13.02.2020

Kampf der Strategen

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Kampf der Strategen

In Washington streiten Geopolitiker und Ideologen über die Nahost-Politik

von Michael T. Klare

Trauermarsch für Soleimani, Teheran, 6. Januar 2020 HAMID VAKILI/picture alliance/nurphoto
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Die Entscheidung von Präsident Trump, General Qassem Soleimani, den Chef der Al-Quds-Brigade der iranischen Revolutionsgarden, zu töten, kam für die meisten Beobachter überraschend.

Zwar hatten die Spannungen in der Golfregion schon länger geköchelt, doch es gab keinerlei Anzeichen für eine Konfrontation zwischen den USA und Iran oder zwischen Iran und den anderen Mächten am Golf. Vielmehr gab es sogar Hinweise, dass Soleimani an diesem Tag nach Bagdad reiste, um die iranische Antwort auf einen saudischen Vorschlag zum Abbau der Spannungen in der Region zu überbringen.

Die Rechtfertigung für die Tötung Soleimanis lautete, Präsident Trump habe einen „unmittelbar bevorstehenden“ Angriff auf US-Botschaften und Militärbasen im Irak und in der Golfregion abwenden müssen. Das klingt nicht überzeugend. Zwar sprach US-Außenminister Mike Pompeo nach dem Attentat von „detaillierten Ge­heim­dienst­in­for­mationen“ über „aktive Planungen“, die „das Leben von US-Amerikanern gefährdet“ hätten. Aber bis heute wurden dem Kongress keinerlei entsprechende Informationen übermittelt. Und Verteidigungsminister Mark T. Esper ließ sogar verlauten, er habe keine Kenntnis von spezifischen Informationen über bevorstehende Angriffe auf US-Botschaften.1

Mangels plausibler Auskünfte der US-Regierung kursieren viele andere Theorien, die Trumps überraschende Aktion erklären sollen. Eine verweist auf seine Persönlichkeitsstruktur und seine Neigung zu vorschnellen und unbesonnenen Handlungen. So wurde gemutmaßt, Trump habe ein zweites „Bengasi-Disaster“ befürchtet. Im September 2012 war der US-Botschafter in Libyen, Christopher Stevens, bei einem Terrorangriff auf die Botschaft getötet worden, was die Republikaner damals der Außenministerin Hillary Clinton anlasteten.

Eine andere Theorie lautet: Trump wollte nicht als Schwächling dastehen, nachdem er auf frühere Provokationen Teherans nicht reagiert hatte, etwa auf die Raketenangriffe gegen saudische Öl­anlagen in Abqaiq im September 2019.2 Dieses Motiv spielte bei Trumps Entscheidung sicher mit, erklärt diese aber keineswegs hinreichend.

Zwar demonstrierte Donald Trump von Anfang an größere Distanz zu den etablierten Politikagenturen als die meisten früheren US-Präsidenten. Aber auch er hat täglichen Umgang mit den Spitzenvertretern, etwa des Außenministeriums, des Pentagon, der Central Intelligence Agency (CIA) und des National Security Council (NSC), die ihm ihre Erkenntnisse vermitteln und bestimmte Handlungsoptionen empfehlen.

Diese Ratgeber ziehen bei den meisten Themen am selben Strang, etwa wenn sie vereint auf höhere Rüstungsausgaben drängen. Zugleich sind sie aber in Fragen der globalen strategischen Ausrichtung der US-Außenpolitik zutiefst zerstritten. Vor diesem Hintergrund ist auch Trumps Entscheidung vom 3. Januar einzuordnen.

Das Sicherheitsestablishment in Washington ist seit etwa zwei Jahren in zwei Lager gespalten, die jeweils eigene Beziehungen zum Weißen Haus unterhalten. Für das eine Lager spielt der Nahe und Mittlere Osten in den strategischen Planungen Washingtons weiterhin eine zentrale Rolle. Deshalb müssten die USA eine internationalen Koalition zur Eindämmung der Islamischen Republik aufbauen – und wenn möglich den Sturz des Regimes herbeiführen.

Angeführt wird dieses Lager der „Ideologen“ von Außenminister Pompeo und Vizepräsident Mike Pence; unterstützt wird es von maßgeblichen Figuren im Kongress. Zu ihnen gehört auch der einflussreiche Sonderberater im Weißen Haus, Trumps Schwiegersohn Jared Kushner, dessen Urteil über das iranische Regime häufig die harten Positionen der saudischen oder der israelischen Regierung widerspiegelt. Unterstützt wird diese Position von Leuten wie dem Casino-König Sheldon Adelson – ein Großsponsor der Republikaner wie der Likud-Partei in Israel – und von evangelikalen Kreisen, die eine volle Kontrolle Israels über das Heiligen Land befürworten.

Den Gegenpol zum Lager der Ideologen bildet eine Gruppe von hochrangigen Militärs und Geheimdienstleuten, die im Aufstieg Chinas die größte Herausforderung für die US-Strategie sehen.

Bei diesen „Geopolitikern“, wie ich sie nennen würde, herrscht die Überzeugung, dass die USA ihre militärischen Kapazitäten vom Nahen und Mittleren Osten nach Asien verlagern sollten. Unterstützt wird diese Ansicht von Unternehmerkreisen, die die globale Dominanz der US-Konzerne durch China bedroht sehen.

Man darf die Unterschiede zwischen diesen Lagern aber nicht übertreiben: Beide gehen davon aus, dass die USA die einzige Supermacht bleiben und in allen wichtigen Regionen der Erde dominant sein müsse. Aber trotz ihrer enormen Stärke haben auch die USA keine unbegrenzten militärischen Kapazitäten. Deshalb gibt es auf den Entscheidungsebenen oft keinen Konsens darüber, in welchen Konfliktzonen die verfügbaren militärischen Potenziale stationiert werden sollen.

Solange der „Islamische Staat“ (IS) und der islamistische Terrorismus insgesamt als Hauptbedrohung für die US-Sicherheitsinteressen galten, hatten der Nahe und Mittlere Osten die höchste militärische Priorität. Heute dagegen glauben viele in Washington – zum Entsetzen des ideologischen ­Lagers –, dass Asien zum Epizentrum des globalen Machtwettkampfs geworden sei und dass der Großteil der US-Streitkräfte dort konzentriert werden sollte.

Für die „Geopolitiker“ ist der Nahe und Mittlere Osten zwar immer noch ein wichtiges Feld auf dem globalen strategischen Schachbrett. Aber die Region hat für sie nur zweitrangige Bedeutung, und zwar vor allem als Energielieferant für Asien.

Bis vor Kurzem dominierte in Washington offenbar das geopolitische Lager, das von der Pentagon-Führung angeführt wird, zu dem aber auch hohe Tiere im Finanzministerium und in den Geheimdienste gehören. Nach Ansicht dieser Leute haben sich die USA zu intensiv mit den Konflikten im Nahen und Mittleren Osten befasst, deren strategische Wichtigkeit sie anzweifeln. Diese kurzsichtige strategische Orientierung hätten die großen Rivalen der USA, also China und Russland ausgenutzt, um ihre militärische Stärke und ihren diplomatischen Einfluss auszuweiten.3

Im Fall China kommt das Argument hinzu, der Rivale habe seine große wirtschaftliche und industrielle Stärke genutzt, um die technologischen Kapazitäten seiner Streitkräfte zu verbessern und den militärischen Vorsprung der USA aufzuholen.

Den Aufstieg Chinas aufzuhalten, schien eine Zeit lang als wichtigste strategische Maxime zu gelten. Dementsprechend forderte das Pentagon zusätzliche Finanzmittel in Milliardenhöhe für die Entwicklung neuer Waffensysteme. Zugleich wurde begonnen, Kräfte von zweitrangigen Standorten wie Nordafrika und Nahost in die unmittelbarer Nachbarschaft von China und Russland zu verlegen.

Ganz auf dieser Linie erklärte Verteidigungsminister Esper am 7. Dezember 2019, das Pentagon werde eine „neue Doktrin der Kriegsführung entwickeln und anwenden“. Ein Ziel sei dabei, „unsere Streitkräfte und Waffensysteme in prioritäre Konfliktzonen zu verlegen, was uns befähigt, besser mit China und Russland zu konkurrieren“.4

Für das ideologische Lager mit seiner Iran-Fixierung ist die Vorstellung, die USA könne ihre Streitkräfte und Waffensysteme aus weniger wichtigen Regionen, also vermutlich vom Persischen Golf abziehen, ein wahrer Horror. Aus Sicht dieser Leute stellt das iranische Regime eine doppelte Bedrohung dar: eine moralische aufgrund seiner Feindschaft gegenüber Israel, dem Judentum und den USA. Und zugleich eine strategische Bedrohung; wegen seiner Kontrolle über zahlreiche gut bewaffnete Milizen in der gesamten Region, wegen seines traditionellen Drangs nach Atomwaffen und wegen seiner Ambitionen, die Golfregion zu dominieren.

Das iranische Regime, erklärte Vize­präsident Pence am 14. Februar 2019 in Warschau, verfolge den Plan, „das alte persische Reich unter der modernen Diktatur der Ajatollahs wieder zu errichten“ Und fügte hinzu, nur eine harte und hartnäckige Reaktion der USA könne eine solch katastrophale Entwicklung verhindern.

Die Abfolge der Ereignisse, die zu Trumps Entscheidung vom 3. Januar und zur Tötung Soleimanis geführt haben, spricht bei näherem Hinsehen dafür, dass die Ideologen um Pompeo und Pence den entscheidenden Einfluss auf den Präsidenten ausgeübt und das geopolitische Lager ausmanövriert haben.

Nach allgemeiner Einschätzung war es Pompeo – und nicht Verteidigungsminister Esper –, der bei den meisten internen Diskussionen über die Iran-Politik der USA das Ohr des Präsidenten hatte.5 Der West-Point-Absolvent Pompeo gilt in Washington als unerbittlicher Gegner des iranischen Re­gimes. Als solcher war er natürlich gegen einen Abbau der militärischen Kapazitäten Washingtons in der Golf­region.

Offenbar ist also Trump bei seiner Entscheidung unter den Einfluss der Anti-Iran-Fraktion im nationalen Sicherheitsestablishments geraten. Dieser Einfluss, verstärkt durch seine eigenen antiiranische Gefühle, hat ihn dazu gebracht, eine Maßnahme abzusegnen, die eine harte Antwort Teherans provozieren musste – was wiederum eine dauerhafte Militärpräsenz der USA in der Region garantieren würde.

Seit der ersten iranischen Reaktion auf die Tötung Soleimanis – Raketenangriffe auf zwei US-Militäreinrichtungen im Irak am 8. Januar, bei denen es keine Toten gab –, haben die Spannungen zwar etwas nachgelassen. Dennoch bleibt die Wahrscheinlichkeit von indirekten iranischen Angriffen hoch, zum Beispiel von Anschlägen bewaffneter Milizen auf US-Basen oder auf Militäreinrichtungen von regionalen Bündnispartnern der USA.

Vor diesem Hintergrund hat Washington neuerdings tausende zusätzliche Soldaten in die Region geschickt. Die werden aller Wahrscheinlichkeit nach für einige Zeit stationiert bleiben. Dies würde natürlich jegliche „Verlagerung“ militärischer Ressourcen in Richtung Asien-Pazifik unmöglich machen.

Offenbar sah das ideologische Lager jetzt auch die Zeit gekommen, den lange angekündigten „Friedensplan“ für den Nahen Osten vorzulegen. Trump behauptet zwar, der Plan sei für Israelis und Palästinenser gleichermaßen segensreich, tatsächlich aber ist er völlig einseitig: Israel bekäme die volle Kontrolle über das Jordantal und große Teile des Westjordanlands mit allen israelischen Siedlungen; den Palästinenser blieben damit nur isolierte, von is­rae­li­schen Sicherheitszonen umzingelte Enklaven.

Eine Zweistaatenlösung, die den Palästinensern die Souveränität über ein eigenes Heimatland gewähren würde, wird mit diesem Plan hinfällig. Der entspricht vielmehr komplett dem Wunschkatalog der radikalen israelischen Rechtsparteien und ihrer Anhänger in den USA, die auch auf der Gästeliste des Weißen Hauses bei der Verkündung von Trumps „Friedensvision“ am 28. Januar standen. Hier waren neben Kushner und Pompeo auch Adelson und prominente Evangelikale zugegen, und natürlich Netanjahu; desgleichen die Botschafter Bahrains, Omans und der Vereinigten Arabischen Emirate.

Andere arabische Staaten entsandten zwar keine Botschafter, aber insgesamt reagierten die meisten arabischen Regierungen auf den Plan eher verhalten. Was den Erfolg von Kushner und Pompeo bezeugt, die den arabischen Partnern klargemacht haben, dass ihr Hauptgegner in der Region nicht Israel, sondern Iran ist.

Für die gesamte Außenpolitik der USA ergibt sich der Eindruck, dass Präsident Trump seinen harten Kurs gegenüber Peking aufgegeben hat, zugleich aber seine feindselige Haltung gegenüber Teheran und seinen Verbündeten verschärft hat. Das wiederum bedeutet, dass das US-Militär – zumindest vorerst – seine konzentrierte Präsenz in der Golfregion aufrechterhalten wird. Die Gefahr einer Konfrontation zwischen Iran und den USA bleibt damit nach wie vor hoch.

Eines ist jedoch gewiss: Am Ende wird das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen – zugunsten einer erneuten stärkeren Orientierung auf Asien. Der wichtigste Grund ist die wachsende Sorge, mit der die Entscheidungseliten in Washington den Aufstieg Chinas verfolgen. Die werden zu verhindern wissen, dass irgendwelche aus ihrer Sicht belanglosen Plän­keleien im Nahen und Mittleren Osten die Aufmerksamkeit von wichtigeren Aufgaben ablenken. Wobei die allerwichtigste ist, die Überlegenheit der USA über ihren größten geopolitischen Rivalen zu sichern.

1 Peter Baker und Thomas Gibbons-Neff, „Esper says proof of embassy plot didn‘t reach him“, New York Times, 13. Januar 2020.

2 Peter Baker et al, „7 Days in January: secret plans, a deadly strike and a spiraling crisis“, New York Times, 12. Januar 2020.

3 So Michael D. Griffin für das US-Verteidigungsministerium vor dem Militärausschuss des Senats vom 18. April 2018.

4 Keynote Adresse beim Reagan National Defense Forum, 7. Dezember 2019.

5 Nahal Toosi, „Trump’s Shadow Secretary of Defense“, Politico, 6. Januar 2020.

Aus dem Englischen von Jakob Farah

Michael T. Klare ist emeritierter Professor am Hampshire College in Amherst (Massachusetts). Zuletzt erschien: „All Hell Breaking Loose: the Pentagon’s Perspective on Climate Change“, New York (Metropolitan Books) 2019.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2020, von Michael T. Klare