12.03.2020

Der imaginierte Dschihadist

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Der imaginierte Dschihadist

Frankreich debattiert über die Ursprünge der Radikalität

von Laurent Bonelli und Fabien Carrié

Şakir Gökçebağ, Time Square, 2010, 68 x 68 x 5 cm
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Die Medien inszenieren gern Streitgespräche unter Intellektuellen, besonders wenn diese einfache, pauschalisierende Erklärungen für gesellschaftliche Entwicklungen anbieten. Sehr beliebt für solche Art von Debatte ist das Thema Dschihadismus.

In Frankreich entzündet sich diese derzeit an zwei Neuerscheinungen der Islamwissenschaftler Hugo Micheron und Bernard Rougier.1 Ausgehend von Interviews mit inhaftierten Dschihadisten und Studien zu verschiedenen Gemeinden (in Frankreich etwa Toulouse und Aubervilliers, in Belgien Molenbeek) wird in beiden Publikationen die Entstehung „islamistischer Biotope“ beschrieben, zu denen Moscheen, religiöse Schulen, Halal-Restaurants, Internetcafés sowie Kultur- und Sportvereine gezählt werden.

Wenn sich solche Orte des gesellschaftlichen Lebens in den Händen von „salafistischen Dschihadisten“ befänden, führe das zu einer „Abkehr von der Gesellschaft und ihren Institutionen“, heißt es in dem von Rougier herausgegebenen Band. Bei Einzelnen befördere es die Radikalisierung und den Wunsch, sich dem Islamischen Staat (IS) anzuschließen.

Gefängnisse seien, laut Micheron, zu regelrechten „Brutstätten“ des Dschihadismus geworden. Inhaftierte Islamisten nutzten sie, „um ihre ­Ideen in den Vierteln zu verbreiten, in die ihre Mitgefangenen nach der Haft zurückkehren“. Die Sicherheitsbehörden nähmen diese Phänomene nicht ernst, ebenso wenig wie die lokalen Volksvertreter, Intellektuelle und Aktivisten, die entweder aus Unwissenheit oder wahltaktischen Erwägungen handeln oder sich vor dem Vorwurf der Islamophobie fürchten.

Angesichts der zahlreichen Artikel, Interviews, Radio- und Fernsehbeiträge kann man in Frankreich von einem Medienhype um diese Thesen sprechen. Sie sind jedoch nicht deshalb so erfolgreich, weil sie wissenschaftlich korrekt wären, sondern weil sie einer bestimmten ideologischen Lesart folgen. Sie ignorieren alle soziologischen Erkenntnisse. Stattdessen rehabilitieren sie eine veraltete Form der Ideengeschichte, der zufolge sich Menschen hauptsächlich aufgrund der Kraft von Worten – gesprochenen und geschriebenen – für eine Sache engagieren.

So wie sich verschiedene kommunistische Bewegungen aus dem Werk von Karl Marx oder die Französische Revolution aus den philosophischen Schriften der Aufklärung erklären ließen, meint Rougier, könne man auch den Dschihadismus anhand der Texte von Mohammed Ben Abdelwahhab (1703–1792) oder von Sayyid Qutb (1906–1966) analysieren.

Diese Vorgehensweise lässt ihm jedoch wenig Raum, die Gründe zu verstehen, weshalb die Ideologie sich (nur) bei manchen Menschen durchsetzt. Vor allem kann er damit aber nicht nachvollziehen, welch vielfältige Änderungen diese Menschen an der „ursprünglichen“ Lehre vornehmen, um sie ihrem gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Umfeld anzupassen.

Kleine Minderheit in der muslimischen Vielfalt

Jede Tat eines Islamisten ist nach diesem Denkmuster Teil einer globalen Strategie, die von Einzelnen erdacht wurde (je nach Zeitpunkt von Osama bin Laden, Abu Musab al-Sarkawi oder Abu Bakr al-Baghdadi). Auch wenn sich – mit Ausnahme der Attentäter von Paris am 13. November 2015 – die islamistischen Zellen, die seit Beginn der 2000er Jahre in Europa Anschläge verübt haben, offenbar selbstständig organisiert und allein gehandelt haben, verleiht diese Logik den prominenten Köpfen des Dschihad eine nahezu demiurgische Macht über Territorien, in denen sie in Wahrheit nur über wenige Schaltstellen verfügen.

Auf ähnliche Weise wurde in den 1970er und 1980er Jahren hinter den Aktionen der Roten Brigaden in Ita­lien, der RAF in Deutschland oder der Action Directe in Frankreich der lange Arm Moskaus vermutet. Der Historiker Carlo Ginzburg hat darauf hingewiesen, dass solche Argumentationen einen „logischen Fehler“ beinhalten. Sie rutschen „stillschweigend von der Ebene der reinen Möglichkeit auf jene der Tatsachenbehauptung ab“.2

Diese strategische Ungenauigkeit lässt sich auch bei der Rolle beobachten, die den „islamistischen Biotopen“ zugeschrieben wird. Sie sollen nämlich bald als Beschleuniger für Gewaltbereitschaft fungieren, bald als selbstständige Projekte zur Bildung „kommunitaristischer Enklaven“, deren Ziel eine „religiöse Abspaltung“ sei, wie Micheron schreibt.

Doch – zumindest in Europa – gibt es keinerlei Anhaltspunkte für einen kausalen Zusammenhang zwischen der lokalen Präsenz bestimmter reli­giö­ser Gruppen und gewalttätigen Aktionen. Wenn man sich die Lebensläufe von Dschihadisten anschaut, stellt man fest, dass manche zwar in solchen Vereinen aktiv waren, von denen sie sich aber anschließend distanzierten, weil sie ihnen zu moderat waren; andere jedoch hatten überhaupt keine Verbindung zu religiösen Organisationen.

Viel entscheidender ist offenbar die Radikalisierung in kleinen Peergroups oder familiären Netzwerken. Beispielsweise blieb Marseille – nach Einschätzung des französischen Innenministeriums eine Salafistenhochburg – bislang von islamistischen Attentaten weitgehend verschont.

Indem sich die genannten Autoren auf die radikalsten Kämpfer kon­zen­trie­ren, überschätzen sie deren Einfluss. Ähnlich wie die Leninisten glauben sie an die entscheidende Rolle der Avantgarde, die mit „Überzeugung“, „Druck“ und „Einschüchterung“ arbeitet und dabei auf „wenig Einspruch und noch weniger offenen Widerstand“ stößt (Rou­gier). Die Vielfalt des Islam ziehen solche Analysen selten in Betracht.

Laut den französischen Geheimdiensten waren von 2600 Moscheen im Jahr 2018 nur 130, also 5 Prozent, „radikal“ (Le Figaro, 27. Dezember 2018). In den meisten Moscheen wirken demnach gemäßigte Imame. Manche werden von ihren Heimatländern entsandt (vor allem von Algerien und der Türkei), häufiger werden sie jedoch von der örtlichen Glaubensgemeinde ausgewählt.

Ihre Autorität hängt stark davon ab, inwieweit sie in der Lage sind, auf unterschiedliche, teils widersprüchliche Bedürfnisse einzugehen, die sich im Allgemeinen weniger um die reine Lehre als um Alltagsprobleme drehen. Die meisten Imame suchen dabei nach akzeptablen Arrangements zwischen ihrer Religion und der Gesellschaft, in der sie leben, als dass sie religiösen Separatismus predigten.

Natürlich kommt es vor, dass sie von dogmatischen Einzelpersonen oder Kleingruppen infrage gestellt werden. Doch diese bekommen es dann mit der Gegenwehr der anderen Gläubigen zu tun, und nur in seltenen Fällen gelingt es den Dogmatikern, sich durchzusetzen. Die Gerichtsakten von jungen, nach Syrien ausgereisten Fundamentalisten sind voll von Berichten über heftige Ordnungsrufe, die sie schließlich dazu brachten, anderswo das zu suchen, was sie zu Hause nicht finden konnten.

Es ist also mindestens problematisch, die Hinwendung zum Islam, die man in manchen französischen Vorstädten beobachten kann, auf den Einfluss einer militanten Avantgarde zurückzuführen. Um das Phänomen zu verstehen, muss man im Gegenteil auf die tiefgreifenden Veränderungen eingehen, die diese Milieus in den letzten 40 Jahren durchgemacht haben: durch Verarmung, den Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge und das rückläufige Engagement von Vereinen und Parteien.

Solche Entwicklungen haben die Identifikation mit dem Islam zu einer ernsthaften Alternative gemacht, da sie zugleich Respekt verspricht und ein Gefühl kollektiver Zugehörigkeit bietet. Im Verlauf dieses Prozesses wurden auch Stimmen laut, die versuchen, auf politischer Ebene ein muslimisches „Wir“ zu artikulieren.

Landesweit war der Erfolg dieser Ini­tiativen gering – die Vereinigung der muslimischen Demokraten Frankreichs erzielte bei den Europawahlen 2019 nur 0,13 Prozent der Stimmen. Meist beschränken sie sich auf die lokale Ebene. Dabei geht es dann etwa um den Bau oder die Renovierung von Moscheen, oft auch um Schulfragen wie Verweise, Ausflüge oder das Kantinenessen.

Rougier aber sieht in solchen Ini­tia­tiven ein „ideologisches Projekt“, das „heterogene Bevölkerungsschichten unter einer islamischen Autorität vereinen“ will. Dabei lässt er völlig außer Acht, dass jeder Repräsentationsversuch unter starkem Konkurrenzdruck steht. Die dogmatische Zurschaustellung politischer oder religiöser Reinheit funktioniert nur innerhalb der Auseinandersetzungen zwischen kleinen Avantgardegrüppchen – und ruft dann immer neue Spaltungen hervor.

Dagegen muss jede Organisation, die ihre Basis erweitern will, Kompromisse eingehen und von der „reinen Linie“ abzuweichen. Die Tendenz einiger Fraktionen des Dachverbands der französischen Muslime (Union des organisations islamiques français, ­UOIF), die von den örtlichen Behörden als Vermittler anerkannt werden möchten und für einen „konsensorientierten und friedlichen“3 Islam stehen, geht zweifellos in diese Richtung.

Die Lebensläufe und Erfahrungen von Musliminnen und Muslimen in Frankreich sind ausgesprochen vielfältig. Und trotz aller Benachteiligungen, die sie erleben, sind sie nicht vom Rest der französischen Gesellschaft isoliert. Wer die zahlreichen Beziehungen beiseite lässt, die sie mit dieser Gesellschaft verbinden, um sich über einen angeblichen „Separatismus“ aufzuregen, läuft Gefahr, die Wünsche kleiner, radikaler Splittergruppen mit der Realität zu verwechseln. Das ist nicht nur analytisch falsch, sondern auch politisch ungeschickt.

1 Hugo Micheron, „Le Djihadisme français. Quartiers, Syrie, prisons“, Paris (Gallimard) 2019; und Bernard Rougier (Hg.), „Les Territoires conquis de l’islamisme“, Paris (Presses universitaires de France) 2020.

2 Carlo Ginzburg, „Der Richter und der Historiker: Überlegungen zum Fall Sofri“, Berlin (Wagenbach) 1991.

3 Margot Dazey, „Les conditions de production locale d’un islam respectable“, Genèses, Bd. 117, Nr. 4, Paris 2019.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Laurent Bonelli ist Dozent für Politikwissenschaft an der Universität Paris-Nanterre, Fabien Carrié forscht beim belgischen Fonds für wissenschaftliche Forschung (FRS-FNRS). 2018 erschien ihr Buch „Fabrique de la radicalité. Une sociologie des jeunes djihadistes français“, Paris (Seuil).

Le Monde diplomatique vom 12.03.2020, von Laurent Bonelli und Fabien Carrié