Träume von einem anderen Sozialismus
von Catherine Samary
In der Rückschau auf den Zusammenbruch des Ostblocks werden die Ereignisse der Jahre 1989 bis 1991 häufig wie auf einem naiven Bilderbogen dargeboten. Das tut zum Beispiel der prominente britische Politologe Timothy Garton Ash, wenn er die „samtenen Revolutionen“ von damals als „neues Modell der gewaltlosen Revolution“ und historischen Gegenentwurf zur russischen Oktoberrevolution von 1917 präsentiert.1
Als Paradebeispiel solcher Interpretationen dient zumeist die Tschechoslowakei, wo der Dichter und Dissident Václav Havel, der zu Zeiten des alten Regimes im Gefängnis gesessen hatte, Ende 1989 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Nach dieser gängigen Sichtweise war der Sieg des Westens am Ende des Kalten Kriegs vor allem ein Sieg der liberalen Ideologie und ihrer Verfechter.
Havel selbst hat das allerdings anders gesehen. „Die Dissidenten waren nicht vorbereitet“, meinte er zehn Jahre später in einem Interview. Er und seine Freunde hätten auf den Lauf der Ereignisse „nur minimalen Einfluss“ gehabt; entscheidend sei etwas anderes gewesen: „Für die Sowjetunion war ein Einmarsch keine Option, wenn sie keine internationale Krise heraufbeschwören und ihre ganze Politik der Perestroika über den Haufen werfen wollte.“2
Timothy Garton Ash hat bereits 1993 das Wort „Refolution“ eingeführt, das die Begriffe „Reform“ und „Revolution“ kombiniert.3 Die Wortneuschöpfung sollte den Doppelcharakter der Zeit zwischen 1989 und 1991 kennzeichnen: die Tatsache also, dass einerseits die bestehende Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung und das politische System infrage gestellt wurden (und zwar im kapitalistischen Sinne, was je nach Blickwinkel als revolutionär oder konterrevolutionär gesehen wurde), und dass andererseits dieser Umsturz mittels Reformen erfolgte, die von oben angeordnet waren.
Nehmen wir als Beispiel die Oppositionsbewegung Charta 77, zu der auch Havel selbst gehörte. Die hauptsächlich von Intellektuellen getragene Gruppe hatte seit 1977 erfolgreich Widerstand gegen die „Normalisierung“ der besetzten ČSSR geleistet. Doch die Charta 77 verfügte weder über ein allgemein akzeptiertes sozioökonomisches Zukunftsmodell noch über eine organisierte gesellschaftliche Basis.
Dabei hatte es in den Staaten des Ostblocks durchaus Vorbilder für eine demokratische Massenbewegung gegeben. Man denke an den Arbeiteraufstand in der DDR im Juni 1953, an die Arbeiterräte in Polen und Ungarn 1956, an den Prager Frühling von 1968, aus der die tschechoslowakischen Arbeiterräte hervorgingen, und schließlich an die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung Solidarność in Polen, die 1980 in Danzig begann.
Es ist diese „andere“ Geschichte, die liberale Interpreten der Ereignisse von 1989 gern unterschlagen oder verfälschen, um sie für eine antikommunistische Darstellung der Geschichte verfügbar zu machen.
Die genannten Basisbewegungen kämpften nicht etwa für die Wiederherstellung des Kapitalismus, sondern im Gegenteil für sozialistische Ideale. Wie der slowenische Philosoph Slavoj Žižek anmerkt, wünschten sich „die Menschen hinter der Mauer“ damals das Ende der Einheitspartei herbei, nicht aber den Triumph des Kapitalismus.4 Letzterer resultierte vielmehr aus Entscheidungen der alten Nomenklatura, die ihre Funktionärsprivilegien in Besitzprivilegien umwandeln konnte.
Wie diese Eliten zum Kapitalismus konvertierten, ist Gegenstand einer Fülle von Studien und Analysen.5 Unerforscht blieb dagegen die gesellschaftliche Basis der ehemaligen Einheitsparteien. Nur eines steht fest: Als diese Basis rebellierte, rief sie mitnichten nach einer Privatisierung der Produktionsmittel.
Im Sommer 1980 stellte der polnisch-französische Journalist und Linkssozialist Victor Fay die Frage, „warum ausgerechnet die polnische Arbeiterklasse immer wieder aufs Neue den Klassenkampf probt – und warum gerade jetzt“.6 Tatsächlich waren alle polnischen Unabhängigkeitskämpfe durch eine breite Mobilisierung der Arbeiterschaft gekennzeichnet, deren Verhältnis zur Kommunistischen Partei Polens, der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei), nach 1945 ebenso kompliziert war wie ihre Haltung zur schwankenden Politik des Kreml gegenüber den kommunistischen Parteien in Ostzentral- und Südosteuropa.
Unter Stalin führte diese sowjetische Politik zum Bruch mit dem jugoslawischen Präsidenten Tito, der den Konflikt zwischen dem Souveränitätsstreben eines nationalen Kommunismus und der hegemonialen Politik des Kreml deutlich machte. Entsprechend kam es parallel zu „antititoistischen“ Säuberungen in Polen, Bulgarien, Ungarn und der Tschechoslowakei, wo 1952 der infame Slansky-Prozess stattfand.7
Nach Stalins Tod bat dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die jugoslawischen Kommunisten öffentlich um Verzeihung und benannte klar Stalins Verbrechen. Das nährte die Hoffnung, dass Moskau künftig das Prinzip gleichrangiger Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten und Gesellschaften respektieren würde, das – theoretisch – innerhalb des sowjetischen Universums gelten sollte.
Jeder große demokratische Aufbruch, der zwischen 1956 und den 1980er Jahren im sowjetischen Machtbereich stattfand, hatte explizit oder de facto zum Ziel, die Diskrepanz zwischen der realen bürokratischen Unterdrückung und den Grundsätzen des Sozialismus abzubauen. 1956 zum Beispiel forderten die in Polen und Ungarn entstandenen Arbeiterräte die Absetzung der stalinistischen Parteiführungen, was auch maßgebliche Gruppen innerhalb beider KPs unterstützten. Und in Südosteuropa schlug Tito ohnehin einen eigenen „jugoslawischen Weg zum Sozialismus“ ein, der auf Selbstverwaltung durch die Arbeiter statt auf die zentral gesteuerte Planwirtschaft setzte. Zudem trieb Tito seit 1955 die Gründung der Blockfreienbewegung voran, die das Prinzip der nationalen Selbstbestimmung gegenüber den beiden großen weltpolitischen Lagern betonte.8
In Polen kehrte im Oktober 1956 Władysław Gomułka an die Spitze der PVAP zurück, aus der er 1948 ausgeschlossen worden war. Als er die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft stoppte und einen Ausgleich mit der gesellschaftlich mächtigen katholischen Kirche suchte, kam in Moskau starke Unruhe auf. Doch als sich Gomułka gegenüber dem nach Warschau gereisten Chruschtschow zum Kommunismus bekannte und den „großen sowjetischen Bruder“ zu respektieren versprach, konzentrierte der Kreml seine Kräfte darauf, das aufständische Ungarn zur Raison zu bringen.
Von der DDR 1953 bis Polen 1981
Den Polen blieb eine sowjetische Intervention erspart, aber Gomułka schränkte die Kompetenzen der Arbeiterräte ebenso ein wie die universitären Selbstverwaltungsrechte. Als die PVAP zwölf Jahre später die Autonomie der Universitäten ganz aufheben wollte, löste sie damit die studentische Rebellion von 1968 aus.
In den 1970er Jahren kam es nicht nur in Polen immer wieder zu Arbeiterstreiks gegen staatlich verordnete Preiserhöhungen, die aber das Regime der Einheitspartei nicht gefährden konnten. Deren Herrschaft im Namen – und auf dem Rücken – der Arbeiter stützte sich auf einen Gesellschaftsvertrag mit starker Bindungskraft, die auf dem doppelten Versprechen von „Gleichheit und Arbeitsplatzsicherheit“ beruhte.9
Gleichwohl machte sich das sozialistische Rechtsverständnis, wonach die Eigentümer der Produktionsmittel die Produzenten selbst sein sollen, wiederholt in der Bildung von betrieblichen Arbeiterräten geltend. Indem diese die Privilegien der kommunistischen Nomenklatura anprangerten, stellten sie klar, dass sie die Staats- und Parteiführung niemals als rechtmäßige Eigentümer der Betriebe sahen. Tatsächlich erwarb die Nomenklatura diese Eigentumsrechte erst durch die kapitalistische Restauration von 1989. Womit sie zugleich das Recht erwarb, die Fabriken zu verkaufen – und den Massen die Erfahrung kapitalistischer Arbeitslosigkeit bescherte.
In den 1970er Jahren konnten die Staatsparteien ihre Zuständigkeit für die Lenkung der Produktion dazu nutzen, ihre Herrschaft ohne offene Repression abzusichern. Die offiziellen Gewerkschaften beschränkten sich in erster Linie auf die Verteilung eines Volkseinkommens, das sich nicht in Geld ausdrückte, sondern in Leistungen, die mit der Beschäftigung in Kombinaten verknüpft waren: in Form von Wohnraum, einer betrieblichen Gesundheitsversorgung, der Nutzung von Ferienanlagen oder speziellen Einkaufsmöglichkeiten.
In der UdSSR machten solche kollektiven Sachleistungen in den 1980er Jahren über 60 Prozent des Einkommens der Arbeiterfamilien aus.10 Die logische Folge war, dass alle wirtschaftlichen Entscheidungen und Mechanismen (also auch die Preise) als politisch wahrgenommen wurden. Damit gewann jeder Streik sofort eine subversive Dynamik, denn jede wirtschaftliche Forderung begründete fast automatisch den Anspruch auf soziale Teilhabe und auf Besitzrechte, die den Streikenden als völlig legitim erschienen.
Schon in den 1960er Jahren gab es Bestrebungen, die starre Planwirtschaft zu reformieren, um die Verschwendung von Ressourcen zu reduzieren und die Produktqualität zu verbessern – allerdings ohne die Rechte der Arbeiter nennenswert zu stärken. Zwar wurden den Betrieben eine gewisse Selbstverwaltung eingeräumt und die Betriebsleiter zur Senkung der Produktionskosten angehalten, das aber stellte zugleich den beschriebenen Gesellschaftsvertrag in Frage. Die Folge war, dass solche Reformversuche entweder durch Streiks blockiert wurden – siehe Polen – oder aber soziale Bewegungen auslösten, durch die sich die Arbeiter mehr Freiheiten und innerbetriebliche Rechte erstritten, wie in der Tschechoslowakei 1968.
Im selben Jahr regte sich in Jugoslawien der Widerstand gegen den „Marktsozialismus“, als eine „linke“, von Studenten getragene Streikbewegung gegen die soziale Ungerechtigkeit und gegen die „rote Bourgeoisie“ protestierte. In Polen kam es im Dezember 1970 – ausgehend von den Werften in Danzig und Stettin – zu Proteststreiks gegen die massiven Preiserhöhungen für Grundnahrungsmittel. Gomułka erließ daraufhin den Schießbefehl für Polizei und Miliz. Das Resultat waren 45 Tote und über 1200 Verletzte, aber auch ein Umdenken der Parteiführung, die Gomułka zum Rücktritt zwang. Neuer Parteichef wurde der ehemalige Bergarbeiter Edward Gierek, der auf die Streikenden zuging und die Preiserhöhungen annullierte.11
In Polen, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und der DDR ging die Blockade der Marktreformen in den 1970er Jahren mit einer Öffnung für Westimporte einher. Damit wollte man zum einen die Konsumnachfrage bedienen, zum anderen die Produktivität mittels Technologietransfer erhöhen. Die Folge war jedoch eine steigende Verschuldung dieser Länder in harter Währung.
Die Warschauer Regierung wollte die Schuldenkrise durch eine weitere Preisreform eindämmen, die dann zum Auslöser einer Kette von Streiks, harten Verhandlungen und Machtproben wurde, in deren Verlauf sich landesweit eine autonome Gewerkschaft unter dem Namen Solidarność organisierte. Im Kampf für die Legalisierung dieser unabhängigen Gewerkschaft entwickelte sich eine starke Strömung, die eine betriebliche Selbstverwaltung anstrebte.
Solidarność hatte 10 Millionen Mitglieder, von denen 2 Millionen der PVAP angehörten. Legitimiert durch diese geballte soziale Gegenmacht, konnte sie im August 1981 ihren ersten legalen Kongress abhalten. Auf dem wurde ein Gesellschaftsentwurf beschlossen, der auf sozialistischen Prinzipien basierte und die Entscheidung über wirtschaftliche Belange durch Selbstverwaltungsorgane vorsah.
Was aber passierte zwischen dem Aufbruch von 1981 und dem „Umbruch“ von 1989? Anders gefragt: Wie ist es zu erklären, dass die Menschen in Osteuropa nach dem Fall der Mauer ohne nennenswerten Widerstand eine liberale Schocktherapie über sich ergehen ließen?
Der marxistische Intellektuelle Karol Modzelewski, ein wichtiger Berater und Wortführer von Solidarność, hatte ein Verständnis von Demokratie, das nicht an den Fabriktoren haltmachte, wie es bei Havel der Fall war. Aber auch dieser linke Oppositionelle ging in seinen 2013 publizierten Erinnerungen12 – wie Havel – davon aus, dass für den 1989 in Polen und allen Ländern Osteuropas eingeschlagenen Kurs die Lage in der UdSSR bestimmend war.
Darin zeigt sich für Modzelewski allerdings auch, dass die polnischen Arbeiter keinen Einfluss mehr auf die politische Dynamik hatten. Den Grund sieht er in der Verhängung des Kriegsrechts durch General Wojciech Jaruzelski im Dezember 1981, weil die Solidarność dadurch in den Untergrund getrieben wurde und etwa 80 Prozent ihrer Mitglieder austraten. Eine ganze Arbeitergeneration wurde damit zutiefst demoralisiert und demobilisiert.
Arbeiterräte gegen die Nomenklatura
Modzelewski unterscheidet in seiner Analyse folgerichtig zwei Arten von Solidarność: die „große“, solidarische Gewerkschaft, ein der Brüderlichkeit verpflichtetes „Kind des Sozialismus“, die das Potenzial hatte, die Geschichte voranzutreiben; und eine zweite Solidarność, die sich in der erzwungenen Illegalität grundlegend gewandelt hat und die „keine Arbeitermassenbewegung mehr war, sondern eine relativ kleine Gruppe antikommunistischer Verschwörer“.
Entsprechend konstatiert er bei der Rückkehr zur Legalität im Zuge der Verhandlungen am „runden Tisch“ von 198913 eine frontale „Kollision der Werte“. Denn jetzt gab es keinerlei Gemeinsamkeit mehr zwischen den „kollektivistischen und solidarischen“ Bestrebungen der einstigen Arbeitergewerkschaft und jener „prekären Freiheit ohne Gleichheit und ohne Brüderlichkeit“, für die sich die neue Solidarność, aber auch die prowestliche liberale Intelligenzija begeisterte.
Die neuen wie die alten „Eliten“ von 1989 sahen im Westen „eine Art Mekka“. Nach dem triumphalen Sieg in den ersten (teilweise) freien Parlamentswahlen hatte sich noch „fast jeder als Sieger“ gefühlt, schreibt Modzelewski. Aber gleich darauf begann das Auseinanderdriften von Intellektuellen und Arbeitern. Wobei Letztere einen Verlust nach dem anderen hinnehmen mussten: „Sie verloren an Einkommen, sie verloren ihren Arbeitsplatz und die vertraute Gemeinschaft ihrer abgewickelten Betriebe, sie verloren eine sichere Zukunftsperspektive und ihre gesellschaftliche Würde.“
Die „selbstverwaltete polnische Republik“, zu der sich die Solidarność in ihrem Programm bekannte, stand im Widerspruch zur kapitalistischen Restauration. Aber hätte sich eine solche Republik – sagen wir 1980 – gegen eine sowjetische Militärintervention behaupten können, wie sie zwölf Jahre zuvor die Tschechoslowakei erlebt hatte?
Werfen wir einen Blick zurück auf 1968. Wie der frühere tschechische Diplomat Karel Kovanda anmerkt, reduzieren die traditionellen Analysen das Geschehen in Prag auf den Konflikt zwischen der konservativen Bürokratie um den früheren kommunistischen Parteichef Antonín Novotný und den liberalen Reformkräften, deren Galionsfigur Alexander Dubček war. Doch dieser Konflikt, der sich vor allem um die Reform der Planwirtschaft drehte, verdeckt eine andere Spaltung, die eine mindestens ebenso zentrale Rolle spielte. Laut Kovanda zerfiel auch das progressive Lager in zwei Fraktionen: Den „liberalen Wirtschaftstechnokraten“, die geordnete „Reformen von oben“ anstrebten, standen die „radikalen Demokraten“ gegenüber, die eine „Beteiligung der Volksmassen für unabdingbar hielten, wenn die Systemveränderung mehr als nur Kosmetik sein sollte“.14
Entscheidend für den Ausgang dieser Kontroverse war die Mobilisierung der Arbeiterschaft. Um die Bevölkerung für die Reformen zu gewinnen, warb der neue KSČ-Chef Dubček für einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Diese Parole machten sich die Basisbewegungen sofort zu eigen. Wie Kovanda berichtet, gingen beim Zentralen Gewerkschaftsrat (URO) in den ersten Wochen des Jahres 1968 rund 1600 Resolutionen von Ortsverbänden ein, die den Verlust von Arbeiterrechten – auch innerhalb der offiziellen Gewerkschaft – monierten. In der Gewerkschaftszeitung Práce wurden „umfassendste Rechte für die Arbeiter“ gefordert, und ein Leitartikel in der einflussreichen Wochenzeitung Reportér rief explizit zu einer Selbstverwaltungsbewegung der Arbeiter auf.
Vor allem in den Fabriken von ČKD, dem größten Industriekomplex in Prag (Lokomotiven, Kräne, Straßenbahnen und so weiter), und bei dem Autohersteller Škoda in Pilsen formulierten die Belegschaften konkrete Satzungsvorschläge. Im April 1968 musste das Zentralkomitee der KSČ die Frage der Arbeiterräte in sein Programm aufnehmen. Der Soziologe Miloš Barta hat damals in einer Studie die Aktivitäten von 95 Arbeiterräten ausgewertet. Sein Befund: Im Zuge der Demokratisierung hatte die Idee, Arbeiterräte zu gründen, rasche Verbreitung gefunden. Im Sommer 1968 „gingen fast 350 Arbeiterkollektive davon aus, dass sie ab 1. Januar 1969 von einem Arbeiterrat geführt werden“.15
Der Siegeszug der Selbstverwaltung ließ das Projekt einer technokratisch gesteuerten Reform kollabieren. Dabei ging es nicht um den Gegensatz Konservatismus versus Reform, sondern um die Alternative radikale Demokratisierung oder Rückfall in den Bürokratismus. Als am 21. August 1968 eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts in die ČSSR einmarschierten, beschleunigte sich diese Polarisierung. Schon am 22. August fand im ČKD-Werk im Prager Stadtteil Vysočany ein außerordentlicher Parteitag der KSČ statt, der die Invasion verurteilte und ein neues Zentralkomitee wählte. Der nach Moskau verbrachte Dubček erkannte dieses neue Zentralkomitee jedoch nicht an und wurde, zusammen mit anderen führenden Reformern, zu einem Kompromiss mit dem Kreml genötigt.
Für Kovanda steht fest, dass sich der Prager Frühling nur so lange in den Herbst hinein halten konnte, wie ein effektiver Rückhalt durch die Massen organisiert werden konnte. Deshalb sah die antibürokratische Linke ihre vordringlichste Aufgabe in der „Umwandlung der Fabriken in Bastionen der Wirtschaftsdemokratie – mittels der Räte“.
Im September 1968 gab es 19 Räte; am 1. Oktober hatten 143 weitere ihre Arbeit aufgenommen. Ende Oktober, als die Panzer des Warschauer Pakts durch die Straßen von Prag rollten, erklärte die noch von Dubček angeführte Regierung, dass es „nicht angebracht ist, dieses Experiment fortzuführen“. Das löste eine Welle von Gewerkschaftsprotesten aus, die von der Presse aufgegriffen wurden. Im Januar 1969, als die Besatzung schon fünf Monate andauerte, vertraten die Räte laut Kovanda mehr als 800 000 Menschen. Das war ein Sechstel der arbeitenden Bevölkerung (die Landwirte nicht mitgerechnet). Sogar im Frühjahr 1969 wurden weitere Räte gegründet, sodass es Ende Juni insgesamt etwa 300 waren, zu denen noch 150 Vorbereitungskomitees kamen. Wobei bedeutsam war, dass auch die größten Betriebe des Landes mit von der Partie waren.
Doch die Gegenbewegung hatte bereits begonnen. Im Januar 1969 verurteilte das Präsidium der KSČ die Streiks der Studenten und Arbeiterinnen. Am 16. Januar verbrannte sich der Student Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz. Am 17. April wurde Dubček abgesetzt. Im Laufe des Sommers 1970 wurden die Arbeiterräte de facto erst ausgeschaltet und dann verboten. Damit war die „Normalisierung“ vollendet.
Ein Vertreter der parteiinternen Strömung, die für die Selbstverwaltung eintrat, war Jaroslav Šabata, der auf dem außerordentlichen Parteitag der KSČ vom 22. August 1968 ins Zentralkomitee gewählt worden war. Zwanzig Jahre später lautete sein Fazit: Die tschechoslowakischen Kommunisten sollten stolz darauf sein, dass sie auf ihrem Parteitag gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen protestiert haben. Nicht so stolz dürften sie darauf sein, dass „sie selbst zur Zersetzung der radikalen Demokratie beigetragen haben“. Und zwar obwohl der Parteitag die Prinzipien der Selbstverwaltung und Souveränität verabschiedet hatte. Wäre dieses Programm damals umgesetzt worden, argumentiert Šabata, wäre „allen Reformkräften im Ostblock und auch in der UdSSR enorm der Rücken gestärkt worden“.16
Šabata hat später die Charta 77 unterschrieben, weil er „radikale Demokratie“ auch in der kommunistischen Bewegung für unerlässlich hielt. Allerdings war es innerhalb der Charta-Bewegung keinesfalls Konsens, Demokratie auch auf gesellschaftlicher Ebene durchzusetzen, das heißt wirtschaftliche Entscheidungen kollektiv und auf der Basis gleichberechtigter sozialer Beziehungen zu treffen.
Vollends unvereinbar waren solche radikaldemokratischen Ideen mit der Art und Weise, wie sich nach 1989 im Osten und Südosten Europas der „real existierende Kapitalismus“ durchgesetzt hat.
4 „Derrière le Mur, les peuples ne rêvaient pas de capitalisme“, Le Monde, 7. November 2009.
6 Victor Fay, „Unicité du pouvoir politique et pluralité sociale et idéologique“, LMd, August 1980.
8 Siehe Jean-Arnault Dérens, „Tito, der letzte Internationalist“, LMd, August 2018.
10 David Mandel, „Perestroïka et classe ouvrière“, L’Homme et la société, Nr. 88–89, Paris 1988.
16 Jaroslav Šabata, „Invasion or our own goal“, East European Reporter, London, Herbst 1988.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Catherine Samary ist Wirtschaftswissenschaftlerin und Autorin des Buchs „D’un communisme décolonial à la démocratie des communs. Octobre 1917–2017“, das 2017 bei Éditions du Croquant erschien.