Saurer Regen aus der Cloud
Die Digitalwirtschaft gibt sich nachhaltig und umweltfreundlich – zu Unrecht
von Sébastien Broca
Lassen Sie uns mit einer Geschichte beginnen: Ein Microsoft-Ingenieur wird von seinem Arbeitgeber in die kasachische Hafenstadt Atyrau geschickt, in deren Nähe der US-Energiekonzern Chevron zusammen mit dem kasachischen Staat das größte Erdölfeld des Landes ausbeutet. Der Ingenieur nimmt dort an einem Seminar teil, das sich der Frage widmet, wie künstliche Intelligenz (KI) und Cloud Computing die Ölindustrie effizienter machen können. Auch wenn die anwesenden Führungskräfte nicht viel von seinem Fachjargon verstehen, spielt der Ingenieur brav die Rolle, die ihm sein Arbeitgeber zugewiesen hat.
Für Microsoft steht viel auf dem Spiel: 2017 vereinbarte das von Bill Gates gegründeten Technologieunternehmen mit Chevron eine auf sieben Jahre angelegte Zusammenarbeit im Bereich Cloud Computing. Seitdem speichert und analysiert Microsoft terabyteweise Daten, die Sensoren an den Bohrlöchern Tag für Tag erheben.
Doch dann nimmt das Seminar in Atyrau eine etwas unerwartete Wendung: Die Manager von Chevron wollen wissen, ob man nicht Überwachungstools installieren könne, um verdächtiges Verhalten von Mitarbeitenden festzustellen oder deren persönlichen E-Mail-Verkehr zu analysieren. Nach seiner Rückkehr in die USA spricht der Microsoft-Ingenieur von einer „surrealen Erfahrung“. Alle Anwesenden hätten „ohne mit der Wimper zu zucken über die panoptische Überwachung des Arbeitsplatzes diskutiert“. Er entscheidet sich, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen.1
Seit einigen Jahren nehmen die Kooperationen zwischen den Tech-Giganten und der Ölindustrie zu. So hat Amazon den Cloud-Computing-Service AWS Oil and Gas Solutions ins Leben gerufen, Konferenzen der Erdölbranche finanziert und zahlreiche auf den Bereich Energie spezialisierte KI-Experten eingestellt. Google unterzeichnete derweil Verträge mit Total, Anadarko und Nine Energy Service und schickte unter dem Dach von Google Cloud seine neue Abteilung Oil, Gas and Energy ins Rennen. Microsoft wiederum schloss nicht nur Verträge mit Chevron ab, sondern auch mit BP, Equinor und Exxon.
Die Ölindustrie setzt auf Big Data und KI, um Erdölvorkommen noch genauer zu lokalisieren und durch Automatisierung Kosten zu senken. Die Riesen der Digitalwirtschaft ihrerseits versprechen sich einen lukrativen Markt für ihre Speicher- und Datenverarbeitungsdienste sowie ihre Lösungen im Bereich Maschinelles Lernen. Einziger Wermutstropfen: Die Kooperationen beflecken das schöne Bild, das die PR-Abteilungen im Silicon Valley vom Engagement der Techfirmen für die erneuerbaren Energien zeichnen.
Nachdem Amazon-Gründer Jeff Bezos von einigen Angestellten aufgefordert worden war, auf jegliche Zusammenarbeit mit der Ölindustrie zu verzichten, erklärte er im September 2019, die Branche sei dabei sich „zu wandeln“, und er wolle ihr die „bestmöglichen Tools“ für diesen Wandel zur Verfügung stellen.2 Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beenden, indem man ihre Hauptlieferanten bei der Profitmaximierung unterstützt? Darauf muss man erst mal kommen.
Wenn Datengewinnung und Ölgewinnung zwei Seiten derselben Medaille sind, stellt sich natürlich die Frage, inwieweit der Datenkapitalismus – dem gern Adjektive wie „immateriell“, „postindustriell“ oder „grün“ zugeschrieben werden – die bloße Fortführung des im 19. Jahrhundert geborenen thermoindustriellen Kapitalismus ist.
„Cloud Computing fängt mit Kohle an“, befand 2013 der Berater Mark P. Mills in einem von der Bergbauindustrie finanzierten Bericht.3 Die Unternehmen der Digitalwirtschaft setzen schlicht den historischen Weg fort, der vor zwei Jahrhunderten in Großbritannien mit der massenhaften Förderung von Kohle eingeschlagen wurde. Seitdem steigt der weltweite Kohleverbrauch, obwohl nach und nach die Nutzung weiterer Primärenergiequellen – wie Erdgas, Erdöl, Atomkraft, Sonnenenergie – hinzugekommen sind. Laut der Internationalen Energieagentur wird der Kohleverbrauch wegen der hohen Förderquoten in China, Indien und Südostasien auch in den nächsten Jahren nicht abnehmen.4
Amazon nutzt billigen Kohlestrom
Insgesamt steigt der weltweite Energieverbrauch sogar an (mit einem Plus von 2,3 Prozent im Jahr 2018). Und er speist sich noch immer zu mehr als 80 Prozent aus fossilen Quellen.5 Die zur Energieerzeugung erforderliche Energiemenge steigt ebenfalls, weil zunehmend Kohlenwasserstoffe minderer Qualität erschlossen oder „unkonventionelle“ Vorkommen wie Ölsande abgebaut werden.
Was Experten als „Energierendite“ bezeichnen, geht kontinuierlich zurück: „Vor einem Jahrhundert musste durchschnittlich ein Barrel Erdöl verbrannt werden, um 100 Barrel zu fördern“, erklärt der Journalist Guillaume Pitron. „Heute kann man damit auf manchen Bohrfeldern nur noch 35 Barrel Öl gewinnen.“6
Die Digitalwirtschaft ist natürlich nicht allein schuld, dass dieser unselige Weg weiter beschritten wird. Sie leistet aber einen erheblichen Beitrag dazu: Laut zwei aktuellen Studien entfallen auf sie mehr als 4 Prozent des weltweiten Primärenergieverbrauchs; und ihr Konsum steigt jedes Jahr um 9 Prozent, vor allem weil die digitale Infrastruktur in den Schwellenländer ausgebaut wird.7
Die Produktion von Endgeräten und der Netzinfrastruktur schlägt in dieser Bilanz am stärksten zu Buche, gefolgt vom Energieverbrauch der Geräte, Netzwerke und Rechenzentren. So werden bei der Herstellung eines Notebooks rund 330 Kilogramm Kohlendioxid-Äquivalente emittiert. Hinzu kommt der enorme Bedarf an Wasser und Rohstoffen, insbesondere an Metallen wie Palladium, Kobalt und seltenen Erden. Auf den Betrieb von Rechenzentren entfallen 19 Prozent des energetischen „Fußabdrucks“ der Digitalwirtschaft.
Allein durch das Streamen von Videos, die in den riesigen Serverhallen gespeichert sind, soll 2018 so viel Treibhausgas ausgestoßen worden sein wie durch ein Land von der Größe Spaniens. Apple und Google brüsten sich zwar damit, zu 100 Prozent mit erneuerbaren Energien zu arbeiten. Zumindest Google ist hiervon laut einem Greenpeace-Bericht8 jedoch weit entfernt, ebenso wie Amazon, der größte Player im Bereich Cloud Computing.
Laut Greenpeace betreibt Amazon sein gigantisches Rechenzentrum in Virginia lediglich zu 12 Prozent mit erneuerbaren Energien. Es nutzt vor allem den billigen Strom aus Kohle, die in den benachbarten Appalachen durch die Sprengung von Bergkuppen gewonnenen wird (Mountaintop Removal Mining, MTR). Auch in China stammt noch immer 73 Prozent der in den Rechenzentren verbrauchten Energie aus der Kohleverstromung.9 Diese Zahlen sind umso alarmierender, wenn man bedenkt, dass die Datenmenge in den kommenden Jahren aufgrund der zu erwartenden Zunahme vernetzter Geräte sprunghaft ansteigen wird.
Die Konzeption der Technologien, die dem digitalen Kapitalismus zugrunde liegen, folgt ganz sicher keinem ökologischen Imperativ. Das Beispiel der künstlichen Intelligenz spricht hier Bände. Laut einer Studie der University of Amherst werden bei der Entwicklung eines Standardprojekts im Bereich Maschinelles Lernen heute insgesamt rund 284 Tonnen CO2-Äquivalente emittiert. Das ist fünfmal so viel, wie im Lebenszyklus eines Autos von der Produktion bis zur Verschrottung ausgestoßen wird.10
Der Forscher Carlos Gómez-Rodríguez hat feststellt, dass die meisten aktuellen Studien zur künstlichen Intelligenz die Frage der Energieeffizienz vernachlässigen. An erster Stelle stehe der Nutzen der sehr großen – besonders viel Strom fressenden – neuronalen Netze bei der Erledigung vielfältiger Aufgaben. „Unternehmen und Institutionen mit Zugang zu umfangreichen IT-Ressourcen ziehen daraus einen Wettbewerbsvorteil“, so Gómez-Rodríguez.11 Mit anderen Worten: Die Technologieriesen haben wenig Interesse daran, sparsamere Methoden zu entwickeln.
Genauso wenig Interesse haben sie an einem umweltfreundlichen Verhalten ihrer Nutzer, hängt doch ihr künftiger Profit davon ab, dass diese das Licht immer häufiger per Sprachbefehl einschalten, statt einen schnöden Schalter zu betätigen. Hell wird es so oder so, die ökologischen Kosten der beiden Vorgänge sind aber höchst unterschiedlich.
Im ersten Fall ist ein hoch entwickeltes elektronisches Gerät mit Spracherkennungssoftware erforderlich, in dessen Entwicklung eine enorme Menge an Rohstoffen, Energie und Arbeitskraft geflossen ist. Vor diesem Hintergrund ist es widersinnig, gleichzeitig das „Internet der Dinge“ und den Kampf gegen den Klimawandel anzupreisen: Wenn immer mehr vernetzte Geräte benutzt werden, beschleunigt dies schlicht und einfach die Zerstörung der Umwelt. Das 5G-Netz etwa könnte in den nächsten fünf Jahren den Energieverbrauch der Mobilfunkbetreiber verdoppeln oder verdreifachen.
Aus ökologischer Sicht lässt sich die Digitalwirtschaft nicht auf die Technologieriesen aus dem Silicon Valley und das Milieu der Start-up-Unternehmen reduzieren. Sie stellt vielmehr eine „Weltwirtschaft“ in dem von Fernand Braudel geprägten Wortsinn dar, das heißt ein kohärentes Gefüge von Marktteilnehmern, deren Beziehungen durch eine Unterteilung in Zentrum und Peripherie strukturiert werden.
Das Herz dieser „Weltwirtschaft“ mag in der Bay Area rund um San Francisco schlagen, ihre Prosperität beruht jedoch auf den asymmetrischen Beziehungen, die das Zentrum zu den von ihr dominierten Orten der Peripherie unterhält – von den Coltan-Minen Afrikas über die asiatischen Montagebetriebe bis hin zu den ghanaischen Elektroschrott-Deponien.
Die ökologischen Kosten der industriellen Produktion sind in diesem System sehr unterschiedlich verteilt: Hinter dem Deckmantel eines scheinbar gerechten finanziellen Tauschhandels basiert die kapitalistische Weltwirtschaft in Wahrheit auf dem asymmetrischen Ressourcentransfer zwischen Zentrum und Peripherie.12
Kauft ein Unternehmen aus dem globalen Norden für 1000 US-Dollar Rohstoffe, während ein Unternehmen aus dem Süden ebenfalls 1000 US-Dollar für die Nutzung geistiger Eigentumsrechte ausgibt, sind die Geldwerte identisch. Die Umweltauswirkungen sind es aber nicht, denn die Wirtschaftszentren wälzen die ökologischen Kosten ihrer eigenen Entwicklung auf die Peripherien ab.
An der Digitalwirtschaft lässt sich diese Logik perfekt veranschaulichen: 23 Prozent der weltweiten Kobaltfördermenge und 19 Prozent der gewonnenen seltenen Erden fließen in die Computer- und Smartphone-Produktion.13 Das Kobalt stammt größtenteils aus der Demokratischen Republik Kongo, wo es häufig von Kindern unter Missachtung von Menschenrechten und Umweltstandards abgebaut wird.14 Bei der Förderung seltener Erden hält China ein Quasimonopol. Doch dafür zahlt das Reich der Mitte einen hohen Preis: Auf das Land geht saurer Regen nieder, und Schwermetalle belasten seine Ackerflächen und Grundwasserkörper.
Was die künftige Energie- und Digitalwende betrifft, hätten sich China und der Westen auf eine klare Arbeitsteilung geeinigt, meint Guillaume Pitron: „Die Chinesen machen sich die Hände schmutzig, um die Bauteile für die ‚grünen Technologien‘ herzustellen. Und der Westen, der ihnen die Komponenten abkauft, kann sich mit seiner guten Ökobilanz rühmen.“ In der digitalen Weltwirtschaft werden die ökologischen Grenzen also nicht aufgehoben, sondern bloß verschoben.
1 Zero Cool, „Oil is the new data“, Logic,Nr. 9, San Francisco, 7. Dezember 2019.
4 „Coal 2019. Analysis and Forecasts to 2024“, IEA, Paris, 2019.
8 „Clicking Clean Virginia“, Greenpeace, 13. Februar 2019.
9 Naomi Xu Elegant, „The Internet cloud has a dirty secret“, Fortune, 18. September 2019.
13 Siehe Guillaume Pitron (siehe Anmerkung 6).
Aus dem Französischen von Markus Greiß
Sébastien Broca ist Dozent für Informations- und Kommunikationswissenschaften und Autor von „Utopie du logiciel libre. Du bricolage informatique à la réinvention sociale“, Paris (Le Passager clandestin) 2018.