Warum Boris Johnsons Plan scheiterte
von Théo Bourgeron
Noch am 12. März verkündete der britische Premierminister Boris Johnson, er werde sein Land auf einen – gelinde gesagt – riskanten Weg führen. Anstatt eine radikale Abschottungsstrategie zu verfolgen wie China, Italien und Spanien, habe Großbritannien beschlossen, das Virus „einzudämmen“, aber „nicht auszurotten“, mit dem Ziel, eine „Herdenimmunität“ in der Bevölkerung herzustellen. Daher werde man weder Quarantänemaßnahmen noch Schulschließungen anordnen; auch Großveranstaltungen wie Fußballspiele vor vollen Rängen sollten weiterhin stattfinden.1
Um eine solche Herdenimmunität zu erzielen, muss ein bestimmter Durchseuchungsgrad erreicht werden. Der aber ist im Fall Corona unbekannt. Man weiß schlicht nicht, wie viele Menschen infiziert sein müssen, damit sich das neue Virus nicht länger ausbreitet. In Deutschland geht man derzeit davon aus, dass bei einem Durchseuchungsgrad von 60 bis 70 Prozent Infizierten in einer Population die Verbreitung von selbst verlangsamt ist oder gar ganz stoppt. Die Experten der britischen Regierung unterstellten pessimistisch einen Durchseuchungsgrad von 80 Prozent.
Der erhoffte Vorteil dieser Strategie? Großbritannien sollte weiterhin vom internationalen Handel profitieren, ohne spätere Ansteckungswellen fürchten zu müssen. Und die Opfer? Bis zu 500 000 Tote.2 Infolgedessen, erklärte Johnson am 12. März, müsse „jeder mit dem Verlust geliebter Menschen rechnen“.
Auf Druck der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Medien und zahlreicher Wissenschaftler ruderte der Premierminister vier Tage später zurück. Er untersagte einige Sportveranstaltungen, ließ Kranke isolieren und kündigte eine Verschärfung der Einschränkungen des öffentlichen Lebens an, und zwar in dem Maße, in dem sich die Intensivstationen des Landes füllen würden. An seiner Einschätzung der Epidemie als „unvermeidlich“ hielt er dennoch fest.
Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist der britische Ansatz gar nicht so unsinnig. Statt zu versuchen, die Epidemie auszurotten, beschränkt man sich darauf, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Die weniger anfälligen Menschen sollen sich anstecken; die Risikogruppen, also ältere oder Menschen mit Vorerkrankungen, sollen zu Hause bleiben, um später von der Immunität der Mehrheit zu profitieren.
Bislang haben zwar nur die Briten diese Strategie so unverblümt offengelegt, aber andere haben ebenfalls darüber nachgedacht. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte meinte im Grunde dasselbe, als er sagte, früher oder später würden sich 60 Prozent der Bevölkerung anstecken.3
Auch in den USA setzte man in der ersten Phase der Epidemie faktisch auf das Konzept der Herdenimmunität. Als sich Mitte März das Virus Sars-CoV-2 auszubreiten begann und die allermeisten Fälle nicht mehr auf identifizierbare Überträger zurückgeführt werden konnten, ergriff die Regierung nur minimale oder symbolische Maßnahmen wie etwa das Verbot von Flügen aus Risikogebieten.
Alle weiteren Regelungen erließen – nach Einschätzung der Risiken – die Bundesstaaten oder die örtlichen Gesundheitsbehörden. Und das in einem Land, in dem fast 27,5 Millionen Menschen keinen Zugang zu einer Krankenversicherung haben und ein Tag im Krankenhaus durchschnittlich mit 3800 Euro zu Buche schlägt. Und schließlich unterschied sich auch das französische Krisenmanagement bis zur Schließung aller Schulen und Universitäten am 12. März nicht radikal von dieser Strategie.
Das Besondere am britischen Ansatz ist gleichwohl, dass er von einem neoliberalen, tendenziell libertären Verständnis der Welt geprägt ist. In einer „offenen“ Welt mit ungleichen Gesundheitssystemen würde das Coronavirus ohnehin weiter zirkulieren, erklärte Sir Patrick Vallance, Chief Scientific Advisor der Regierung Johnson. Der ehemalige Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung des Pharmagiganten GlaxoSmithKline (GSK) geht davon aus, dass die Krankheit ohnehin jedes Jahr wiederkehren wird. Selbst wenn sie mit drastischen Maßnahmen wie in China völlig einzudämmen sei, sei es unvorstellbar, dass ein Land wie Großbritannien eine solche Abschottung länger als ein paar Wochen aushalten könne – geschweige denn über Jahre ständig neue Isolierungsphasen.
Neoliberales Epidemie-Management
Sir Patrick Vallance beruft sich auf das Konzept der „gesellschaftlichen Ermüdung“, das vom Behavioural Insights Team (Team für Verhaltensforschung) stammt. Diese Nudge Unit (Anstups-Abteilung) wurde 2014 von Premierminister David Cameron geschaffen, um Erkenntnisse der Verhaltensforschung für wichtige Regierungsentscheidungen nutzbar zu machen.4
Boris Johnson ist selbst ein glühender Anhänger der Auffassung, dass strenge Isolierungsmaßnahmen der Wirtschaft schaden und gesellschaftlich nicht auf Dauer durchzuhalten sind. Aus dieser Sicht ist der Sieg, den asiatische Länder (China, Singapur und Hongkong) mit ihren Ausgangssperren über Sars-CoV-2 errungen haben, reine Augenwischerei. Denn sobald die innere Bewegungsfreiheit und die Verbindungen mit dem Ausland wiederhergestellt sind – für die britischen Experten ein unverzichtbares Funktionsprinzip jeder Gesellschaft –, werden sich neue Infektionsherde entwickeln, auf die man wiederum mit neuen, kostspieligen Abschottungsmaßnahmen reagieren müsste.
Diese Einschätzung sieht man dadurch bestätigt, dass die neuen Krankheitsfälle in China aus dem Ausland „importiert“ werden.5 Deshalb bleibe als einzige Lösung, das Virus gewähren zu lassen und lediglich seine Ausbreitung zu verlangsamen.
Was die globale Bekämpfung von Epidemien betrifft, so hat sich ein neoliberal geprägtes Regelwerk etabliert, das vor allem durch die Weltgesundheitsorganisation umgesetzt wird. Im Sinne ihres globalen Ansatzes empfiehlt die WHO eine „offene“ Strategie gegen die Ausbreitung eines Virus: Sie ist zwar für die Abschottung von Städten und Regionen in den betroffenen Ländern, aber gegen die Schließung der Außengrenzen und gegen ein Handelsembargo für medizinisches Hilfsmaterial.
Grenzschließungen hält die WHO für kontraproduktiv, weil diese nie hundertprozentig durchgesetzt werden können, während zugleich die Rückverfolgung von Infizierten erschwert wird. Bei einem Handelsembargo für medizinische Ausrüstung befürchtet sie panische Reaktionen bis hin zu Hamsterkäufen in Ländern, die eine Ausbreitung der Epidemie erwarten, die auf Kosten der bereits betroffenen Länder gehen würden.
Die WHO fungiert als zentrales Organ eines multilateralen Regelwerks zur Bekämpfung von Pandemien in einer Welt, die aus Staaten besteht, denen eine kooperative Haltung unterstellt wird. Doch die Realität sieht anders aus: Etliche wichtige Staaten lehnen die überkommenen Spielregeln des Multilateralismus ab, an erster Stelle die USA.
Nehmen wir das Beispiel Iran: Wie sollen die WHO-Regeln für ein Land gelten, das unter einem US-Embargo steht und dem sogar humanitäre Hilfe verweigert wird?6 Wenn man das 81-Millionen-Einwohner-Land Iran zum Sars-CoV-2-Herd werden lässt, bedeutet das ständig neue Ansteckungswellen für Europa und Asien.
Die eingangs dargestellte britische Krisenstrategie stellt einen neuen Meilenstein im neoliberalen Epidemie-Management dar. Sie wurde zwischen 2010 und 2017 erarbeitet und in verschiedenen Berichten des Gesundheitsministeriums und des National Health Service (NHS) veröffentlicht. Das Konzept beruht auf Vorschlägen von Epidemiologen und Medizinern, aber auch von Sozialpsychologen und Verhaltensökonomen, die in einem Planungsgremium für Grippe-Pandemievorsorge zusammenarbeiten.
Dieses Expertengremium kam nach einer Analyse der großen Grippeepidemien des 20. Jahrhunderts (von der Spanischen Grippe von 1918/19 bis zur Schweinegrippe von 2009/10) zu dem Schluss, dass Großbritannien aufgrund seiner wirtschaftlichen Verbindungen in die ganze Welt außerstande sei, eine solche Pandemie einzudämmen.
Begründet wird diese düstere Einschätzung mit folgenden Argumenten: „Die für die moderne Welt typische Massenmobilität erlaubt es dem Virus, sich schnell auf dem gesamten Planeten zu verbreiten.“ Deshalb sei es „höchstwahrscheinlich unmöglich, das Virus in seinem Entstehungsland oder bei seiner Ankunft in Großbritannien einzugrenzen oder auszurotten.“ Alle Bemühungen in dieser Richtung „werden sicherlich nur sehr begrenzt oder teilweise wirksam sein und können daher nicht verlässlich eingesetzt werden, um Zeit zu gewinnen“.7
Die Schlussfolgerung lautet: Die britische Regierung habe gar keine andere Wahl, als die Ausbreitung des Virus zuzulassen und sich darauf zu beschränken, „die Ansteckungsspitzen zu minimieren“. Dabei sei es wichtig, „eine wirkungsvolle Kommunikation“ zu betreiben, um Panikreaktionen zu vermeiden.
Diese neue Konzeption verdeutlicht, wie sich im Rahmen des ideologischen Konsenses zwischen regierenden Konservativen – vor allem in Großbritannien und in den USA – radikal individualistische Gesundheitsdoktrinen herausgebildet haben. Zahlreiche Journalisten haben aufgezeigt, wie sich das politische Zentrum der Tories in den letzten zehn Jahren immer weiter von der rechten Mitte zu jenen Thinktanks verschoben hat, die seit der Thatcher-Ära geballt in der Tufton Street in Westminister ansässig sind. Zu radikal konservativen Denkfabriken also, die häufig auch libertär und euroskeptisch sind und den Klimawandel anzweifeln.
Diese Institutionen haben schon lange vor der Coronakrise empfohlen, die Pflichtimpfungen für Kinderkrankheiten abzuschaffen. Selbst nachdem es in Großbritannien zu neuen Masernepidemien gekommen war, erklärten einige dieser Thinktanks, die durch freiwillige Impfungen erreichte Herdenimmunität sei bereits hoch genug.8 Andere plädierten für die Einführung von Marktmechanismen. So empfahl das Adam Smith Institute, die Eltern für die Impfung ihrer Kinder zu belohnen, da die gesamte Gesellschaft profitiere, ohne die vollen Kosten zu übernehmen.9
Als die Corona-Epidemie in China grassierte, sahen viele Kommentatoren darin einen Beweis für die Überlegenheit des neoliberalen westlichen Systems gegenüber dem autoritären chinesischen Regierungsmodell. Im Radiosender France Culture bezeichnete ein Moderator die Krise als „Xi Jinpings Tschernobyl“, die wie in der Sowjetunion von 1986 die Glaubwürdigkeit der Kommunistischen Partei untergraben werde.
Einige Journalisten sahen die Chance zu einem wirtschaftliches Systemvergleich in Echtzeit gekommen: Auf der einen Seite die „autoritäre“ Kontrollgruppe (China, Hongkong, Singapur) mit der üblichen staatlichen Gängelung, also verordneter Abschottung, Beschneidung der inneren Bewegungsfreiheit und Schließung der Außengrenzen, bis das Virus vertrieben ist. Auf der anderen Seite die „demokratische“ Kontrollgruppe (westliche Länder, vorweg Großbritannien) mit staatlich organisierten Laissez-faire-Lösungen ohne Schließungs- oder Isolationsmaßnahmen, mit dem Ziel, die Infektion auf die am wenigsten gefährdeten Bevölkerungsgruppen zu lenken.
Nach Abschluss des Experiments würde man die Vor- und Nachteile beider Modelle messen können – an der Zahl der Verstorbenen, der Geschäftspleiten und am Rückgang des BIPs. Das Experiment unter realistischen Bedingungen hätte allerdings hunderttausende Tote gekostet.
Am Ende musste Johnson offenbar auch deshalb zurückstecken, weil die möglichen Reaktionen auf die Coronakrise durch die Auszehrung des Produktionssystems begrenzt werden. Seit vierzig Jahren werden in allen europäischen Unternehmen die Lagerkapazitäten reduziert, um durch Just-in-time-Produktion eine etwas höhere Kapitalrendite zu erwirtschaften und den Shareholder Value zu erhöhen.10 Mit dem Ergebnis, dass die Lieferketten der Unternehmen nun unterbrochen sind.
Auch die Staaten mussten unter dem Druck des Steuerwettbewerbs auf Einnahmen verzichten und daher ihre Ausgaben reduzieren: Die „Optimierung“ der öffentlichen Dienstleistungen bedeutete unter anderem den Abbau von Krankenhausbetten und strategisch wichtigen Reserven. Deshalb waren in Frankreich beim Ausbruch der Pandemie keinerlei Schutzmasken vom Typ FFP2 vorrätig.11
Sind die Länder, die die neoliberale Wende der 1980er Jahre vollzogen haben, überhaupt noch imstande, eine Abschottung nach dem Vorbild Chinas durchzuführen? Als Emmanuel Macron am 12. März den Schutz der Verletzlichsten unserer Gesellschaft und die Unterstützung der Unternehmer auf dieselbe Stufe stellte, lief es vielen kalt über den Rücken. Aber das ändert nichts an dem Faktum, dass es mehr als zwei Wochen braucht, um den Neoliberalismus zu überwinden: Die vordringliche Produktion von Gesundheitsdienstleistungen, Medikamenten, Schutzmasken und Beatmungsgeräten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln muss auf Basis der vorhandenen wirtschaftlichen Infrastruktur erfolgen.
Andererseits verstärkt die Pandemie aber auch die rebellischen Gefühle der Menschen, denen so viele Leiden zugemutet werden. Bei mehreren hunderttausend Toten, mit denen die Experten rechnen, beim „Verlust zahlreicher geliebter Menschen“ (wie Boris Johnson es formuliert) könnte es zu beträchtlichen Unruhen kommen.
In China hat das Virus bekanntlich heftige Proteste ausgelöst: offene Diskussionen im Internet wie nie zuvor, Barrikaden in Städten der Provinz Hubei, Demonstrationen in Hongkong gegen die Einreise von Festlandchinesen. Auch in Europa wird die Bevölkerung durch das Gefühl, dass das Virus frei zirkuliert, sehr stark verunsichert, wie aus den Umfragen hervorgeht.
Sie zeigen, dass es die Öffentlichkeit war, die Druck auf die Regierungen gemacht hat, radikalere Maßnahmen des Social Distancing zu ergreifen – und nicht umgekehrt. In Großbritannien meinten 41 Prozent der Befragten, das Vorgehen ihrer Regierung sei nicht streng genug; nur 12 Prozent hielten es für angemessen.12 Von den Maßnahmen, die in Frankreich am 12. März beschlossen wurden, wurden die Schulschließungen von 82 Prozent der Befragten unterstützt. Die geringste Zustimmung gab es dagegen für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Nahverkehrs.13 Die Umfragen zeigen also, dass wir bei der Umsetzung der neuen Gesundheitsstrategien mit Reaktionen der Bevölkerung zu rechnen haben, die sich nach dem jeweiligen Leidensdruck bemessen.
Allerdings dürfen wir den Regierungen nicht mehr Handlungsspielraum zusprechen, als sie tatsächlich besitzen. Die Pandemie macht sie zu Gefangenen des Konflikts zwischen den Produktionsstrukturen ihres Landes und dem Leiden ihrer Bürger.
Schon bei der Aids-Epidemie wurde deutlich: Es geht gar nicht um einzelne politische Entscheidungen, sondern um die Frage, ob und wie das extreme Ereignis einer Pandemie unter dem Regime der neoliberalen Akkumulation bewältigt werden kann.
Die ursprüngliche britische Strategie im Umgang mit Corona war deshalb genau dies: nur eine Doktrin. Und unter dem Druck der Betroffenen hat die Regierung Johnson den Rückzug angetreten. Solche Doktrinen sind demnach keineswegs allmächtig – und dennoch keine reinen Hirngespinste. Sie verraten uns, welche Lösungen sich die führenden Köpfe eines herrschenden Systems ausdenken, um ebendieses System vor seinen Widersprüchen und Krisen zu bewahren. Doch eine Frage stellen sie sich dabei nicht: Ob eine Ordnung, die derart unmenschliche Lösungen erfordert, überhaupt gerettet zu werden verdient.
1 „Coronavirus: Science chief defends UK plan from criticism“, The Guardian, London, 13. März 2020.
7 „UK Influenza Pandemic Preparedness Strategy 2011“, Department of Health, London 2011.
11 Siehe Bericht in: Le Figaro, 26. Februar 2020.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Théo Bourgeron forscht als Postdoc in Politikwissenschaft und Gesundheitssoziologie am University College Dublin und am Labor für Institutionen und historische Dynamiken in Wirtschaft und Gesellschaft an der Universität Nanterre (IDHES-Nanterre).