12.03.2020

Brüssels Liebling

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Brüssels Liebling

Serbiens Präsident Aleksandar Vučić hat sich vom hartgesottenen Nationalisten zum nüchternen Realpolitiker gewandelt. Was sich nicht geändert hat, ist sein autoritäres Gebaren, das alle demokratischen Regungen in der Gesellschaft zu ersticken droht.

von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin

Aleksandar Vučić nach den Wahlen 2012 MARKO DJURICA/reuters
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Seit Anfang Dezember 2018 demonstrieren tausende Serben immer wieder gegen die diktatorische Kontrolle von Justiz und Medien durch das Regime von Präsident Aleksandar Vučić.

Die Protestwelle begann in Belgrad, nachdem Borko Stefanović, Vorsitzender der Serbischen Linken (Levica Srbije), am 23. November 2018 in der südserbischen Stadt Kruševac bei einem öffentlichen Auftritt von Unbekannten verprügelt worden war. Die Bewegung griff rasch auf viele andere Städte über, in denen lokale Gruppen den Protest gegen die Besetzung sämtlicher Machtpositionen durch Kader von Vučićs Serbischer Fortschrittspartei (SNS) organisierten.

Die herrschende Partei hat ihren gesellschaftlichen und institutionellen Einfluss seit ihrem Wahlsieg vom Mai 2012 kontinuierlich ausgebaut. Die SNS verfügt im serbischen Parlament wie auch in der autonomen Provinz Vojvodina über die absolute Mehrheit. Und dank ihrer Bündnispolitik kontrolliert sie inzwischen auch 166 der 170 Kommunen Serbiens ganz oder teilweise.

Nach der zweiten großen Demons­tration vom 9. Dezember 2018 hatte Vu­čić erklärt, er werde seinen politischen Kurs selbst dann nicht ändern, wenn „5 Millionen“ auf die Straße gehen sollten – bei einer Bevölkerung von 7 Millionen. Bei solchen Aussichten verlor die Bewegung an Dynamik und wurde in den letzten Monaten nur noch von einem harten Kern getragen.

Vučić profitiert davon, dass die serbischen Oppositionsparteien untereinander zerstritten sind und bei den Leuten nur wenig Vertrauen genießen. Und die Zeit, in der sie an der Regierung beteiligt waren, war durch viele Kor­rup­tions­skandale belastet, aber auch durch den Schock der Finanzkrise von 2008 und harte Sparmaßnahmen, vor allem seitens des Inter­na­tio­nalen Währungsfonds (IWF). Zudem kann der serbische Präsident auch auf ausländische Partner wie Russland und die USA zählen, denen die Protestbewegungen egal sind.

Im Oktober 2019 unternahm die Europäische Union einen zaghaften Vermittlungsversuch, nachdem die meisten Oppositionsparteien beschlossen hatten, die für den 26. April 2020 angesetzten Parlamentswahlen zu boykottieren. Doch die Mission unter dem deutschen CDU-Europaabgeordneten David Mc­Allister war offenbar weniger darauf aus, das Vučić-Regime an rechtsstaatliche Prinzipien zu erinnern, als die Opposition zur Teilnahme an einer Wahl zu überreden, die sie fast sicher verlieren wird.

Die serbische Regierung kontrolliert nicht nur die Wählerverzeichnisse, sondern auch die Medien, einschließlich der Boulevardpresse und der privaten TV-Sender, die ausnahmslos regimetreuen Oligarchen gehören.1 Doch Wahlen ohne Opposition würden kein gutes Licht auf Serbien werfen, das unter den EU-Beitrittskandidaten als Musterknabe gilt.

Die Biografie des Aleksandar Vučić bietet eigentlich keinen Grund zum Optimismus. Der heute 50-Jährige erfuhr seine politische Grundausbildung in der von Vojislav Seselj geführten rechtsextremen Serbischen Radikalen Partei (SRS), der er 1993 auch beitrat. Am 20. Juli 1995, wenige Tage nach dem Massaker an tausenden Bosniaken in Srebrenica, tönte er im Belgrader Parlament: „Wenn ihr einen Serben tötet, töten wir hundert Muslime.“ Diesen Satz tut Vučić heute als „Jugendsünde“ ab.2 Als 1998 im Kosovo die ersten Kampfhandlungen begannen, ernannte Präsident Slobodan Milošević den jungen Rechtsaußen zum Informationsminister in der neuen „Regierung der nationalen Einheit“ aus Sozialisten und den Nationalisten der SRS.

Nach dem Sturz Milošević’ am 5. Oktober 2000 wurde die SRS zum stärksten Gegenspieler der neuen „demokratischen“ Machthaber. Da sich Seselj seit Februar 2003 in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) verantworten musste, übernahm Vučić zusammen mit Tomislav Nikolić die Zügel der Partei.

Das neue Führungstandem kritisierte den ICTY und lehnte jegliche Annäherung Serbiens an die EU ab. Dabei wurde die Partei in dem Maße stärker, in dem sich die zerstrittene Regierung als unfähig erwies, die politische, wirtschaftliche und soziale Lage Serbiens zügig zu verändern. In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen 2008 unterlag Nikolić mit 48 Prozent der Stimmen nur knapp dem amtierenden Präsidenten Boris Ta­dić von der Demokratischen Partei.

In den 2000er Jahren wurden die führenden SRS-Vertreter von den westlichen Diplomaten in Belgrad noch als Parias behandelt. Frankreich war das erste EU-Land, das Vučić und Nikolić zu diplomatischen Empfängen einlud. In diskreten Gesprächen legte man den beiden nahe, sich von ihrem Mentor Seselj und den rechten Exzessen der SRS zu distanzieren.

Der Autokrat von Belgrad

Das entscheidende Treffen fand im Oktober 2008 im Pariser Hotel Ritz statt. Mit von der Partie war der montene­gri­nische Ministerpräsident Đukanović, ein Ex-Gefolgsmann von Milošević, der sich seit 1996 nach Westen orientierte. Auch andere Vermittler wie der Geschäftsmann Stanko „Cane“ Subotić waren zugegen. Wenige Tage nach dem Treffen wurde – als Abspaltung von der SRS – die nationalkonservative, proeuropäische Serbische Fortschrittspartei (SNS) gegründet.

Die SNS gelangte im Juli 2012 dank eines Bündnisses mit der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) an die Macht, Nikolić war schon im Mai zum serbischen Präsidenten gewählt worden. Bei den Wahlen vom März 2014 errang die SNS die absolute Mehrheit im Parlament und Vučić wurde Ministerpräsident. 2017 kandidierte er für die Präsidentschaft und gewann im ersten Wahlgang mit 55 Prozent der Stimmen. Damit löste er seinen alten Weggefährten an der Staatsspitze ab.

Das parlamentarische System Serbiens sieht eigentlich eine Aufteilung der Exekutivgewalt zwischen dem Präsidenten und dem Regierungschef vor. Doch Vučić gab auch als Präsident die Parteiführung nie aus der Hand und baute sich ein System auf, das voll auf seine Person zugeschnitten ist.

Vojislav Seselj hatte 2014 aus Gesundheitsgründen Haftverschonung bekommen. Im März 2016 wurde er in erster Instanz freigesprochen, im Berufungsverfahren dann jedoch im April 2018 zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er bereits in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Inzwischen ist Seselj wieder Generalsekretär der SRS, die inzwischen allerdings marginalisiert ist und nur noch als rechter Popanz für Vučić taugt. Die SNS hingegen hat 2016 durch den Beitritt zur Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die CDU gehört, ihre politische Reputation aufgewertet.

Vučić regiert sein Land mit eiserner Hand und setzt auf ungezügelten Neoliberalismus. Für die Umsetzung dieser Politik hat er mit Ana Brnabić die idea­le Partnerin gefunden. Die serbische Ministerpräsidentin stammt aus einer reichen Belgrader Familie mit teilweise kroatischen Wurzeln und lebt offen lesbisch. Sie studierte Betriebswirtschaft in den USA und Management in England; danach arbeitete sie unter anderem für US-Consultingfirmen, die Projekte von USAID betreuten.

Die Businessfrau mit dem vorteilhaft modernen Lebenslauf ist stolz darauf, dass sie „die liberalste Regierung in der serbischen Geschichte“ leitet. Unmittelbar nach ihrem Amtsantritt legte sie sich mit streikenden Arbeitern im Fiat-Chrysler-Werk von Kragujevac an, denen sie vorwarf, mit ihrem „Egoismus“ Investoren zu verschrecken. Zumal sie „überbezahlt“ seien, da ihre Löhne etwas über dem nationalen Durchschnitt von knapp 500 Euro im Monat lagen.

Der Gesinnungswandel des Aleksandar Vučić, dessen Echtheit zu hinterfragen wäre, entsprach wundersamerweise genau den Erwartungen des Westens, der eine EU-feindliche extreme Rechte in Serbien als Gefahr empfunden hätte. Vor allem schien Vučić die beste Besetzung zu sein, um eine endgültige Beilegung der Kosovofrage zu erreichen, die als Schlüssel für die Stabilisierung der Region gilt.

Eine offizielle Anerkennung der Unabhängigkeit seiner ehemaligen Provinz wäre für Belgrad eine bittere Pille. Aber nur ein Nationalist könnte diesen Schritt vollziehen, ohne des Verrats beschuldigt zu werden. 2018 hat sich Vučić mit seinem kosovarischen Amtskollegen Hashim Thaçi um einen Kompromiss bemüht, der einen Gebietsaustausch zwischen Serbien und Kosovo vorsah.3 Aber dieses Modell ist inzwischen wieder vom Tisch.

Da sich Vučić in der Kosovo-Frage für unentbehrlich hält, geht er davon aus, dass sich seine westlichen Partner an seinen autoritären Anwandlungen nicht weiter stören werden. Mit den groß inszenierten Staatsbesuchen Wladimir Putins in Belgrad sandte er die Botschaft aus, dass es für Serbien eine geopolitische Alternative gibt.

Das erscheint wie eine Reminiszenz an den historischen Balanceakt, den das Jugoslawien Titos jahrzehntelang zwischen dem Westen und der UdSSR vollzogen hat. Doch heute ist die Vorstellung, zwischen Moskau und Brüssel hin und her pendeln zu können, eine pure Illusion. Die EU ist der weitaus wichtigste Wirtschaftspartner Belgrads: Ihr Anteil am serbischen Außenhandel beträgt 62,9 Prozent, der Anteil Russland dagegen nur 7 Prozent.4

Eine vergleichbare Situation herrscht im benachbarten Montenegro. Hier ist der starke Mann seit 1991 Milo Đukanović, der abwechselnd mal als Ministerpräsident, mal als Präsident fungiert. Seine Demokratische Partei der Sozialisten Montenegros (DPS) ist Mitglied der Sozialistischen Internationale und direkte Nachfolgerin des Bundes der Kommunisten Montenegros – also im Grunde seit 1945 an der Macht.

Auch in Montenegro lösten Korruptionsskandale im letzten Jahr heftige Protestaktionen aus. Doch auch hier können die Machthaber auf die Unterstützung ihrer internationalen Partner bauen, weil keine Alternative sichtbar ist. Seit das Land 2017 der Nato beitrat, präsentiert sich Đukanović als Bollwerk des Westens gegen die – stark überschätzte – russische Bedrohung.5 Die zeigte sich angeblich in dem myste­riö­sen Putschversuch vom 16. Oktober 2016, der Đukanović die Möglichkeit gab, die Opposition zu diskreditieren und sich selbst als Garanten für Demokratie und den Weg Montenegros nach Europa zu inszenieren.6

Die serbischen und montenegrinischen Machthaber gelten als Garanten der regionalen Stabilität und enge Verbündete des Westens. Beide wollen in die EU – wobei dieses Ziel nach dem Veto Frankreichs gegen den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien vom November 2019 erst einmal in weite Ferne gerückt ist. Allerdings ist der Status quo für die beiden starken Männer in Belgrad nicht unbedingt von Nachteil.7 Und die westeuropäischen Länder können sich darauf verlassen, dass ihre demonstrierte Toleranz gegenüber dem autoritären Führungsstil von Vučić und Đukanović von ihren Schützlingen mit der „Sicherung der Grenzen“ gegen Migranten und Flüchtende entgolten wird.8

Das zeigt sich an dem demonstrativen Schulterschluss zwischen Serbien und Ungarn. Am 4. und 5. September 2019 war Vučić als Ehrengast zu einer Konferenz über das Thema Demografie in Budapest eingeladen. Dabei bedachte er seinen Gastgeber mit folgender Eloge: „Es ist Ihnen, Herr Orbán, zu verdanken, dass unsere Beziehungen heute besser denn je sind. Ich verspreche Ihnen, dass wir Ihnen persönlich wie auch Ihrem Land treu verbunden bleiben werden.“

Folgerichtig ist Orbán ein aktiver Vorkämpfer für eine Integration Serbiens in die Europäische Union. Und auch die anderen konservativen Regierungen der Visegrád-Staaten sind sich nicht nur bei der sogenannten Flüchtlingsfrage mit Serbien einig. Sie betrachten die Beitrittskandidaten des Westbalkan vor allem als künftige Verbündete innerhalb der Union.

1 Milica Cubrilo Filipovic, „Serbie: l’UE tente une mé­dia­tion entre le pouvoir et l’opposition“, Le Courrier des Balkans, 10. Oktober 2019, www.courrierdesbalkans.fr.

2 Philippe Bertinchamps und Jean-Arnault Dérens, „Le nouveau maître de la Serbie. Entretien avec Aleksandar Vucic“, Politique internationale, Nr. 144, Paris, Sommer 2014.

3 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Balkan: Grenzen als Geschichte und Illusion“, LMd, August 2019.

4 „Le commerce extérieur de la Serbie en 2018“, Generaldirektion des Schatzamts, Paris, 11. April 2019, www.tresor.economie.gouv.fr.

5 Siehe Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin, „Schauplatz Balkan“, LMd, Juli 2015.

6 Srdan Jankovic, „Monténégro: deux ans après le ,putsch raté‘, toujours impossible de connaître la vérité“, Le Courrier des Balkans, 22. Oktober 2018.

7 Vgl. Norbert Mappes-Niediek, „Balkanstaaten in der Warteschleife“,LMd, Januar 2017.

8 Siehe Jean-Arnault Dérens und Simon Rico, „Die Wütenden von Skopje“, LMd, Mai 2016.

Aus dem Französischen von Richard Siegert

Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin sind Journalisten bei courrierdesbalkans.fr und Autoren von: „Là où se mêlent les eaux. Des Balkans au Caucase, dans l’Europe des confins“, Paris (La Découverte) 2018.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2020, von Jean-Arnault Dérens und Laurent Geslin