Jeden Tag ein Chemieunfall
In China geht die rasante Industrialisierung auf Kosten von Mensch und Umwelt
von Mohamed Larbi Bouguerra
Am 21. März 2019 – Chinas Präsident Xi Jinping war gerade auf dem Weg nach Europa – explodierte in Yancheng (Provinz Jiangsu), 250 Kilometer nördlich von Schanghai, eine Chemiefabrik der Firma Jiangsu Tianjiayi Chemical (JTC). 78 Menschen kamen ums Leben, 566 wurden verletzt. Die Katastrophe war das erste Chemieunglück im chinesischen Jahr des Schweins – und es sollte nicht das letzte bleiben.1
Die Fabrik in der Nähe des Bahnhofs von Yancheng war 2007 in Betrieb genommen worden. 195 Beschäftigte produzierten hier 3-Hydroxybenzoesäure, die für die Herstellung von Parabenen (Konservierungsmittel für Kosmetik, Fungizide und antibakterielle Mittel) benötigt wird, sowie thermoplastische Polymere und Anisol für die Parfümherstellung. Die durch die Stadt wabernden Rauchschwaden beunruhigten die Bevölkerung so sehr, dass die Stadtverwaltung von Yancheng Luft- und Wasseruntersuchungen durchführen musste. In einem Gewässer unweit der Unglücksstelle stellte die Umweltschutzbehörde der Provinz eine Giftstoffkonzentration fest, die um das 111-Fache über den Grenzwerten lag.
Die Kommission, die der Staatsrat (Ministerrat) nach dieser Tragödie eingesetzt hatte, gelangte zu der Einschätzung, dass die Behörden in Jiangsu die Gesetze wohl „nicht ernsthaft genug“ umgesetzt hatten. Es stellte sich heraus, dass JTC die Betriebsgenehmigung hatte behalten dürfen, obwohl das Unternehmen wegen Verstößen gegen die Sicherheitsauflagen schon etliche Geldstrafen hatte zahlen müssen. Im April 2019 wurde das Werk dichtgemacht. Zwei Dutzend Beamte und leitende Angestellte des Unternehmens wurden festgenommen, im November wurden zwei Vizegouverneure der Provinz disziplinarisch verwarnt.
Im November 2018 war es in Zhangjiakou in der Provinz Hebei zu einer Explosion gekommen, als aus einer Produktionsanlage des Staatsunternehmens ChemChina Vinylchlorid ausgetreten war. 23 Menschen starben. Im Juli 2018 hatte eine Explosion in der Fabrik von Hangda Technology in Yibin in der Provinz Sichuan 19 Menschen das Leben gekostet.
Diese Unfälle zeigen wieder einmal, dass die nach der Katastrophe von Tianjin getroffenen Maßnahmen nicht greifen. Dort waren am 12. August 2015 bei der Explosion eines Depots von Ruihai International Logistics insgesamt 173 Tote und fast 800 Verletzte zu beklagen gewesen. Tausende Menschen mussten ihr Zuhause verlassen. Die Katastrophe wurde von einigen als „chinesisches Seveso“2 bezeichnet. Sie hatte einen Großteil von Tianjins neuem Boomviertel Binhai, das die Machthaber als Sonderwirtschaftszone am Rand der 15 Millionen Einwohnern zählenden Hafenstadt gegründet hatten,3 in Schutt und Asche gelegt. Die Erschütterungen waren so stark, dass sie vom chinesische Amt für Seismologie mit 2,3 und 2,9 auf der Richterskala registriert wurden. Fast 90 Häuser wurden zerstört.
Ähnlich wie JTC in Yancheng hatte auch Ruihai in Tianjin seine Anlagen zu nah an bewohnten Gebieten gebaut. Obendrein lagerten dort in der Unglücksnacht insgesamt 3000 Tonnen Gefahrengüter – weit mehr als zugelassen – und insbesondere 1300 Tonnen des Düngemittelgrundstoffs Ammoniumnitrat. Das ist das 500-Fache der Menge, die 1995 bei dem Anschlag von Oklahoma City in den USA 168 Menschen in den Tod riss. Ein Jahr vor dem Unglück waren in Tianjin bei einer Routinekontrolle insgesamt 4261 Tonnen an gefährlichen Stoffen entdeckt worden.
Nach der Katastrophe schöpften die Behörden den Verdacht, dass bei der Erteilung von Genehmigungen Korruption im Spiel war, und leiteten entsprechende Ermittlungen ein. Zwölf Angestellte und Manager wurden inhaftiert, darunter auch der Mehrheitseigner der im November 2012 gegründeten Firma Ruihai, Yu Xuewei, der auch im Verwaltungsrat des Staatskonzerns Sinochem saß. Er und sein Teilhaber Dong Shexuan hatten ihre Beteiligung an Ruihai sorgsam verschleiert. Dongs Vater war Chef der Hafenpolizei und sorgte dafür, dass die Brandschutz- und Umweltbehörden die nötigen Lizenzen erteilten.
Auch elf Beamte wurden wegen Korruptionsverdacht festgenommen. Einer von ihnen war Yang Dongliang, der frühere Leiter der chinesischen Arbeitsschutzbehörde und spätere stellvertretende Bürgermeister von Tianjin. Sein Ausschluss aus der KP brachte die Kungeleien zwischen Wirtschaft und korrupten Beamten ans Licht. Einige Monate später, im September 2016, wurde Huang Xingguo, Bürgermeister und zeitweilig auch Parteisekretär von Tianjin, ebenfalls wegen Korruptionsverdacht festgenommen.
Unrealistische Sicherheitsvorschriften
Die Explosionsserie macht deutlich, welchen Preis China für seinen Wirtschaftsboom zahlt. Die Chemieindustrie ist für das Wachstum des Landes unverzichtbar, doch die rasante Verstädterung führt dazu, dass die Wohngebiete immer näher an Gefahrenstandorte heranrücken. Laut Vorschrift muss das Sperrgebiet um solche Anlagen seit 2001 einen Radius von mindestens einem Kilometer haben. Sieben Jahre nach ihrer Einführung bezeichnete ein amtlicher Feuerwehrbericht diese Vorschrift als „unrealistisch und deshalb schwer umsetzbar“.4 Entsprechend munter wird dagegen verstoßen.
Die Unfälle schaden auch dem Image der Regierung Xi Jinping, die gern ihr effizientes Handeln und ihre entschlossene Korruptionsbekämpfung betont. Sie offenbaren, wie teuer einem politischen System, das sich nach außen abschottet, eine Industrialisierung im Eiltempo zu stehen kommen kann. Dass Chinas Wirtschaft sich auf Platz zwei der Weltrangliste katapultieren konnte, verdankt sie zu einem großem Teil der chemischen Industrie, die 13,8 Prozent des BIPs ausmacht. Das Staatsunternehmen Sinopec ist nicht nur Branchenführer in China, sondern laut Forbes auch der drittgrößte Chemiekonzern weltweit. Im Sinopec-Werk in Schanghai verloren im Mai 2017 sechs Arbeiter ihr Leben, als ein Benzoltank in die Luft flog.
In seiner Eröffnungsrede auf dem 19. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas am 18. Oktober 2017 räumte Xi Jinping – der selbst Chemieingenieur ist und sein Diplom an der renommierten Tsinghua-Universität in Peking erwarb – ein: „In unserer heutigen Situation zeichnet sich ein grundlegender Widerspruch ab zwischen einer unausgewogenen und unzulänglichen Entwicklung und dem wachsenden Verlangen der Chinesen nach einem besseren Leben.“ Die Angst vor einer Katastrophe begleitet die Chinesen permanent. Nach einem Bericht von Greenpeace ereignete sich in China allein zwischen Januar und August 2016 praktisch jeden Tag ein Chemieunfall. Insgesamt waren in diesem Zeitraum 199 Tote und 400 Verletzte zu beklagen.5 Dennoch sank nach Regierungsangaben die Zahl der Menschen, die am Arbeitsplatz zu Tode kamen, in allen Wirtschaftszweigen von 140 000 im Jahr 2002 auf 34 000 im Jahr 2018.
Der für Krisenmanagement zuständige Vizeminister Sun Huashan erklärte 2019: „In der Kohleindustrie hat die Situation sich verbessert, während in der Chemieindustrie die Zahl der schweren Unfälle tendenziell zunimmt“. Zwischen Januar und August 2019 „kamen bei drei schweren Unglücken 103 Menschen ums Leben“ – die weniger spektakulären Unfälle nicht eingerechnet.6
Der 13. Fünfjahresplan für den Umweltschutz (2016–2020), in dem „klares Wasser und eine blühende Gebirgswelt“ als nationale Politikziele verankert wurden, zeigt indes, dass die staatlichen Stellen in Sachen Ökologie dazugelernt haben. Der Plan hatte zum Beispiel zur Folge, dass seit 2018 die Einfuhr von Plastikmüll aus westlichen Ländern verboten ist. Außerdem führten die Machthaber eine Reihe von Genehmigungspflichten für die Errichtung von Fabriken ein und schufen Anreize für die Umsiedlung von Chemieanlagen in staatliche Industrieparks. In Schanghai entstand der gigantische Chemiepark SCIP – der erste seiner Art in Asien –, der sich auf Feinchemikalien und petrochemische Produkte in Weltmarktqualität spezialisiert hat.
Laut Greenpeace war 2017 „das Wasser in Schanghais Flüssen zu 60 Prozent für den menschlichen Gebrauch ungeeignet“.7 Und nach einer Studie aus dem Jahr 2015 atmen 38 Prozent aller Chinesen Luft, die nach US-Standards als gesundheitsschädlich einzustufen ist.8 Die Luftverschmutzung sei für den frühzeitigen Tod „von 1,6 Millionen Chinesen pro Jahr verantwortlich – das sind 17 Prozent aller im Land gemeldeten Todesfälle“.
Permanente Angst vor der Katastrophe
Seit August 2017 gilt der vom Staatsrat verabschiedete „Runderlass Nr. 77“. Er schreibt vor, dass einheimische und ausländische Fabriken, in denen Substanzen aus dem „Katalog gefährlicher Chemikalien“ hergestellt werden, bis Ende 2020 in staatliche Chemieparks umziehen müssen. Ab 2025 wird diese Vorschrift auch für Anlagen gelten, in denen weniger gefährliche Erzeugnisse produziert werden. Der Staatsrat hat die Provinz- und Kommunalbehörden angewiesen, die Unternehmen finanziell zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die Arbeiter, die den Umzug an die neuen Standorte nicht mitmachen können, anderweitig beschäftigt oder umgeschult werden.9 Zahlen liegen hierzu allerdings nicht vor.
Für die Fabriken, die im großen Stil petrochemische Erzeugnisse, Polymere oder Zwischenprodukte herstellen und schon jetzt über Einrichtungen zur Emissionskontrolle und Abwasseraufbereitung verfügen, ändert sich durch die neuen Regelungen wenig. Eine schwere Belastung sind die Vorgaben jedoch für die zahllosen Kleinbetriebe, die Pestizide, Farbstoffe, Tenside, Lebensmittelzusätze und ähnliche Substanzen für die einheimischen Landwirte und Verbraucher herstellen. Tausende solcher privatwirtschaftlicher Kleinfabriken wurden ohne nennenswerte Folgen für die inländischen Produktionsmengen dichtgemacht.
In der Provinz Shandong zum Beispiel ging nach der Schließung eines Viertels aller Fabriken die Produktion insgesamt lediglich um 5 Prozent zurück. Die Experten der Unternehmensberatung McKinsey & Company Chemicals gehen davon aus, dass die Behörden in den kommenden drei bis fünf Jahren in den sogenannten Zonen des radikalen Wandels – also in jenen Industrieparks, in denen die Hälfte aller chemischen Erzeugnisse im Land produziert werden – die neuen Vorschriften entschlossen durchsetzen werden.10 Bereits 2017 und 2018 ging die Produktion von Pestiziden, Natriumglutamat und Farbstoffen um 30 bis 40 Prozent zurück, mit der Folge, dass die Preise entsprechend stiegen.
In der Konsequenz werden wohl nur diejenigen Unternehmen die Neuordnung der Chemieindustrie überstehen, die mit den höheren Betriebskosten zurechtkommen. Gleichzeitig eröffnen sich für Privat- und Staatsunternehmen vielfältige Möglichkeiten, im Verbund mit multinationalen Partnern aus dem Ausland in die Herstellung von Synthesezwischenprodukten zu investieren, die bislang nicht in ausreichendem Maß produziert werden.
Außerdem werden den Unternehmen künftig neue technologische Verfahren zur Verfügung stehen, an denen in China mit Hochdruck geforscht wird11 und die man sich auch von der Strategie „Made in China 2025“ verspricht. Ziel dieser Strategie ist die Entwicklung von Spitzentechnologien wie der Vanadium-Redox-Flow-Batterie, der Wasserstoffzelle oder dem Doppelschichtkondensator.
Wenn die Fabriken umziehen, werden auch die Arbeitskräfte umziehen müssen – für die Betroffenen ein schwieriges und missliches Unterfangen. In seinem Vorwort zu einer Gedichtsammlung des Wanderarbeiters Guo Jinniu beschreibt der Lyriker Yang Lian die gigantische Arbeitsmigration des chinesischen „Wanderproletariats“ wie folgt: „Eine Welt der Stummen; verlassene Dörfer, aus denen die Jungen scharenweise wegziehen. Sie kehren der Heimat, ihrem Zuhause den Rücken und ziehen in Städte, in denen sie sich nicht zurechtfinden, die unfruchtbar sind wie die Wüste. Sie ziehen in eine abstoßende Arbeitswelt für die untersten Klassen der Gesellschaft, bis ihr Gemüt noch trostloser und elender ist als die Welt, die sie umgibt.“
8 „Killer Air“, Berkeley Earth, August 2015.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Mohamed Larbi Bouguerra ist Chemiker und Mitglied der Tunesischen Akademie für Wissenschaft, Literatur und Kunst (Beit al-Hikma) in Karthago.