Das große Nachbeben
Fast zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling erheben sich von Algerien bis Sudan neue Protestbewegungen gegen Autoritarismus und soziale Ungleichheit
von Hicham Alaoui
Seismologen kennen das Phänomen: Nachbeben verursachen oft mehr Schäden als das vorangegangene Erdbeben. Der Arabische Frühling von 2011/12 fügte den autoritären Systemen in der Region tiefe Risse zu und zeigte, was Bewegungen erreichen können, wenn sie die Mauer aus Angst durchbrechen. Das größte Nachbeben erfolgte 2019, als eine Welle von Protesten vielerorts die bestehenden Machtverhältnisse erschütterte.
Die Unruhen in Algerien, in Ägypten, im Irak, in Jordanien, im Libanon und im Sudan erscheinen als logische Ausweitung des Arabischen Frühlings. Sie demonstrieren ein weiteres Mal, dass sich die von wirtschaftlicher und politischer Ungerechtigkeit betroffenen Gesellschaften weigern zu kapitulieren. Ihre Gegner – die despotischen Regime – sind allerdings genauso entschlossen. Um sich an der Macht zu halten, versuchen sie sich den Protesten anzupassen.
Die strukturellen Gegebenheiten haben sich seit 2011 nicht verändert, und genau das ist der Grund für die Nachbeben. Erstens der demografische Faktor: Ein Drittel der Bevölkerung in den arabischsprachigen Ländern ist jünger als 15 Jahre, ein zweites Drittel zwischen 15 und 29. Im letzten Jahrzehnt wurde in der arabischen Welt die gebildetste Generation erwachsen. Sie ist äußerst versiert in der Nutzung der Internettechnologien und in den sozialen Medien besonders aktiv.
Zweitens die ökonomische Entwicklung: Abgesehen von den reichen Golfmonarchien haben sich die Arbeitslosigkeit und Armut in den meisten Staaten verschlimmert. Nach Angaben der Weltbank haben 27 Prozent der jungen Araber keinen regulären Arbeitsplatz, mehr als in jeder anderen Weltregion. Die Zahl derjenigen, die vor allem aus ökonomischen Gründen emigrieren wollen, befindet sich auf einem historischen Höchststand. Nach dem letzten Bericht des Forschungsnetzwerks Arab Barometer von 20191 gaben ein Drittel und mehr der in Algerien, im Irak, in Jordanien, in Marokko, im Sudan und in Tunesien befragten Personen an, ihr Land verlassen zu wollen. In Marokko träumen 70 Prozent der 18- bis 29-Jährigen davon, auszuwandern. Die Regierungen reagieren darauf vor allem mit Zynismus. Sie unternehmen nicht viel, um diese Entwicklung einzudämmen; nicht zuletzt werden sie so viele junge Leute los, die ansonsten vielleicht aufbegehren und auf die Straße gehen würden.
Drittens die Regierungsführung: Mit Ausnahme von Tunesien hat der Mangel an demokratischen Politikern und Praktiken die Bevölkerung in den betreffenden Ländern immer weiter marginalisiert. Viele Bürgerinnen und Bürger empfinden die Korruption in ihrem Land als endemisch und erleben, dass die Möglichkeit, eine Arbeitsstelle zu finden oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können, von der Gunst klientilistischer Netzwerke abhängt.
Obgleich die Probleme die gleichen geblieben sind, zeigen sich in der gegenwärtigen Protestlandschaft neue Tendenzen. Zunächst einmal haben die Protestbewegungen begriffen, dass die Absetzung eines Machthabers keinen Regimewechsel garantiert, insbesondere wenn das Militär und die Sicherheitskräfte ihren Einfluss auf bestimmte Machtbereiche behalten und die politischen Spielregeln sich nicht ändern. So verlangen viele Demonstranten mittlerweile nicht mehr, dass möglichst schnell Neuwahlen abgehalten werden. Die algerischen und sudanesischen Aktivisten versuchen die Fehler der ägyptischen Revolution von 20112 zu vermeiden und fordern, dass alle Teile des autoritären Systems zerschlagen werden.
Außerdem sind sich die Demonstranten heute stärker bewusst, welche Vor- aber auch Nachteile die Informationstechnologien haben können. In der Vergangenheit dienten die sozialen Medien vor allem dazu, die Zensur zu umgehen und der staatlichen Unterdrückung zu entkommen. Heute werden sie breiter genutzt; als Mittel des politischen Engagements und um einen zwar virtuellen, doch kontinuierlichen Kampf gegen den Staat zu führen. Dies geschieht durch künstlerische und humorvolle Aktionen oder durch scharfe Kritik, die darauf abzielt, die politischen Führer und Institutionen zu delegitimieren.
Diese Art der Netzdissidenz zeigt sich besonders in Algerien oder im Libanon, wobei die dortigen Protestbewegungen auch weiterhin auf der Straße aktiv sind. Sie ist aber ebenso in den Ländern verbreitet, die vom Westen als ruhiger wahrgenommen werden, beispielsweise Marokko oder Jordanien. Die sozialen Medien haben sich in der arabischen Welt von einem Instrument des Aufbegehrens zu einer Plattform der Auseinandersetzung zwischen dem Staat und einem Teil der Gesellschaft entwickelt. Der große Nachteil für die Protestbewegungen ist, dass die Regierungen das Internet und seine Netzwerke ebenfalls nutzen, um ihre Propaganda zu verbreiten und ihre gefährlichsten Gegner zu identifizieren und mundtot zu machen.
Zu guter Letzt haben sich die Protestbewegungen noch weiter von den großen Ideologien entfernt – wobei schon im Arabischen Frühling eine starke Skepsis gegenüber den großen „Ismen“ (Panarabismus, Islamismus, Sozialismus und Nationalismus) zu bemerken war. Inzwischen sind die Massenbewegungen kaum mehr empfänglich für utopische Versprechen. Sie bevorzugen den pragmatischen Kampf für eine bessere Regierung ihres Landes. Das Nachbeben der Erschütterungen von 2011 hat diese Entwicklung noch verstärkt und der philosophischen Romanze mit der Demokratie ein Ende gesetzt. Heute fordern die oppositionellen Kräfte, dass alle Strukturen der bestehenden politischen Ökonomie beseitigt werden, die Ungleichheit und Ungerechtigkeit hervorbringen. Auch Frauen spielen eine größere Rolle in den neuen Bewegungen, was zur Folge hat, dass die radikale Kritik an der alten Ordnung auch auf das Patriarchat zielt.
Die autoritären Regime haben ihrerseits Lehren aus den Ereignissen des letzten Jahrzehnts gezogen. Das Schicksal des tunesischen Ex-Präsidenten Zine el-Abidine Ben Ali und seines jemenitischen Amtskollegen Ali Abdullah Saleh hat ihnen gezeigt, wie gefährlich das Herumlavieren mit mehr oder weniger demokratischen Vorschlägen ist. Wenn die Protestbewegungen das System angreifen, ist es für die Machthaber keine erfolgversprechende Strategie mehr, die Aufständischen zu tolerieren – in der Hoffnung, mit dieser Geste des guten Willens Zeit zu gewinnen. Vielmehr ist die rationale Antwort, nun die Repression noch zu verschärfen.
Das Los der exilierten saudischen Dissidenten steht emblematisch für die extremen Maßnahmen, die gegenüber allem ergriffen werden, was als bedrohlich wahrgenommen wird. Und die Anwendung von Gewalt wird durch eine zynischen Tatsache bestärkt: Die Regierungen können sicher sein, dass ihr Vorgehen straffrei bleibt. Die „internationale Gemeinschaft“ mag vielleicht die Menschenrechtsverletzungen anprangern, tatsächlich findet sie sich aber damit ab, wie die arabischen Staaten ihre demokratische Opposition behandeln.
Als wichtiger Verbündeter des Westens musste sich das ägyptische Al-Sisi-Regime weder dafür rechtfertigen, dass es eine gewählte Regierung gestürzt hat, noch dafür, dass 2013 während der Demonstrationen auf dem Rabia-al-Adawiya-Platz in Kairo mehrere hundert Menschen von den Sicherheitskräften getötet wurden.3 Der Tod von Ex-Präsident Mohammed Mursi, der unter dubiosen Umständen während seines Prozesses im Juni 2019 starb, war im Westen ebenfalls kein Grund für ernsthafte Kritik.
Runder Tisch oder Tabula rasa
Auch die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Konsulat seines Landes in Istanbul am 2. Oktober 2018 hat die Beziehungen zwischen Riad und dem Rest der Welt nicht nachhaltig beeinträchtigt. Und in Syrien regiert trotz des blutigen Bürgerkriegs immer noch Baschar al-Assad. Im Januar 2011 hatte das Angebot der französischen Außenministerin Michèle Alliot-Marie, dem tunesischen Diktator zu Hilfe zu kommen, noch für einen Skandal gesorgt. Heute kann Frankreich offiziell die Vermittlung der Vereinten Nationen in Libyen unterstützen und gleichzeitig die Truppen von General Chalifa Haftar bewaffnen, ohne dass dies für großes Aufsehen sorgt.
Der Sudan stellt unter den vielen Nachbeben des Arabischen Frühlings einen Sonderfall dar. Im Unterschied zu anderen Staaten, in denen es brodelt, gibt es hier die Chance, dass sich über friedliche Verhandlungen ein Weg zur Demokratie öffnet. Das liegt am Ausmaß der Mobilisierung, die durch die Oppositionsführer organisiert wird, und daran, dass die Männer an der Macht ohne internationale Unterstützung sind. Aber das ist eine Ausnahme. Der Sudan unterscheidet sich von anderen arabischen Staaten durch eine vitale Zivilgesellschaft, sehr aktive Berufsverbände sowie die Bereitschaft der Protestbewegung, die Militärführer mit an den Verhandlungstisch zu holen. Traditionell schrecken die Gewerkschaften und NGOs auch nicht davor zurück, das politische Feld zu betreten.4
Im Gegensatz dazu sind die aktuellen Nachbeben im Irak, im Libanon und in Algerien durch einen ausgeprägten „dégagisme“ gekennzeichnet; den Willen, mit den alten politischen Eliten endlich Schluss zu machen. Diese radikale Forderung wird allerdings von keinerlei politischen Strukturen begleitet, die es erlauben würden, diese Eliten wirklich herauszufordern. Die Bewegung bleibt auf Abstand zur politischen Arena und fürchtet, dass der kleinste Kontakt mit der herrschenden Klasse zum Verlust ihrer Glaubwürdigkeit führt. Zudem sind die Proteste horizontal organisiert, wodurch sich keine Führungspersönlichkeiten und Sprecher herausbilden können. Anfangs mag es ein Trumpf gewesen sein, dass es keine Anführer gab – allein schon weil es die Repression erschwerte –, doch mittlerweile gefährdet dieser Umstand die Möglichkeit, einen Weg aus der Krise zu finden. Der „dégagisme“ führt mitunter in Sackgassen.
Das gilt umso mehr, weil die Demonstranten in vielen Ländern über keinen wirtschaftlichen Hebel verfügen, um Druck auf die Macht auszuüben. Das algerische und das irakische System sind vom Erdölexport abhängig, und die Gewinnung dieser Rohstoffe vollzieht sich in soziologisch und geografisch von der Gesellschaft separierten Industrie-Enklaven. In diesen Ländern haben die „Hirak“ (Arabisch für „Bewegung“) keinen Zugriff auf das ökonomische Herz des Regimes.
Abgesehen davon, dass die Regierungen wie die Oppositionsbewegungen aus dem Arabischen Frühling ihre Lehren gezogen haben, haben sich auch die konfessionelle Landschaft und die geopolitische Situation stark verändert. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen zwischen den Machthabern und ihren Gesellschaften haben nichts mehr mit der Rivalität zwischen einem konterrevolutionären Sunnismus – insbesondere vertreten durch einige Golfmonarchien – und dem iranischen Lager zu tun.
Um den oppositionellen Elan von 2011/2012 einzudämmen, schürte der konterrevolutionäre Block, angeführt durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, religiöse Konflikte; mit dem Ziel, die Gesellschaften zu spalten und jede demokratische Opposition als fünfte Kolonne Irans zu diskreditieren. Teheran und seine Getreuen – die libanesische Hisbollah, das Assad-Regime, die jemenitischen Huthi und die irakischen Milizen – haben erheblich zu diesem Bruch beigetragen: Der von Riad und Abu Dhabi beförderte sunnitische Chauvinismus war für sie ein nützliches Vehikel, um verschiedene nationale Konflikte zu beeinflussen und die Unterstützung von schiitischen Akteuren zu rechtfertigen.
Inzwischen funktionieren diese regionalen Strategien nicht mehr. Innerhalb des iranischen Lagers hat der konfessionelle Diskurs unter den jungen Aktivisten seinen Reiz verloren. Im Libanon und Irak spart der „dégagisme“ keine Konfession aus. Im Irak schreckte die schiitische Protestbewegung nicht davor zurück, die iranischen Konsulate zu attackieren.5 Für Teheran hat sich das Blatt gewendet. Dort steht man nun einer doppelten Herausforderung gegenüber: einmal zu Hause mit den regelmäßigen Demonstrationen gegen das theokratische Regime, und zweitens in anderen Ländern der Region mit den Protesten gegen den iranischen Einfluss.
Die konterrevolutionäre Kampagne des saudisch-emiratischen Blocks ist ebenfalls gescheitert. Die Blankoschecks, die manche arabischen Führer vom Ausland ausgestellt bekamen, waren keine Garantie für die Stabilität ihrer jeweiligen Regime. In Ägypten ist es al-Sisi trotz der Hilfe der Golfstaaten nicht gelungen, ein neues, starkes Staatsmodell durchzusetzen, das Autoritarismus, schnelle wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilität verbindet. Im Gegenteil: Ägypten, in dem sich das Militär zu einer räuberischen Macht entwickelt hat, die alle Bereiche der Wirtschaft kontrolliert, ist zu einem abschreckenden Beispiel auch für andere arabische Länder geworden.
Die Niederlagen der sunnitischen Koalition offenbaren auch die Grenzen des saudischen Einflusses. Jüngstes Beispiel: die Ablehnung vieler arabischer Staaten des von US-Präsident Trump vorgestellten „Deals des Jahrhunderts“ zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts (siehe Artikel von Alain Gresh auf Seite 1). Die Bemühungen des saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, die bittere Pille eines Plans schmackhaft zu machen, der die Träume der israelischen Rechten verwirklicht, waren nicht erfolgreich. Ein weiteres Beispiel für das saudische Scheitern ist der Krieg im Jemen, der sich zu einer humanitären Tragödie ausgewachsen hat und Riad keinen strategischen Vorteil einbrachte. Im Gegenteil: Er hat die militärische Schwäche der Saudis offenbart und ihr Unvermögen, die eigenen Streitkräfte außerhalb des Königreichs erfolgreich einzusetzen.
Auch innenpolitisch hat Riad seine Ziele nicht erreicht; etwa das Vorhaben, die Wirtschaft zu diversifizieren und die Abhängigkeit vom Erdöl zu reduzieren. Der Börsengang des staatlichen Erdölkonzerns Aramco Ende letzten Jahres löste bei den internationalen Investoren nicht die erwartete Begeisterung aus. Eher scheint dieser Schritt die „Ritz-Carlton-Affäre“6 fortzusetzen: Nach einigem Hin und Her mit dem Ausgabepreis der Aramco-Aktie wurden im Dezember zahlreiche saudische Investoren gezwungen, auf eigene Kosten Wertpapiere des Konzerns zu kaufen. So steht der mit viel Werbeaufwand betriebene Börsengang von Aramco nicht für die Privatisierung oder Diversifizierung der Wirtschaft, sondern zeigt vielmehr die wachsende Kontrolle des Königshauses über die Ökonomie des Landes.
Das konterrevolutionäre sunnitische Lager muss sich außerdem mit dem grundlegenden Wandel der US-amerikanischen Geostrategie auseinandersetzen. Für Washington ist die arabische Welt nicht mehr von zentraler Bedeutung. Dank neuer Versorgungsquellen kann die US-Wirtschaft – ebenso wie die großen Weltmärkte insgesamt – eine Unterbrechung der Erdölproduktion im Nahen Osten verkraften. Außerdem stellen Gegner wie die Organisation der Islamischen Staaten oder Iran für die USA eine weniger ernsthafte Bedrohung dar als einst al-Qaida. Und die Öffentlichkeit in den USA – der ständigen Konflikte im Nahen Osten müde – lehnt eine Einmischung ihres Landes in der Region ab – außer wenn Iran Israel angreifen würde.
Die Trump-Regierung möchte ganz offensichtlich die Rolle der USA als Schutzmacht der Golfstaaten gegen Iran beenden. Die Ermordung des iranischen Generals Qassem Soleimani im Januar war vor allem durch den Willen Washingtons motiviert, angesichts der Unruhen im Irak, die die US-Botschaft in Bagdad gefährdeten, Stärke zu demonstrieren. Bis dahin hatten sich die USA geweigert, militärisch gegen Iran vorzugehen; selbst dann nicht, als die iranischen Revolutionsgarden Öltanker im persischen Golf beschlagnahmten, eine US-Drohne abschossen und saudische Ölraffinerien angegriffen haben. Auch dass Washington seine kurdischen Verbündeten im Nordosten Syriens im Stich ließ und nicht auf die türkische Militäroperation in der Region reagierte, bezeugen Washingtons Strategiewechsel.
Die USA sind außenpolitisch in eine Jackson’sche Phase7 eingetreten: Ihr außenpolitisches Engagement dient nur noch der inneren Sicherheit und ist nicht mehr langfristig ausgerichtet. Aufgrund dieser Abschwächung ihres hegemonialen Bestrebens müssen auch Saudi-Arabien und Iran ihre Politik überdenken. Riad weiß nun, dass die Unterstützung durch die USA nicht mehr bedingungslos ist. Und Teheran muss die Grenzen seines Einflusses und seines Drohpotenzials erkennen: Der Angriff auf die saudischen Raffinerien etwa hatte kaum Auswirkungen auf den Ölpreis.
Außenpolitische Zweckbündnisse
Natürlich ist ein Flächenbrand in der Region weiter möglich, vor allem wenn es um Israels Sicherheit geht. Ebenso wenig ist ausgeschlossen, dass begrenzte Auseinandersetzungen die US-iranische Feindschaft nähren, was zur Destabilisierung der Region beiträgt, ohne dass es zu einem offenen Krieg zwischen beiden Ländern kommt.
Die regionale Ordnung, die den Nahen Osten in den 2010er Jahren bestimmte, folgt mittlerweile einer neuen Logik. Saudi-Arabien macht nach und nach das im Frühjahr 2017 gegen Katar verhängte Embargo – sein größter außenpolitischer Fehler der vergangenen Jahrzehnte – rückgängig. Die Vereinigten Arabischen Emirate wiederum ziehen sich militärisch aus dem Jemen zurück. Riad wie Abu Dhabi sind inzwischen sogar eher bereit, direkt mit Teheran zu reden, in der Hoffnung, die regionalen Spannungen zu mindern. Das bedeutet allerdings nicht, dass die beiden Länder auf ihre Annäherung an Israel verzichten würden, und zwar vor allem aus Sicherheitsgründen: Der Zugang zu Überwachungstechnologien und Software aus Israel spielt bei diesem Zweckbündnis eine wichtige Rolle, ebenso wie Israels Fähigkeit, den Interessen Irans und seiner Verbündeten überall in der Region militärisch entgegentreten zu können.
Saudi-Arabien, seine regionalen Partner und Iran sind sich inzwischen bewusst geworden, welchen Drahtseilakt sie am Golf vollführen und wie irrational ein offener Konflikt wäre. Vor diesem Hintergrund haben sich die geopolitischen Rivalitäten in den östlichen Mittelmeerraum verlagert. Hier bilden sich zwei neue Allianzen: Auf der einen Seite Ägypten, Israel, Zypern und Griechenland, deren Präsenz auf See und zunehmende militärische Kooperation sich durch ihr gemeinsames Interesse an der Offshore-Erdgasgewinnung erklärt. Ihnen gegenüber stehen Katar, die Türkei und die in Tripoli ansässige libysche Regierung der Nationalen Übereinkunft.
Libyen ist der einzige Ort, wo der Konflikt zwischen diesen beiden Blöcken als gewaltsamer Stellvertreterkrieg ausgetragen wird. Das durch den Bürgerkrieg zerrissene Land ist zu einem anarchischen Territorium geworden, in dem ausländische Söldner und Drohnen im Einsatz sind und äußere Mächte offen das eine oder andere Lager unterstützen. In vielerlei Hinsicht ist Libyen der Hauptleidtragende dieser geopolitischen Rivalitäten in der Region.
Russland stellt bei dieser Neuordnung einen Sonderfall dar. Das in Syrien präsente und in Libyen aktive Land handelt aus konterrevolutionären Antrieben, folgt dabei aber keiner globalen Strategie. Für Moskau sind bestimmte autoritäre Regime vor allem deswegen Partner, weil sie in den jeweiligen Situationen den russischen Interessen dienen. Die Palette der Aktivitäten Moskaus umfasst wenig kostspielige, aber sehr effektive militärische Interventionen, die nur kleine Stützpunkte erfordern und bei denen häufig private Partner hinzugezogen werden.
Das russische Militärunternehmen Wagner etwa ist dort erfolgreich, wo die US-Firma Blackwater gescheitert ist. Sein Operationsfeld zieht sich von Syrien bis in die Zentralafrikanische Republik. Moskau besitzt keine langfristige Vorstellung von einer regionalen Ordnung und begreift die existierenden Konflikte als Gelegenheit, zu geringen Kosten geopolitisch Profit zu erzielen. Der russische Ansatz ist also eher taktisch als strategisch.
Derweil stecken alle Protestbewegungen – außer im Sudan – in einer Sackgasse. Das wirft wieder die alte Frage auf: Sollte die Monarchie mit Blick auf die politische Stabilität am Ende doch die beste Lösung sein? Die Frage wurde schon Anfang der 2010er Jahre nach dem Sturz des tunesischen Präsidenten Ben Ali und seines ägyptischen Amtskollegen Hosni Mubarak gestellt. Die Monarchien verfügten wegen ihrer tiefen kulturellen und sozialen Verankerung in den jeweiligen Ländern über eine größere Legitimität, war damals oft zu hören. Auch seien sie besser geeignet, Konflikte in Schach zu halten und bei Krisen eine Führung des Landes zu garantieren, weil sie als anpassungsfähige politische Institutionen in der Lage seien, sich über die Interessen unterschiedlicher Parteien zu stellen.
Im Gegensatz zu den Königreichen und Emiraten in der Golfregion, wo gesellschaftliche politische Aktivitäten stark eingeschränkt sind, haben Marokko und Jordanien – zwei Länder, wo Parlamentswahlen stattfinden – lange Zeit eine positive Sichtweise auf das Königtum in der arabischen Welt genährt. In ihnen existierten sowohl eine aktive königliche Macht als auch verschiedene politische Parteien, von denen sich einige zur Opposition zählen, ohne jedoch so weit zu gehen, die Monarchie infrage zu stellen. Im Verlauf der letzten Jahre wurde diese Art der Regierungsführung jedoch zunehmend kritisiert, vor allem in den Ländern selbst. Und weder Rabat noch Amman waren diesmal in der Lage, sich entsprechend anzupassen und – wie in der Vergangenheit vor allem durch das Einbinden von Oppositionsparteien geschehen – die Krisen zu entschärfen.
Folglich mussten die Protestbewegungen schmerzlich erfahren, dass die Infragestellung des Königtums eine Grenze darstellt, die nicht überschritten werden darf. Solange die Bevölkerung diese Grenze respektiert, können die monarchistischen Regime ihre konservativen Gepflogenheiten anpassen und fortsetzen. Das Ganze erinnert an die Logik der Wirtschaft: Ein Produkt, das auf dem Markt eine Monopolstellung innehat, braucht sich nicht zu ändern. Erscheint jedoch ein Konkurrenzprodukt, muss es sich weiterentwickeln, um zu überleben.
Mittlerweile überschreiten die Protestbewegungen jedoch die Grenzen des Erlaubten und entweihen auch die Monarchien. Die Forderung nach einer republikanischen Staatsform wird früher oder später auftauchen. Und für die Königshäuser wird sich dann die Frage stellen, ob sie noch über genug Legitimität und politische Ressourcen verfügen, um die republikanische Alternative zu verhindern.
2 Siehe Alain Gresh, „An der Hand der Armee“, LMd, August 2013.
4 Siehe Giovanna Lelli, „Friedliche Revolution im Sudan“, LMd, Mai 2019.
5 Siehe Feurat Alani, „Bagdad und die Wut der Jugend“, LMd, Januar 2020.
7 Siehe Olivier Zajec, „Theorie und Praxis der US-Außenpolitik“, LMd, Januar 2018.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver
Hicham Alaoui ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Harvard University (USA) und Autor von „Journal d’un prince banni. Demain, le Maroc“ Paris (Grasset) 2014.