720 000 italie­nischen bilanzpflichtigen Unternehmen in die Liquiditätsfalle geraten. Damit wären fast 3 Millionen Arbeitsplätze bedroht.

„Cura Italia“, „Italien heilen“, hat die Regierung ihr erstes Dekret genannt, mit dem sie die drohende ökonomische und soziale Katastrophe verhindern will. In einer ersten Tranche stehen 25 Milliarden Euro bereit, um Unternehmen und Beschäftigten unter die Arme zu greifen, vorneweg mit großzügigen Regelungen zur Kurzarbeit, aber auch mit Steuerstundungen. Kleine Selbstständige, wie zum Beispiel die Ladenbesitzer, sollen per Steuergutschrift 60 Prozent der Miete erstattet bekommen und zudem 600 Euro pro Monat erhalten, die dann im April auf 800 Euro erhöht werden sollen. Zudem gibt es Kreditgarantien für die Unternehmen; Finanzminister Roberto Gualtieri nennt die Summe von 500 Milliarden Euro, die Firmenzusammenbrüche verhindern soll.

Doch bisher ausgeschlossen waren die – immerhin fast 4 Millionen – in der Schattenwirtschaft Beschäftigten. Da sie vorher offiziell nichts verdienten, konnten sie bisher auch nichts beantragen. Knapp 3 Millionen dieser Personen leben im Süden Italiens, dort drohen jetzt Hunger und in der Folge soziale Revolten. Am letzten Wochenende gab die Regierung zunächst einmal 400 ­Millionen Euro für Einkaufsgutscheine frei, damit die Menschen wenigstens den elementaren Grundbedarf decken können.

Folgen soll aber auch ein „Quarantäne-“ oder „Notstands-Einkommen“ für die in der Schattenwirtschaft Tätigen, aber auch für freie Künstler und Journalistinnen, die bisher durchs soziale Netz fallen. 6 Milliarden Euro sollen ihr Überleben sichern. Und Italien sieht eigentlich nur einen Weg, um seine Bürger und sich selbst über Wasser zu halten: eine europäische Lösung in Form von Corona-Bonds. Mario Draghi, der frühere EZB-Präsident, erhielt Beifall aus allen politischen Lagern von rechts bis links, als er in einem von der Financial Times publizierten leidenschaftlichen Appell forderte, es sei jetzt an Europa, die richtige Antwort auf diese „Tragödie biblischen Ausmaßes“ zu finden. Und die könne nur in „einem signifikanten Anstieg bei den öffentlichen Schulden“ bestehen. ⇥Michael Braun

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Ulrike Herrmann