Die falsche Wahl der US-Demokraten
Mit ihrer Fixierung auf den US-Präsidenten versucht ein Großteil der Demokraten von der eigenen Ideenlosigkeit abzulenken. Um bei der Wahl im November erfolgreich zu sein, müssten sie eigentlich auf die Probleme der Trump-Wähler eingehen.
von Serge Halimi
Seit Donald Trump ins Weiße Haus eingezogen ist, hat die Personalisierung der US-amerikanischen Politik einen neuen Höhepunkt erreicht. Trumps Verlautbarungen, seine Tweets, seine zusammenfabulierten Behauptungen und seine Egozentrik halten das Land in Atem – und nerven es bis zur Erschöpfung. Doch die Medienprofis reiben sich die Hände über die attraktive Ware, die ihnen der Präsident frei Haus liefert; mit der Folge, dass alle nur über Trump sprechen.
Die Republikaner haben vor allem eines im Sinn: Sie wollen einen Siegertypen küren, dessen Autorität im eigenen Lager unangefochten ist. Die Demokraten hingegen debattieren, wie sie einen so gefährlichen Präsidenten am schnellsten „loswerden“ können. Da es mit seiner Absetzung jedoch nicht klappt, bleibt ihnen nur die Hoffnung auf die Vorwahlen, also auf den Sieg eines Kandidaten oder eine Kandidatin mit dem Potenzial, Trump bei den Präsidentschaftswahlen im November die Macht zu entwinden.
Das reiche aber auf keinen Fall aus, meint die linke Autorin Naomi Klein: „Wenn wir uns damit zufrieden geben, ihn loszuwerden, haben wir wieder die gleiche üble Situation wie vorher, die seinen Triumph überhaupt erst ermöglicht hat.“ Deshalb müsse man die Ursache des Übels bekämpfen und nicht nur die Symptome.
Diese Einschätzung teilt auch Andrew Yang, einer der zwölf Bewerber, die sich um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten bemühen. „Die Medien tun uns keinen Gefallen, wenn sie zu erklären versäumen, warum Donald Trump Präsident geworden ist“, meint der 45-jährige Unternehmer, der bei den demokratischen Vorwahlen als Dark Horse, als Außenseiter im Rennen ist. „Wenn man sich die täglichen Nachrichten auf CNN ansieht, könnte man meinen, er ist unser Präsident aufgrund so unterschiedlicher Faktoren wie Russland, Rassismus, Facebook, und Hillary Clintons E-Mails.“
Aber die US-Bürger wüssten, dass das nicht stimmt, sagt Andrew Yang. Er verweist darauf, dass ein Großteil der 4 Millionen Arbeitsplätze, die in den USA verschwunden sind, in den Swing States verloren gingen, also in Ohio, Michigan, Wisconsin, Missouri und Pennsylvania, die Trump 2016 knapp – und zum Teil überraschend –erobern konnte. „Je mehr wir so tun, als wäre Donald Trump die Ursache all unserer Probleme, desto mehr Zweifel haben die Amerikaner, ob wir in der Lage sind, ihre Alltagsnöte zu erkennen und zu beseitigen.“1
Das Interesse der zentristischen Kräfte in der Demokratischen Partei, deren Hauptvertreter Joseph Biden ist, geht gleichwohl dahin, den aktuellen Präsidenten abzulösen, ohne auf die Ursachen seines Wahlsiegs einzugehen. Der Grund ist offensichtlich: Es bedeutet einen politischen Freispruch für alle Demokraten, denen es nicht gelungen ist, Trump zu besiegen, als sie die Möglichkeit dazu hatten, also Hillary Clinton, Barack Obama und Obamas ehemaliger Vizepräsident Biden.
Allerdings nimmt die Partei damit das Risiko in Kauf, einen neuen Trump hervorzubringen, der womöglich geschickter und deshalb noch gefährlicher wäre als der alte. Einen republikanischen Präsidenten, der keine großen Töne spuckt und damit große Wählergruppen abstößt, der nicht so unverbesserlich narzisstisch ist und der auf dem Feld der internationalen Politik die Kräfteverhältnisse nicht derart leichtsinnig ignoriert.
Ein solcher Präsident Trump 2.0 wäre viel eher in der Lage, innen- wie außenpolitische Verbündete zu gewinnen, um letztlich dieselbe Politik zu machen, deren zerstörerische Wirkungen dann aber viel größer wären.
Erinnern wir uns: Im November 2008 war eine Mehrheit der amerikanischen Wähler und Wählerinnen glücklich und stolz. Sie hatten einen jungen afroamerikanischen Senator ins Weiße Haus gebracht, der „Hoffnung“ und „Wandel“ versprach. Der Wahlausgang war ein harter Schlag für die Republikaner gewesen. Die waren in den Augen vieler eine militaristische, reaktionäre und bigotte Partei, die nur die Interessen der Reichen bediente. Aber zugleich eine gefährliche Partei, weil sie durchaus Anhänger in den ärmsten Bevölkerungsgruppen hatte.2
Doch die in Obama gesetzte Hoffnung wurde rasch enttäuscht. Der versprochene Wandel hielt sich in Grenzen. Und wer die Nachfolge im Weißen Haus antrat, ist bekannt.
Donald Trump wollte sich von seinem Vorgänger, den er verabscheut, unbedingt absetzen. Deshalb ging er keiner Konfrontation mit seinen Gegnern aus dem Weg. Einmal im Amt, legte er Verhaltensweisen an den Tag, deren Zeugen wir mittlerweile fast täglich werden. Sie reichen von unflätigen Pöbeleien und unverhüllter Habgier über rassistische und sexistische Sprüche bis hin zur Verherrlichung von Gewalt und ungeniertem Lügen.
Ebenso lang ist allerdings die Liste bedenklicher Einstellungen, die im Lager der Demokraten die Oberhand gewonnen haben. Zum Beispiel die Neigung, das Votum der Bevölkerung infrage zu stellen, wenn das Ergebnis nicht wie gewünscht ausfällt. Oder die unkritische und geschönte Art, die Geschichte der USA darzustellen – bis zu jenem unseligen Tag, an dem die Wahl von Trump alles kaputt machte.
Oder die Glorifizierung der westlichen Militärbündnisse, die auf einmal als „fortschrittlich“ gelten, nur weil der neue Präsident die Parole „America first“ verkündet. Oder die Verherrlichung der Geheimdienste, weil die Informationen (und Telefongespräche) an die Presse durchsickern lassen, die das Weiße Haus in Schwierigkeiten bringen. Und nicht zuletzt die Heiligsprechung der großen Medien, die nun plötzlich über jeden Zweifel erhaben sind, weil sie von Trump beschimpft und beschuldigt werden, sie würden nichts als „Fake News“ produzieren.
Bei der Wahl im November 2016 wechselten 22 Prozent der weißen Wähler ohne Schulabschluss, die bei den Präsidentschaftswahlen 2008 und 2012 Barack Obama ihre Stimme gegeben hatten, ins republikanische Lager.3 Nun konnten die Gefolgsleute von Hillary Clinton diesen Wählern kaum Rassismus vorwerfen, denn die hatten ja zweimal hintereinander für einen afroamerikanischen Kandidaten gestimmt. Dass diese Wähler übergelaufen waren, wurde deshalb mit sexistischen Einstellungen erklärt, oder mit der Leichtgläubigkeit von Bauerntölpeln, die durch Falschmeldungen aus Russland besonders einfach zu manipulieren seien.
Mit dem Gedanken, dass die Demokraten selbst – mit ihrer zerstörerischen Freihandelspolitik und ihrer Fixierung auf eine soziologische Blase aus gebildeten und arroganten Stadtbewohnern – einen mindestens ebenso großen Anteil an dieser Wählerflucht hatten, hat sich das Partei-Establishment nicht besonders lang herumgeplagt.
Ein Kreuzzug gegen Russland
Diese soziale Kurzsichtigkeit zeigte sich nicht nur in den Wahlanalysen, sondern auch an Medienereignissen wie der Sitcom „Roseanne“, die beim Sender ABC im März 2018 ein Revival erlebte. Protagonisten der Serie sind hauptsächlich Arbeiter, Angestellte und Landbewohner – und nicht Grafiker, Journalisten und Dozenten für gendergerechte Sprache.
Angesichts der hohen Einschaltquoten räumte Channing Dungey, die Leiterin der Unterhaltungsabteilung von ABC, ein: „Bisher haben wir viel Zeit darauf verwendet, um für Diversität im Hinblick auf Hautfarbe, Religion und selbst im Hinblick auf unterschiedliche Gender-Auffassungen zu sorgen.“ Viel zu wenig nachgedacht habe man dagegen „über die ökonomische Diversität und über einige andere kulturelle Unterschiede in unserem Land.“ Ben Sherwood, der damalige Präsident der TV-Gruppe Disney-ABC, stellte in einem Interview fest, die Serie spreche sehr viele Leute an, „die ihresgleichen nicht sehr oft auf dem Bildschirm sehen“.4
Erst der Wahlsieg von Donald Trump, den er einem verbreiteten Ressentiment gegen die intellektuellen „Eliten“ verdankte, hat also bewirkt, dass die Produzenten und Drehbuchschreiber endlich aus ihrer kreativen Erstarrung erwacht sind.
Aber derartige Einsichten halten offenbar nicht lange vor. Zwar verweisen Mitglieder der urbanen oberen Mittelschicht, die für die Demokraten stimmen, immer häufiger auf den wachsenden Zuspruch, den Donald Trump bei den armen Weißen ohne Schulabschluss erfährt. Aber dann zeigen sie diesen Menschen dennoch die kalte Schulter.
Dabei kümmert sich der Mann, der angeblich die Interessen der weißen Unterschicht vertritt, ebenso wenig um die Belange dieser seiner Wählergruppe. Zumindest in diesem Punkt verhält sich Donald Trump wie sein Vorgänger Obama. Der demonstrierte seine Solidarität mit dem afroamerikanischen Proletariat durch symbolische Gesten und schöne Worte, aber gegen die Wirtschaftsordnung, die für das Elend dieser Leute verantwortlich ist, hat er dann rein gar nichts unternommen.
Millionen US-Bürger, die Trump loswerden wollen, sind offenbar bereit, ihr Ziel mit allen Mitteln – und allen möglichen Bündnispartnern – zu erreichen. Wenn Donald Trump jemanden verteidigt, werden sie zu Anklägern; wenn er etwas bekämpft, werden sie zu Befürwortern. Das zeigte sich zum ersten Mal bereits zwei Wochen nach Trumps Einzug ins Weiße Haus.
Am 5. Februar 2017 interviewte der ultrakonservative Moderator Bill O’Reilly auf Fox News den frisch gewählten Präsidenten, dem er vorwarf, Wladimir Putin nicht scharf genug kritisiert zu haben. Schließlich sei Putin „ein Killer“. Trump antwortete ungerührt: „Es gibt viele Killer, wir haben selbst eine Menge. Was glauben Sie? Dass unser Land so unschuldig ist?“
Die demokratische Senatorin Amy Klobuchar, die sich derzeit um die Präsidentschaftskandidatur ihrer Partei bewirbt, reagierte empört: Wie könne der US-Präsident es wagen, das böse Russland mit seinem tugendhaften Heimatland zu vergleichen! Und die New York Times, die neben den TV-Sendern CNN und MSNBC als militanter Arm der zentristischen Fraktion der Demokraten fungiert, tat in einem von Patriotismus triefenden Leitartikel ihr Entsetzen kund: „Die moralische und politische Überlegenheit der USA gegenüber Russland hervorzuheben war für amerikanische Präsidenten bislang kein schwieriges Unterfangen. Mr Trump jedoch hat offenbar, anstatt die amerikanische Sonderstellung hervorzuheben, die Brutalität von Wladimir Putin gewürdigt … und den Eindruck aufkommen lassen, dass Amerika sich genauso verhält.“5
Ähnlich empört reagierte Nancy Pelosi, die damalige Fraktionschefin der Demokraten im Repräsentantenhauses. Sie forderte das Federal Bureau of Investigation (FBI) auf, umgehend Nachforschungen zu den Finanzverhältnissen des neuen Präsidenten aufzunehmen, um sicherzustellen, dass er nicht von der russischen Regierung erpresst werde. Diese durchaus hochintelligente Frau, die inzwischen als Sprecherin des Repräsentantenhauses fungiert, behauptet auch heute noch unermüdlich: „Mit Trump führen alle Wege zu Putin.“
„Russiagate“ ist heute kein großes Thema mehr, nachdem der Sonderermittler Robert Mueller im März 2019 seinen Bericht vorgelegt hat. Doch in den ersten beiden Jahren von Trumps Präsidentschaft war die – am Ende ergebnislose – Jagd auf den russischen Geheimagenten im Oval Office für die Demokraten wie für die Medien nachgerade eine Obsession.6
Damit wurde ein paranoides Klima verstärkt, das indirekt zur Folge hatte, dass der US-Verteidigungshaushalt ständig weiter aufgestockt wurde: 2020 liegt er bei 738 Milliarden Dollar. Dies geschah mit Unterstützung einer erdrückenden Mehrheit von Abgeordneten beider Parteien, wobei eine der wenigen Gegenstimmen der demokratische Senator Bernie Sanders war.
Mittlerweile ist die Vorstellung, dass „die amerikanische Demokratie von Wladimir Putin angegriffen“ werde – eine Untat, die häufig mit dem Angriff des japanischen Kaiserreichs auf Pearl Harbor 1941 gleichgesetzt wurde –, zum Katechismus der meisten Trump-Gegner geworden. Dabei stellen sich in den USA heute ganz andere Probleme, die für die Demokratie weit folgenreicher sind als irgendwelche Facebook-Accounts, deren Wirkung zu vernachlässigen ist. Schließlich hat der amtierende Präsident die Wahlen von 2016 gewonnen, obwohl für ihn 3 Millionen Stimmen weniger abgegeben wurden als für seine Rivalin. Und bei den bevorstehenden Wahlen im November will mit Michael Bloomberg ein weiterer Milliardär aus New York antreten, der noch reicher ist als Donald Trump.
Der gemäßigte Flügel der Demokratischen Partei setzt – unterstützt von einigen Medien – bei seinem Kreuzzug gegen Russland auf die Segmente der Gesellschaft, die extrem militaristisch eingestellt und auf Sicherheit fixiert sind.
Der Journalist Glenn Greenwald, dem wir – wie Edward Snowden, Chelsea Manning und Julian Assange – grundlegende Einsichten in die krakenartige Struktur der US-Geheimdienste verdanken, hält fest: „Es ist praktisch unmöglich, MSNBC oder CNN einzuschalten, ohne von ehemaligen Generälen oder Agenten der CIA oder des FBI belästigt zu werden, die bei diesen Sendern als Kommentatoren oder sogar als Reporter unter Vertrag stehen.“7
Die gemäßigten Demokraten haben keinerlei Skrupel, Geheimdienste hochzuloben, die politische Gegner umgebracht und bei manchem Putsch im Ausland die Fäden gezogen haben. Für die Demokraten sind diese Agenturen vielmehr Inseln des „Widerstands“ gegen einen autokratischen Präsidenten.
Übrigens soll es ein Analyst der CIA gewesen sein, der im August 2019 Trumps Telefongespräch mit dem ukrainischen Präsidenten an die Presse durchsickern ließ. Angesichts des damit ausgelösten Amtsenthebungsverfahrens sah der Präsident hinreichend Anlass, gegen den „deep state“ zu wettern, der politische Destabilisierung betreibe.
Die Frage ist, ob man sich darüber freuen kann, dass es Trump getroffen hat. Oder ob man darüber nicht vielmehr beunruhigt sein sollte, weil es einem künftigen anderen Präsidenten genauso ergehen könnte?8
Das Führungspersonal der Demokraten begnügt sich nicht damit, seiner Gefolgschaft die Zuneigung zu den Geheimdiensten einzuimpfen. Darüber hinaus stimmt es ständig neue Lobgesänge auf ehemalige republikanische Präsidenten an, um damit den Unterschied zwischen diesen ehrenwerten Republikanern und dem seltsamen Nachfolger herauszustreichen.
Obamas Vizepräsident Joe Biden zum Beispiel hat den Eheleuten Bush eine Medaille verliehen, um ihr Engagement für die Veteranen zu würdigen – soweit diese lebendig aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan heimgekehrt sind. Michelle Obama hat die Öffentlichkeit wissen lassen, dass sie ein großer Fan von George W. Bush sei, den sie einen „wundervollen Mann“ nannte (so am 11. Oktober 2018 in der NBC-Sendung „Today“).
Inzwischen ist das Wort „Trumpwashing“ ein stehender Begriff. Er bezeichnet die Tatsache, dass die Linke alle möglichen Vertreter der amerikanischen Rechten glorifiziert – vorausgesetzt, die haben einmal Trump kritisiert oder den Zorn von Trump auf sich gezogen. Dank der Neigung der Demokraten, die Vergangenheit in rosigen Farben zu malen, wird so selbst das Andenken an Ronald Reagan aufpoliert. Das ist schon deshalb absurd, weil die US-Außenpolitik in den letzten drei Jahren mit deutlich weniger Blut belastet ist als in den Jahrzehnten davor.
Voller Nostalgie für die Pax Americana
Dabei wäre eine Minderung des internationalen Engagement eine durchaus populäre Maßnahme in einem Land, das im Gefolge des 11. September 2001 unter der Parole „Kampf für die Demokratie“ die Entsendung oder Stationierung von 240 000 Soldaten in über 70 Ländern und Hoheitsgebieten ohne Selbstregierung gerechtfertigt hat. Und das mit einem Verteidigungshaushalt, dessen Gesamtvolumen seit 2001 die 700-Milliarden-Dollar-Grenze überschritten hat.
Im Übrigen bestätigt die Tatsache, dass Präsident Trump nicht von der reibungslos verlaufenen Tötung des iranischen Generals Qassem Soleimani profitieren konnte, dass die Menschen in den USA die „endlosen Kriege“ satthaben. Doch die demokratischen Kandidaten präsentieren sich immer wieder so, als wollten sie eine politische, wirtschaftliche und strategische Welt wiederherstellen, die seit drei Jahren in tiefe Unordnung geraten ist.
Dabei tut sich insbesondere Joe Biden hervor, der gegen die protektionistische Politik wettert, für den Verbleib von US-Soldaten im Irak plädiert und die Nato glorifiziert. In einem von Biden unterzeichneten Text in der Zeitschrift Foreign Policy, der im Tonfall an Aufrufe aus der Zeit des Kalten Kriegs erinnert, forderte dieser schon Anfang 2018 eine Politik der scharfen Konfrontation mit dem Kreml, um „Russlands Angriff auf die Demokratie abzuwehren“.9
Und es gibt noch weitergehende Forderungen. Ein Kommentator der New York Times, der der israelischen Rechten nahesteht und in der Vergangenheit sämtlichen Militärinterventionen der USA applaudiert hat, schlug allen Ernstes vor, die Demokraten sollten die außenpolitischen Defizite der Trump-Administration wettmachen und sich auf den früheren „Glauben an die Notwendigkeit einer Pax Americana“ zurückbesinnen. Mit einem gewissen Sinn für Paradoxien argumentiert dieser Bret Stephens, die Politik des „Rückzugs“ und der „Naivität“, die Trump insbesondere im Nahen und Mittleren Osten und in Asien verfolge, eröffne seinen politischen Gegnern die Möglichkeit, sich im Hinblick auf Syrien, Russland und Nordkorea als Propheten einer Friedensordnung unter US-amerikanischer Hegemonie zu gerieren.10
Der linke Flügel der Demokratischen Partei denkt nicht daran, diese Rolle zu spielen. Elizabeth Warren befürwortet genau wie Bernie Sanders den Rückzug der US-Truppen aus dem Nahen Osten und aus Afghanistan. Dabei bezieht Sanders auch keineswegs eine prinzipielle Gegenposition zu Donald Trump. Dessen Treffen mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong Un vor einem Jahr hat er sogar ausdrücklich begrüßt: „Wenn es Trump gelingt, dieses Land von seinen Atomwaffen zu befreien, wäre das eine sehr gute Sache, und ich wünsche ihm viel Glück dabei.“11
Letzte Hoffnung: Warren oder Sanders
Der linke Sanders ist sich wohl bewusst, dass die erbitterte Grundsatzopposition der demokratischen Führung gegen den republikanischen Präsidenten den Freunden von Joe Biden erlauben könnte, ihren Widerstand gegen die dringend erforderlichen strukturellen Veränderungen in der amerikanischen Gesellschaft zu verschleiern. In diesem Sinne erklärte er am 15. April 2019 bei Fox News: „Wenn wir unsere Zeit nur damit verbringen, Trump anzugreifen, werden die Demokraten die Wahl verlieren.“
Für die Demokraten lautet die große Frage heute viel eher, was sie mit ihrer bisherigen Strategie gewinnen können. Die Kandidaten der Mitte rechtfertigen ihre gemäßigten Vorschläge mit dem Wunsch, die Wähler nicht zu verschrecken, die Trumps exzentrisches Gebaren satthaben, aber den Republikaner nicht unbedingt abwählen wollen. Sie halten den Status quo für durchaus akzeptabel, zumal die wirtschaftliche Entwicklung und die Börsenkurse der Trump-Administration nicht unbedingt einen Kurswechsel nahelegen.
Bernie Sanders und mit Abstrichen auch Elizabeth Warren sind anderer Ansicht. Sie gehen davon aus, dass sie – falls sie die demokratischen Vorwahlen für sich entscheiden sollten – angesichts der Verachtung, die dem amtierenden Präsidenten entgegenschlägt, bei bestimmten Gruppen der Bevölkerung auch radikale Vorschläge durchsetzen könnten, die diese Gruppen unter normalen Umständen ablehnen würden. Zugleich hoffen sie, dass andere Wählerschichten, die sich desillusioniert von der Politik abgewandt haben, wieder den Weg zurück an die Urnen finden. Vorausgesetzt, man bietet ihnen die Aussicht auf echte Veränderungen – wie eine staatliche Gesundheitsversorgung, eine Verdoppelung des Mindestlohns, eine ökologische Wende – statt ihnen nur zu versprechen, die Verhältnisse von vor drei Jahren wiederherzustellen.
Die Wahl zwischen diesen beiden demokratischen Optionen ist mindestens genauso wichtig wie die Präsidentschaftswahl am 3. November.
1 In der TV-Debatte der demokratischen Präsidentschaftsbewerber am 19. Dezember 2019 in Los Angeles.
2 Serge Halimi, „Le petit peuple de George W. Bush“, LMd (französische Ausgabe), Oktober 2004.
5 „Blaming America first“, The New York Times, 7. Februar 2017.
8 Michael Glennon, „Falsche Freunde gegen Trump“, LMd, Juli 2018.
10 Bret Stephens, „Will Democrats become born-again neocons?“, The New York Times, 24. Oktober 2019.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer