07.05.2020

Miami versinkt

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Miami versinkt

Stadtentwicklung im Überschwemmungsgebiet

von Laura Raim

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Wenn man heißes Wasser eingießt, verschwindet Florida von der Weltkarte. Diese sehr spe­ziel­le Tasse gibt es in allen Souvenirläden von Miami Beach. „Der Klimawandel ist da“, steht auf den Bussen, in der Lokalpresse ist er ständig Thema, und der Miami Herald hat seit zwei Jahren sogar einen eigenen Klima-Korrespondenten.

Früher war Ron DeSantis, der republikanische Gouverneur von Florida, Klimaskeptiker, doch letztes Jahr hat er Klimaforscher und Resilienz­berater1 angestellt, um die Halbinsel auf die Folgen des Klimawandels vorzubereiten.

Seit 1992 ist der Meeresspiegel um 7 Zentimeter gestiegen, in den letzten fünfzehn Jahren hat sich das Tempo noch einmal erhöht. Bis 2060 könnte das Wasser um 86 Zentimeter steigen. Davon wären auch die Millionäre in Mia­mi Beach oder auf den nahen Inseln Fisher Island, Star Island oder Indian Creek betroffen. Zu den potenziellen Luxus-Klimaflüchtlingen gehört auch der US-Präsident. Donald Trumps privates Anwesen Mar-a-Lago dürfte bis 2050 an 210 Tagen im Jahr 30 Zentimeter unter Wasser stehen.2

In Miami sind die Folgen des Klimawandels längst Teil des Alltags. Florida war früher ein Sumpfgebiet und liegt nur knapp über dem Meeresspiegel. Der Bundesstaat am Atlantik ist mit Abstand am stärksten von den immer häufiger auftretenden Überschwemmungen betroffen.

Das Meer steigt hier schneller als anderswo, und die extremer gewordenen Gezeiten sind mit ihren Sturmfluten im Herbst, wenn die gewaltigen „King tides“ toben, besonders zerstörerisch. Das Salzwasser dringt dann in die Kanalisation ein, wird mit den Abwassern aus den Gullys hochgespült und überschwemmt tagelang die Straßen und Tiefgaragen.

2016 ging das Foto von einem Tintenfisch um die Welt, der in einem Parkhaus von Miami Beach gestrandet war. Dieses relativ neue Phänomen wurde „sunny day flooding“ (Schönwetterüberschwemmung) getauft, weil es auch ohne Regen auftritt. Manche Inseln der Florida Keys, des Archipels im Süden von Miami, waren 2019 bis zu 90 Tage in Folge überschwemmt, ein trauriger Rekord.

Problematisch ist auch der schwammige Untergrund aus porösem Schluffgestein. In Küstenstädten wie New Or­leans oder New York ist der Boden anders beschaffen. Das ist ein wichtiger Unterschied, weil der Ozean in Florida viel leichter in das Grundwasser und die Kläranlagen eindringen kann. Dagegen können auch die immer höheren Deiche nichts ausrichten. In Hallandale Beach hat das Meerwasser bereits fünf Süßwasserquellen kontaminiert.

Anderswo ist die Vegetation bedroht, die kein Salz verträgt, wie etwa die kostbaren, Schatten spendenden Palmen. Womöglich werden die Menschen Durst leiden, bevor sie feuchte Füße bekommen. Auch die Hurrikans, die regelmäßig in der Tropenregion wüten, sind durch die Erwärmung der Meeresoberfläche heftiger geworden und dauern länger an.

Die Spuren der Verwüstung, die Hurrikan „Irma“ 2017 angerichtet hat, sind heute noch zu sehen. „Kurzfristig fürchten wir vor allem die Kombination

von Hurrikan und Sturmflut, wie beim Hurrikan ‚Sandy 2012‘ “, erklärt David Letson. Der Wirtschaftswissenschaftler forscht über das Verhalten bei Evakuierungen. Er selbst lebt in einem Dorf auf Key Biscayne, einer Insel südlich von Miami Beach.

„Seit fünfundzwanzig Jahren wohnen meine Frau und ich in diesem Haus. Allmählich fragen wir uns, wie lange wir hier noch bleiben können und was das Haus überhaupt noch wert ist. Mein Nachbar überlegt schon, sein Haus höher setzen zu lassen, aber das ist sehr teuer, das kostet mindestens 100 000 Dollar. Das ist das Dilemma: Wenn man investiert, um das Haus zu schützen, steigert man den Wert des Objekts, das man den noch heftigeren Unwettern aussetzt, die unweigerlich kommen werden. Früher oder später müssen wir den Rückzug antreten.“

Philip Stoddard, der Bürgermeister von South Miami, einer von 34 Gemeinden in Miami County, ist einer der wenigen Politiker, die von „freiwilligem Rückzug“ sprechen. „Nur wenige Politiker sind bereit, den Leuten die Wahrheit zu sagen. Das mittlere Einkommen in Miami liegt bei 50 000 Dollar. Wir haben nicht das Geld, um die Infrastruktur zu finanzieren, die nötig wäre, um das Gebiet auf den zu erwartenden Wasseranstieg in den nächsten Jahrzehnten vorzubereiten.

Die Federal Emergency Management Agency (Fema) hat ein nationales Budget von 125 Millionen Dollar. Allein in meiner kleinen Gemeinde von 13 000 Einwohnern würde es 75 Mil­lio­nen Dollar kosten, die alten Klärgruben durch ein kommunales Abwassersystem zu ersetzen! Wir müssen den Leuten sagen, dass sie allmählich daran denken sollten, die Region zu verlassen, solange noch Zeit ist, das in Ruhe zu organisieren.“

Manche hatten keine Zeit, sich vorzubereiten. Auf den Florida Keys zwangen die Zerstörungen des Hurrikans „Irma“ mehrere hundert Menschen, ihre Häuser aufzugeben. Theoretisch bietet die Fema an, bestimmte Häuser in gefährdeten Gebieten aufzukaufen, um die Grundstücke als nicht bebaubar zu deklarieren und den Teufelskreis von Zerstörung und Neubau zu durchbrechen. Aber der Verwaltungsweg ist lang, im Durchschnitt dauert es fünf Jahre. Und vor allem „hat die Fema bei Weitem nicht genug Geld, um die Häuser all derer aufzukaufen, die weggehen mussten“, beklagt Bürgermeister Stoddard.

Auch der Vermögensberater Mark Singer empfiehlt seinen Kunden, „ihre Risiken zu reduzieren“. „Früher war das eigene Haus die sicherste Investition. Aber das ist vorbei. Die Klimaerwärmung ist nicht zyklisch, wie die Börse – außer man wartet auf die nächste Eiszeit.“ Er erinnert sich noch an den Tag, als das Wasser zum ersten Mal aus den Gullys quoll, obwohl es nicht regnete. „Die Baufirmen, die direkt am Meer bauen, haben einen Zeithorizont von drei bis vier Jahre, aber ich habe eine Langzeitbeziehung zu meinen Kunden, denen das Ansteigen des Wasser allmählich Sorgen macht. Früher oder später werden die Versicherungen die Tarife drastisch erhöhen und die Banken keine Kredite mit dreißig Jahren Laufzeit mehr vergeben. Dann können sie ihre Häuser nicht mehr verkaufen.“

Angesichts dieser Gefahren nahmen schlaue Geschäftsleute etwas höher gelegene Stadtviertel ins Visier – häufig liegen sie nur ein paar Kilometer vom Meer entfernt. West Coconut Grove zum Beispiel hat wenig mit dem protzigen und touristischen Miami Beach gemein. Das alte Wohnviertel der Einwanderer von den Bahamas liegt bis zu drei Meter hoch. Lächerliche drei Meter machen den ganzen Unterschied, vor allem im Vergleich mit Miami Beach, wo die meisten Gebäude nur 60 bis 120 Zentimeter über dem Meeresspiegel liegen. Die für die Antillen typischen kleinen, rechteckigen Holzhäuser, sogenannte Shotgun houses, haben zwar keinen Meerblick, aber sie wurden noch nie überschwemmt.

Reverend Nathaniel Robinson von der afrikanischen methodistischen Gemeinde des Viertels rühmt die Stabilität dieser alten ebenerdigen Häuser, die den Hurrikans standhalten. „Man muss nur Türen und Fenster öffnen und das Haus atmet, der Wind geht hindurch, er wirft es nicht um“, erklärt er und zeigt auf ein kleines, verwittertes weißes Haus. „Das da hat sogar 1992 Hurrikan ‚Andrew‘ überstanden.“

Aber wird es auch die Baufirmen überleben? „Die Immobilienhändler schicken mir Briefe und rufen jede Woche an, um mich zum Verkauf zu überreden“, schimpft Thaddeus Scott, ein 63-jähriger Gärtner und „Halbrentner“, der seit seiner Kindheit in dem Viertel lebt. Vor zehn Jahren hat er für 130 000 Dollar ein Haus gekauft und dafür einen Kredit über dreißig Jahre aufgenommen. Bis jetzt hält er stand, aber er fühlt sich immer einsamer, während die Investoren die Häuser ringsum aufkaufen und abreißen, um große hässliche Villen zu errichten. Er empfindet die inzwischen etwa hundert „Zuckerwürfel“, die die antillischen Häuschen überragen, als Bedrohung: „Die Dinger kosten 2 Millionen Dollar. Das ist nichts für Leute wie uns.“

Verdrängen die Reichen auf ihrem Rückzug aus den gefährdeten Strandvierteln die ursprünglichen Bewohner aus den höheren Vierteln? Scott spricht von „Klima-Gentrifizierung“. Seitdem vor einem Jahr verschiedene Stu­dien dazu veröffentlicht wurden, ist der Begriff in aller Munde. Professor Jesse Keenan von der Harvard University stammt selbst aus Miami. Er hat beobachtet, dass der Wert von Einfamilienhäusern in höher gelegenen Vierteln zwischen 1971 und 2017 schneller gestiegen ist als von vergleichbaren Immobilien direkt am Meer.3 Nach einem Bericht der Beratungsfirma McKinsey werden die Häuser, die in den Überflutungsgebieten Floridas liegen, bis 2050 zwischen 15 bis 30 Prozent an Wert verlieren.4

In Little Haiti wehrt sich eine Handvoll engagierter Aktivisten gegen die Gentrifizierung. In dem für seinen Karibikmarkt und die botanicas (Voodoo-Läden) bekannten Viertel hatten sich seit den 1970er Jahren Haitianer niedergelassen, die vor der Duvalier-Diktatur geflohen waren. Es liegt 2 bis 4 Meter über dem Meeresspiegel. „Für Miami ist das Hochgebirge!“, scherzt Caroline Lewis, die Gründerin der Organisation Cleo für Klimaerziehung.

Verbitterung in Little Haiti und West Coconut Grove

Das Flaggschiff der Klima-Gentrifizierung in Little Haiti ist das Stadtentwicklungsprojekt „Magic City Innova­tion District“. Auf einer Grundfläche von 7 Hektar sollen hier in den nächsten fünfzehn Jahren für eine Milliarde Dollar zwanzig Gebäude hochgezogen werden: Büros, Geschäfte, Wohnungen, Galerien, Cafés und Restaurants. Die Website des Projektentwicklers spricht tatsächlich von der „Wiederbelebung“ des Viertels und hebt angesichts „der Folgen des Klimawandels“ dessen „Hochlage“ hervor.

Drei Jahre lang haben sich die Anwohner gegen den radikalen Umbau ihres Viertels gewehrt. Es hat nichts genützt. Letztes Jahr hat die Stadt den Baufirmen die Genehmigung erteilt. Das einzige Zugeständnis: Das Viertel durfte seinen Namen behalten. Magic City wollte es in „Little River“ umtaufen – wie es vor der Ankunft der Haitianer hieß. Ein schwacher Trost.

Marleine Bastien ist Geschäftsführerin des Family Action Network Move­ment, das haitianische Familien unterstützt. Bei jeder Gelegenheit rät sie den kleinen Hauseigentümern, bloß nicht zu verkaufen. „Die Firma bietet ihnen 150 000 bis 200 000 Dollar für Häuser, die sie Anfang der 2000er Jahre für 40 000 gekauft haben. Sie denken, sie machen ein super Geschäft, aber wenn sie verkauft haben, merken sie, dass es für diese Summe in Miami nichts mehr gibt.“ Die einen bleiben im County und ziehen nach North Miami Beach, Home­stead oder Miami Gardens, die anderen noch weiter weg, nach Fort Lauderdale im Nachbarcounty Broward oder sogar in den Nachbarstaat Georgia.

Für die Stadtverwaltung von Mia­mi ist es gar keine Frage, die höher gelegenen Grundstücke zu bebauen, erst recht, wenn es eine Zuganbindung gibt. Nach Miami fuhr man früher nur in den Winterferien. Erst nach der Verbreitung der Klimaanlagen in den 1960er Jahren5 wurde die Stadt zum Dauerwohnsitz. „Aber die Stadtentwicklung der Anfänge, vor allem mit dem Bau von Einfamilienhäusern, ist nicht mehr möglich: Wir müssen unbedingt verdichten“, erklärt der Abteilungsleiter für Stadtentwicklung Francisco Garcia.

Die Einwohner von Liberty City – 2,6 Meter „Höhe“ – sind überzeugt, dass sie als Nächste auf der Einkaufsliste der Klima-Gentrifizierer stehen. In dem afroamerikanischen Viertel verdient die Hälfte der Einwohner weniger als 20 000 Dollar im Jahr. 2018 ist der Quadratmeterpreis um 26 Prozent in die Höhe geschossen. Am Liberty Square hat die Stadt 2017 in Zusammenarbeit mit privaten Firmen damit begonnen, die Sozialwohnungen in den neun Wohnblöcken aus den 1930er Jahren zu renovieren. Die Immobilienfirmen haben bereits angefangen, die Einfamilienhäuser in der Gegend aufzukaufen. Um die Ecke hat eine Tierklinik aufgemacht. „Wenn die Weißen hier ihre Hunde ausführen, sind wir weg vom Fenster. Ich kenne hier niemanden, der ein Hündchen hat“, sagt die Schulleiterin Samantha Quaterman.

Liberty City ist wegen der Aufstände von 1980 bekannt, die sich an dem Freispruch für vier weiße Polizisten entzündeten, die einen schwarzen Motorradfahrer zu Tode misshandelt hatten. Aber auch wegen der Gangs und des Cracks erlangte das Viertel traurige Berühmtheit. Von der Verbürgerlichung scheint es heute noch weit entfernt. In der Dunkin’­Do­nut-Filiale, dem einzigen Lokal im Viertel, sollen kugelsichere Scheiben die Kassiererinnen schützen. Ein Starbucks-Café würde eine zahlungskräftigere Kundschaft anlocken, aber für Quaterman ist selbst der Donut-Laden schon ein deutliches Zeichen von Gentrifizierung. „Vorher war da ein KFC. Wir sind verloren!“

Ob West Coconut Grove, Little Hai­ti oder Liberty City – überall ist die Verbitterung groß: „Früher konnten sich die Schwarzen nicht an der Küste niederlassen, wegen der Rassentrennung und weil Immobilienkredite für Schwarze bis Mitte der 1960er Jahre außerhalb bestimmter Gebiete verboten waren. Jetzt steigt das Wasser, und die Weißen vertreiben uns aus unseren Vierteln“, fasst Caroline Lewis die historische Ironie der Situation zusammen. Das ist die Besonderheit von Miami – im Unterschied zu New Or­leans, wo die afroamerikanische Bevölkerung schon immer in den niedrigen, von Überschwemmung bedrohten Gebieten lebt.

Die Hypothese einer nur vom Klima verursachten Gentrifizierung wird allerdings nicht von allen geteilt. Die Immobilienspekulation begann schon 2005, als hier vom Klimawandel noch kaum die Rede war. Und sie traf damals alle Viertel, auch die weniger hoch gelegenen. Grund dafür war eine demografische Explosion. In fünfzehn Jahren hat sich Miami vom Badeort und Steuer­paradies für Golf spielende Rentner zu einer kosmopolitischen Metropole entwickelt, die junge Aufsteiger aus der IT-Branche, Banker und Kunstsammler anzieht.

Seit 2010 ist die Bevölkerung von Miami County um eine halbe Million auf 2,8 Millionen gewachsen. Die Immobilienpreise sind nicht zuletzt durch die starke Nachfrage von Käufern aus dem Ausland hochgeschnellt. Luxuswolkenkratzer schossen wie Pilze aus dem Boden. Zahlreiche Viertel haben sich dadurch rasch verändert und sind bürgerlicher geworden. Zwischen 2011 und 2017 sind die Mieten im County um 24 Prozent gestiegen. Die Löhne und der Sozialwohnungsbau halten da nicht mit.

Der Bauunternehmer Mallory Kauderer investiert seit fünfundzwanzig Jahren in Little Haiti. Er macht keinen Hehl aus seinem Ärger, wenn man ihn auf die Folgen des Klimawandels anspricht „Wir investieren hier, weil es eins der wenigen noch bezahlbaren Viertel ist. Die 3 Meter Höhenunterschied sind lächerlich, in hundert Jahren macht das keinen Unterschied, dann steht die ganze Stadt unter Wasser!“ Auch der Architekturwissenschaftler Jesse Keenan geht davon aus, „dass wir es in einem Viertel wie Little Haiti wahrscheinlich mit klassischer Gentrifizierung zu tun haben.“ Oft würden die Leute, die aus Miami Beach wegziehen, um den Stürmen zu entkommen, nicht innerhalb Miamis, sondern in andere Städte umziehen wie Orlando oder Atlanta: „Mein bester Freund hat gerade sein Haus in Miami Beach verkauft und ist nach Denver gezogen.“

Man kann das Phänomen nicht nur lokal betrachten. Nach einer Studie des Demografen Mathew Hauer von der Universität Georgia6 müssen bis zum Ende des Jahrhunderts in Florida 6 Millionen Menschen ins Landesinnere umziehen, wenn das Wasser um 1,80 Meter steigt. Da Großstädte wie Dallas und Houston einen großen Teil von ihnen aufnehmen könnten, wird man die Folgen der Klima-Gentrifizierung nur im nationalen Maßstab bewerten können.

In den USA könnten insgesamt 13 Millionen Einwohner aus den Küstenstädten vertrieben werden, vor allem aus Long Island in New York, New Orleans in Louisiana7 , Charleston in South Carolina und San Mateo in Kalifornien. Die UNO warnt regelmäßig vor den Gefahren des Klimawandels für kleine Inselstaaten wie Polynesien, die Malediven und die ungefähr 7000 Inseln der Philippinen. Aber auch in den USA drohen gigantische Probleme, sie könnten eine Bevölkerungswanderung auslösen, vergleichbar mit den Ausmaßen der Great Migration zwischen 1910 und 1970, als etwa 6 Millionen Afroamerikaner aus den ländlichen Re­gio­nen in den Südstaaten in die Industriegebiete des Nordens und Westens zogen.

Es sind nicht die Milliardäre, die ihre Villen in Miami Beach verlassen und nach Little Haiti oder Liberty ziehen werden. „Denen ist es egal, wenn ihr 15-Millionen-Dollar-Anwesen überschwemmt wird“, meint Jesse Kenean. „Wenn über Miami ein Hurrikan tobt, sind sie weit weg in einer ihrer anderen zahlreichen Villen. Die Mittelschicht erträgt die immer häufiger werdenden Überschwemmungen viel schlechter, denn sie zerstören ihre Autos, machen ihre Versicherungspolicen teurer und die Straßen, auf denen sie zur Arbeit fahren, unbefahrbar.“

Deswegen denken die Reichsten nicht daran wegzuziehen, manche lassen sich sogar erst jetzt direkt am Meer nieder, wo die Luxuswohnungen in den von bekannten Architekten gebauten Hochhäusern immer noch zu absurden Preisen verkauft werden. Die Käufer unterschreiben ihre Schecks umso unbekümmerter, da sie das Risiko nur teilweise selbst tragen.

In den USA beruht die Versicherung gegen Überschwemmung nämlich auf einem staatlichen System, dem 1968 gegründeten National Flood Insurance Program, dessen Prämien nicht die tatsächlichen Risiken abbilden. „Ich bin ein Linker, ich bin kein Fan der Märkte, aber bei den Versicherungen würde ich mich freuen, wenn die unsichtbare Hand von Adam Smith die Prämien in die Höhe treiben würde!“, erklärt Mario Ariza, Journalist beim Sun Sentinel und Autor eines in Kürze erscheinenden Buches über die Folgen der Klimakatastrophe in Miami.8 „Gegenwärtig wird das Risiko vergemeinschaftet, obwohl zwei Drittel der durch diese staatliche Versicherung geschützten Häuser teure Zweitwohnsitze sind.“

Neubauten wie die Monad Terrace an der Biscayne Bay (59 Eigentumswohnungen), entworfen vom französischen Architekten Jean Nouvel, werden von vornherein so angelegt, dass sie einem Hurrikan der Kategorie 5 standhalten. Die Souterrain-Wohnungen beginnen auf 3,5 Meter Höhe und es gibt keine Tiefgarage. Bei Überschwemmungen wird das Wasser in eine künstliche Lagune im Herzen des Gebäudes geleitet. Die Bauherren berauschen sich an der „Resilienz“ des Bauwerks, das bis zum Jahresende fertiggestellt sein soll. Die Wohnungen kosten zwischen 1,7 und 14 Millionen Dollar. Dass dafür andere Häuser aufgekauft und deren Mieter hinausgeworfen wurden, wird natürlich nirgendwo erwähnt.

Resilienz ist das neue Zauberwort. „Früher haben die Bauherren und die Politik den Klimawandel geleugnet“, erklärt Stéphanie Wakefield, Geografin an der Florida International University. Dank der Resilienz müssten sie das nicht mehr, weil sie behaupten können, sie hätten die Lösung gefunden, um den Klimawandel zu beherrschen.

Das Wort stammt ursprünglich aus der Physik und bezeichnet die Widerstandsfähigkeit eines Werkstoffs gegen eine einwirkende Kraft. In den 1970er Jahren wurde es in die Ökologie übernommen, um die Entwicklung und Anpassung von Ökosystemen zu beschreiben In den 1980ern machte es in der Psychologie Furore, um zu erklären, warum einige Menschen Traumata besser verarbeiten als andere. Schließlich übernahmen auch Ökonomen, Stadtplaner und Entwicklungsexperten den Begriff.

Seit etwa zehn Jahren wird „Resi­lienz“ auch immer häufiger als Schlüsselbegriff in politischen Statements benutzt, egal ob es um Klimawandel, Naturkatastrophen, Terrorismus, Finanzkrisen oder Pandemien geht. Auch die französische Militäroperation, die seit dem 25. März 2020 den Kampf gegen Covid-19 unterstützen soll, hat Emmanuel Macron „Résilience“ getauft.

„Der Begriff ist gefährlich, er besagt, dass man weder das existierende Wirtschaftssystem ändern noch die Katastrophen, die es auslöst, verhindern muss“, warnt Wakefield. „Wir werden immer verletzlich sein, damit müssen wir leben. Die Resilienz-Technologien, die den Klimawandel beherrschbar machen sollen, passen bestens zu den Technologien, die ihn verursachen. Am meisten beunruhigt mich, dass ein Teil der Linken und der Aktivisten dieses Vokabular und diese Weltsicht übernommen haben.“

Im Klimakontext verdankt das Thema seinen Erfolg zum großen Teil der Rockefeller-Stiftung, deren ehemalige Präsidentin Judith Rodin ein Buch über die „Resilienz-Dividende“ geschrieben hat.9 Seit 2013 finanziert die Stiftung in hundert Metropolen weltweit Stellen für „Chief Resilience Officers“.

Jane Gilbert ist Miamis erste Chief Resilience Officer. Sie erklärt uns die Maßnahmen, zu denen die Stadt die Eigentümer und Bauherren verpflichten beziehungsweise mit finanziellen Anreizen bewegen will: Sie sollen höher bauen, Deiche aufschütten und Sonnenkollektoren installieren. Von Rückzug ist hier nicht die Rede. „Die Menschen kommen wegen der Schönheit des Meeres, sie wollen nicht weg“, erklärt sie.

Also anpassen statt „umsiedeln“. 2017 hat sich die Stadtverwaltung von der Bevölkerung ein 400-Millionen-Dollar-Projekt mit dem optimistischen Titel „Miami Forever“ absegnen lassen, um in die Infrastruktur und die Wohnungen der Zukunft zu investieren.

Wo findet man so viel Geld? Florida gilt als Steuerparadies, weil der Staat keine Einkommensteuer verlangt. „Ein riesiger Teil des städtischen Budgets von Miami, ungefähr 40 Prozent, stammen aus der Grundsteuer“, erklärt Frances Colòn, früher Mitglied im Komitee für Klimaresilienz, das die Stadt berät. „Da zeigt sich die Absurdität des Systems. Da die Stadt vollständig vom Immobilienmarkt und vom Tourismus abhängig ist, fördert sie den Bau von Luxuswohnungen und Hotels, um die nötigen Steuereinnahmen zur Finanzierung der Infrastruktur reinzubekommen, die genau diese Gebäude schützen soll.“

Resilienz als Modewort gegen den Klimawandel

Die Abhängigkeit vom Tourismus erklärt zumindest teilweise, weshalb Gouverneur DeSantis so lange gewartet hat, ehe er wegen des Coronavirus Ausgangsbeschränkungen erließ. Bis Anfang April konnten sich zehntausende Studenten in den Semesterferien und andere Urlauber an den Stränden Floridas tummeln, um das Virus danach im Rest des Landes zu verbreiten.10

Noch mehr als die Stadt Miami hat sich die kleinere, reichere Nachbargemeinde Miami Beach auf dem Gebiet der „urbanen Resilienz“ ausgezeichnet. 2015 stellte sie unter dem Titel „Rising above“ einen 400-Millionen-Dollar-Plan vor. Er passt zu dem Ehrgeiz des damaligen Bürgermeisters Philip Le­vine, Miami Beach buchstäblich über das ansteigende Wasser zu „heben“. Nachdem Levine kurz entschlossen den Klimanotstand verkündet hatte, konnte er alle üblichen Verfahren umgehen, um seinen „Rising above“-Plan in die Tat umzusetzen. Er ließ die Deiche erhöhen, ein Dutzend Straßen anheben, und riesige Pumpen installieren – vor allem an der Alton Road, wo er selbst einige Häuser besitzt.

Doch das Ergebnis entsprach nicht den Verheißungen. Die übereilt und ohne Genehmigung errichteten Deiche verstießen gegen die Vorschriften zum Schutz von Fauna und Flora, der Bau musste abgebrochen werden. Die Anhebung der Straßen hat die Überschwemmungen der Gebäude verschlimmert, die nun unter dem Straßenniveau lagen. Der Geschäftsführer des Restaurants „Sardinia Enoteca“ erzählt, was beim letzten Unwetter geschah: „Die Riesenpumpen funktionierten wegen des Stromausfalls nicht. Und die Versicherung hat sich geweigert, für den Schaden aufzukommen, weil unser Restaurant wegen der Anhebung der Straßen als Keller eingestuft wurde!“

Schließlich stellte die Stadtverwaltung wegen der Stromausfälle Generatoren auf und verhandelte mit den Versicherungen. „Jetzt ist es halbwegs in Ordnung, abgesehen von dem widerlichen Gestank, der ständig aus den Gullys aufsteigt.“ Die Pumpen sind nicht darauf ausgelegt, das Wasser zu filtern, das sie in die Biscayne Bay spucken. Und die ist inzwischen so stark von Fäkalbakterien verseucht, dass die Stadt an mehreren Stränden davor warnt, ins Wasser zu gehen.

„Das wird sowieso alles nur gemacht, um die Versicherungen und die Bauherren zu beruhigen, aber damit gewinnt man vielleicht dreißig Jahre“, schätzt Wakefield. „Langfristig stellen sich manche Ingenieure vor, dass wir fünf Luxuswolkenkratzer haben, die durch Brücken verbunden sind, und die nennen wir dann South Florida Islands. Andere entwerfen schwimmende Inseln.“

Seit 2018 vermarktet das Start-up-Unternehmen Arkup Hausboote, mit ihren 400 Quadratmetern Wohnfläche sind sie eine Mischung aus Yacht und Villa. „Eine grüne, verantwortungsbewusste und resiliente Alternative“, wirbt das Unternehmen auf seiner Webseite. Sonnenkollektoren versorgen die Arkup-Hausboote mit Strom. Auch die Wasserversorgung funktioniert autonom, indem das Regenwasser aufgefangen und gereinigt wird. Die Behausungen thronen auf vier hydraulischen Pfählen und sollen einem Hurrikan der Kategorie 4 widerstehen können. Resi­lienz ist möglich, aber sie hat einen Preis: exakt 5,5 Millionen Dollar.

1 Am 23. April trat Julia Nesheiwat, Floridas erste Chief Resilience Officer, zurück, um als Beraterin für Homeland Security ins Weiße Haus zu wechseln.

2 Adam Gabbatt, „How hurricanes and sea-level rise threaten Trump’s Florida resorts“, The Guardian, London, 9. September 2017.

3 Jesse Keenan, Thomas Hill und Anurag Gumber, „Climate gentrification: from theory to empiricism in Miami-Dade County, Florida“, Environmental Research Letters, Bd. 13, Nr. 5, IOP publishing, Bristol, 23. April 2018.

4 „Climate risk and response: Physical hazards and socioeconomic impacts“, Mc Kinsey Global Institute, New York, Januar 2020.

5 Siehe Benoît Bréville, „Kalte Luft“, LMd, August 2017.

6 „Millions projected to be at risk from sea-level rise in the continental United States“, Nature Climate Change, Nr. 6, London 2016.

7 Siehe Elizabeth Rush, „Die Welt aus der Sicht einer niedrig gelegenen Insel. Die Folgen des Klimawandels für Isle de Jean Charles, Louisiana“, LMd, Januar 2016.

8 Das Buch erscheint voraussichtlich am 14. Juli: Mario Ariza, „Disposable City. Miami’s Future on Shores of Climate Catastrophe“, New York (Bold Type Books) 2020.

9 Judith Rodin, „The resilience dividend. Being strong in a world where things go wrong“, New York (Public­Affairs) 2014.

10 „A shadow over the Sunshine State“, The Economist, London, 2. April 2020.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Laura Raim ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 07.05.2020, von Laura Raim