Mit Rotstift und Gummiknüppel
Die rechten Regierungen Lateinamerikas sind wirtschaftlich und sozialpolitisch gescheitert
von Renaud Lambert
Die mexikanische Wirtschaftszeitung Expansión stellte im September 2016 befriedigt fest: „Lateinamerika: Das Pendel schwingt wieder nach rechts“.1 Gerade hatte Argentinien den Unternehmer Mauricio Macri zum Präsidenten gewählt, der Industrielle Pedro Kuczynski zog in den peruanischen Präsidentenpalast ein, und in Brasilien hatte Michel Temer der Arbeiterpartei die Macht entrissen.
Und das konservative Lager wuchs weiter: 2017 wechselte der Ecuadorianer Lenín Moreno die Seiten, nachdem er mit dem Wahlversprechen, die linke Politik seines Vorgängers Rafael Correa fortzusetzen, Präsident geworden war. 2018 wurde in Chile der Milliardär Sebastián Piñera zum Staatschef gewählt.
Eine Zeitlang zeigte die lateinamerikanische Rechte großes Selbstbewusstsein. Während des Wahlkampfs wurde Macri von einem Journalisten gefragt, wie er die Inflation bekämpfen wolle, die immer wieder die nationale Wirtschaft erschüttere. Der Kandidat verdrehte die Augen, stieß einen Seufzer aus und antwortete herablassend: „Inflation ist der Beweis für die Unfähigkeit der Regierenden. Unter meiner Präsidentschaft wird man nichts davon hören.“2
Am Ende von Macris Amtszeit 2019 litt Argentinien unter einer Geldentwertung von über 50 Prozent, die zweithöchste Inflationsrate Lateinamerikas nach Venezuela. Die Armut im Land stieg, die Schulden gerieten außer Kontrolle, das Wachstum war rückläufig. Macri musste sein Scheitern eingestehen.
Woanders ist die Situation kaum besser. In Ecuador,3 Chile,4 Kolumbien und Bolivien sind die konservativen Regierungen mit den größten Protesten der jüngeren Geschichte Lateinamerikas konfrontiert. Vor allem die Mittelschicht geht auf die Straße. Die Regierungen können den Brand nicht löschen und setzen auf Repressionen, wie sie die Region seit dem Ende der Diktaturen nicht mehr erlebt hat.
In Kolumbien verhängte Präsident Iván Duque nach den Demonstrationen vom 21. November 2019 in Bogotá und Cali eine Ausgangssperre. In Ecuador starben zwischen dem 3. und dem 13. Oktober 2019 mehr als zehn Personen durch Schüsse der Ordnungskräfte. In Bolivien kontrollieren seit dem Sturz von Evo Morales im November 2019 Soldaten und Polizisten die Straßen der Großstädte. In Brasilien erklärt sich die relative Ruhe auf den Straßen weniger durch die Begeisterung für Präsident Bolsonaros Sparpolitik als durch die garantierte Straffreiheit für Soldaten, die auf Demonstranten schießen.5 Und in Chile gab es so viele Fälle von Mord, Folter und Vergewaltigung durch die Ordnungskräfte, dass gegen Präsident Piñera Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeleitet wurden.
Für Piñera sind die wahren Schuldigen klar: „Da ist eine ausländische Hand im Spiel“, erklärte er am 26. Dezember. Tatsächlich veröffentlichte das US-Außenministerium im Januar 2020 Dokumente, die nahelegten, russische Agenten versuchten die Region zu destabilisieren. Die New York Times, sicher keine große Russland-Sympathisantin, äußerte allerdings Zweifel: Es sei nicht bewiesen, dass die Twitter-Accounts, die die südamerikanischen Proteste schürten, von der russischen Regierung gesteuert werden.6
Lateinamerika gleicht einem Strand bei Ebbe. Mitte der 2000er Jahre strömte mit der steigenden Nachfrage nach Rohstoffen viel chinesisches Geld in die Region. Die mächtige Welle überschwemmte die sozialen Gegensätze, ohne sie ganz hinwegzuspülen. Der Pegel stieg und hob alle Schiffe an, manche schwammen zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre später, mit dem Nachlassen der Rohstoffnachfrage und der Preise, ging das Wasser wieder zurück, was durch die Sparpolitik der Rechten noch beschleunigt wurde. Nun tauchten die zwei Ungeheuer wieder auf, die alle kannten, auch die linken Regierungen: Korruption und Ungleichheit. Beide Begriffe sind bei den Demonstrationen in aller Munde.
In Brasilien schadete der von der traditionellen Rechten organisierte parlamentarische Staatsstreich gegen Präsidentin Dilma Rousseff 2016 am Ende der ganzen politischen Klasse und ermöglichte die Wahl Bolsonaros. Der versprach, Amtsmissbrauch im Lande auszurotten. Doch mittlerweile sieht sich der weiße Ritter der extremen Rechten selbst mit zahlreichen Affären konfrontiert. In Peru trat der damalige Präsident Kuczynski – der sein Team „Luxusregierung“ getauft hatte – schon 2018 unter der Last der Skandale zurück.7 Jetzt sitzt er im Gefängnis, wie sein Vorgänger Ollanta Humala (2011–2016). Dessen Vorgänger entgingen diesem Schicksal durch Flucht (Alejandro Toledo, 2001–2006) oder durch Selbstmord (Alan García, 2006–2011).
Was die Ungleichheit angeht, stellte die NGO Oxfam in einem Bericht von 2014 fest, diese habe im Jahr 2000 ein „Allzeithoch“ erreicht. Zwischen 2002 und 2011 sei sie jedoch gesunken, weil die Regierungen fortschrittliche Maßnahmen wie steigende öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Renten, eine progressive Besteuerung, die Schaffung von Arbeitsplätzen und einen Mindestlohn gefördert hätten. Der Bericht schlussfolgert: „Die lateinamerikanischen Erfahrungen zeigen, dass staatliche Eingriffe einen entscheidenden Einfluss auf die Ungleichheit haben können.“8
2013 lud die Financial Times zu einer Konferenz ins Lancaster House in London, um die neue Pazifik-Allianz zu feiern, ein wirtschaftlicher Zusammenschluss von Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko (alle damals unter rechten Regierungen), die mit der EU und den USA durch Freihandelsabkommen verbunden ist. Ihre Agenda gleicht einem Brevier des Neoliberalismus der 1990er Jahre: Öffnung der Märkte, Abschaffung von Zöllen, Integration der Finanzmärkte. Beim Festakt in London trat auch der Journalist John Paul Rathbone ans Rednerpult und ließ seiner Begeisterung freien Lauf: „Während manche den Washington-Konsens in der Region schon begraben sahen, wagen es einige Staaten, ‚Stopp!‘ zu sagen und erneut den Rückzug des Staats zu verlangen.“
Die Versprechen von Lancaster House prägten in den folgenden Jahren die Regierungspolitik der meisten Staaten Lateinamerikas. Der brasilianische Wirtschaftsminister Paulo Guedes, ein früherer Trader, wollte Bolsonaros Wahl 2018 nutzen, um in seinem Land „die Macht der Freihandelsideologie zu entfesseln“, wie er es in den 1970er Jahren an der Universität von Chicago gelernt hatte. In einer Würdigung der ökonomischen Leistungen des chilenischen Diktators General Pinochet erklärte er: „Das war eine großartige Transformation. Thatcher und Reagan haben das sehr wohl verstanden.“9
Heute heißt der Präsident der USA nicht mehr Ronald Reagan, sondern Donald Trump. Die Kritik am Freihandel war eines seiner bevorzugten Themen im Wahlkampf. Und wenn Trump „America first“ ausruft, dann meint er natürlich nicht die Region, sondern die USA. Folgerichtig verpasste er in einem Tweet vom 2. Dezember 2019 seinen Bewunderern im Süden des Kontinents eine kalte Dusche: „Brasilien und Argentinien entwerten seit einiger Zeit massiv ihre Währungen, das ist nicht gut für unsere Farmer.“
Deshalb habe er beschlossen, mit sofortiger Wirkung die Zölle auf Stahl und Aluminium, die die USA aus diesen beiden Ländern importieren, wieder einzuführen. Die lateinamerikanischen Konservativen hatten einen Rettungsring erwartet, aber Trump warf ihnen ein Bleigewicht zu.
Auch die Sympathie, die die Finanzmärkte grundsätzlich wirtschaftsliberalen Regierungen entgegenbringen, schwand, sobald die Anlegerinteressen bedroht waren. Die Investoren versuchten nicht sehr lange, Macri das Leben zu erleichtern. 2017 bekam Argentinien keine Kredite mehr.10 An der Börse zählt Ideologie dann doch weniger als die Rendite. Und ohne die Unterstützung aus Washington und von der Wall Street war Macris neoliberaler Werkzeugkasten leer.
Zwischen 2014 und 2020 gab es in Lateinamerika mit durchschnittlich 0,5 Prozent das geringste Wirtschaftswachstum seit 1950. Im sogenannten verlorenen Jahrzehnt, den 1980er Jahren, waren es ungefähr 2,5 Prozent.11 Die Bevölkerung nahm weiter zu, das Vermögen pro Einwohner sank zwischen 2014 und 2019 um 4 Prozent. Die Armut wuchs ebenso wie die Ungleichheit, und bei der Mittelschicht, die in den 2000er Jahren stark gewachsen war, sank der Lebensstandard massiv.
Wenn sich die Wirtschaftsdaten verdüstern, verliert das Volk noch lange nicht das Gedächtnis. „Die Erinnerung an die sozialen Fortschritte unter den progressiven linken Regierungen – auch wenn die oft nur bescheiden waren – ist ein großes Problem für die heute herrschende Rechte“, meint der brasilianische Historiker Valter Pomar. Das sei auch der Grund für den Aufruhr unter den Angehörigen der Mittelschicht, die plötzlich um ihren Status bangen müssen.
„In den 1990er Jahren konnten die konservativen Regierungen der Mittelschicht den Neoliberalismus noch schmackhaft machen, weil die nicht dessen erstes Opfer war, und sie behaupteten, es handle sich um eine notwendige Etappe zur Demokratisierung einer Region, die gerade die Diktaturen überwunden hatte“, erklärt Pomar. Kurz: für uns der demokratische Fortschritt, für die anderen die Einschnitte.
Aber die Situation habe sich geändert: „Heute stürzt der Neoliberalismus alle in die Armut, und er hat auch nichts mehr als Gegenleistung anzubieten.“ Die Einschnitte werden heute nicht mehr mit dem Skalpell, sondern mit der Sense vorgenommen, und der demokratische Fortschritt kommt mit dem Gummiknüppel daher.
Dass aber die gegenwärtige Krise den linken Parteien nutzen wird, ist keineswegs sicher. Die Demonstranten auf den Straßen rufen eher „Haut ab!“, als die Internationale zu singen. Lateinamerika befindet sich in einer Pattsituation: Rechts die Erben eines überholten Neoliberalismus, wirtschaftlich ineffizient und ohne Legitimation. Links die teilweise durch Korruptionsskandale diskreditierten progressiven Parteien, die oft von der Machtausübung ausgelaugt sind. Letzteren heftet zudem der Makel an, dass sie viel Frust produzierten, als sie antraten, die Welt zu verändern, und es dann doch nicht wagten, sie aus den Angeln zu heben.
Man könnte meinen, dass die aktuelle Situation einen geeigneten Nährboden für neue linke Gruppen von unten darstellt. Raúl Castro, erster Sekretär der Kommunistischen Partei Kubas, kommentierte das Scheitern der ihm feindlich gesinnten Regierungen allerdings mit Skepsis: „Die Region gleicht einer verdorrten Ebene. Der kleinste Funke könnte einen Brand entfachen, der die nationalen Interessen von uns allen bedrohen würde.“12
In Bolivien ebenso wie in Teilen der brasilianischen Regierung macht sich indes eine Rechte breit, die bisher im Hintergrund agiert hat. Sie ist ultrareligiös, reaktionär und antiintellektuell, ihre Weltsicht beruht auf der Bibel. Das Ziel, die Bevölkerung von den Tugenden des Markts zu überzeugen, ist überholt – stattdessen heißt es jetzt: Ketzer jagen.
Der Einsatz von Gewalt gilt dabei nicht mehr als Zeichen von Schwäche, sondern als Mittel zur Wiederherstellung der Ordnung. Der Augiasstall soll ausgemistet werden. Ähnliche Gruppierungen versuchen überall in der Region den Durchbruch. Das kaputte System, das Ungleichheit und Korruption erzeugt, könnte sich an solche Fanatiker klammern, um sein Überleben zu sichern.
1 „América latina: el péndulo regresa a la derecha“, Expansión, Mexiko, 1. September 2016.
2 „Macri candidato: „La inflación es algo simple de resolver“, YouTube, 16. Juli 2016.
3 Siehe Franklin Ramírez Gallegos, „Rechtsschwenk in Ecuador“, LMd, Dezember 2018.
4 Siehe Luis Sepúlveda, „Brief aus Chile“, LMd, Dezember 2019.
5 „Brazil finance minister sticks doggedly to reform path“, Financial Times, 11. November 2019.
6 Siehe „Russia sows online fakes in South America“, The New York Times, 21. Januar 2020.
8 „Even it up“, Oxfam, S. 64, Oxford 2014.
10 Siehe José Natanson, „Ein Riss geht durch Argentinien“, LMd, Oktober 2019.
11 Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik, Santiago, 12. Dezember 2019.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz