13.02.2020

Der Bolsonaro-Flüsterer

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Der Bolsonaro-Flüsterer

Olavo de Carvalhos Aufstieg vom kauzigen Außenseiter zum einflussreichen Berater des brasilianischen Präsidenten

von Gilberto Calil

TERRENCE MCCOY/picture alliance/ap photos
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Olavo de Carvalho, erklärte 2001 der linke Soziologe Emir Sader, „existiert nicht“. Die ultrareaktionären Thesen dieses Philosophen­pam­phle­tis­ten und Astrologen schienen weit weg von dem, was die breite Öffentlichkeit beschäftigte. Deshalb ging man im progressiven akademischen Milieu davon aus, dass dieser Carvalho lediglich an den radikalsten Rändern der brasilianischen Rechten „existierte“, wo er laut bellen mochte, aber anderswo kaum Gehör fand.

Als Jair Bolsonaro im Oktober 2018 die Präsidentschaftswahlen gewann, ergriffen die Außenseiter von gestern die Macht. Vier Bücher seien für ihn wichtig, erklärte Bolsonaro kurz darauf in den sozialen Medien: die Bibel, die brasilianische Verfassung, eine Churchill-Biografie – und ein Buch von Olavo de Carvalho.

Carvalho, Jahrgang 1947, engagierte sich in den 1960er Jahren kurzzeitig in der Kommunistischen Partei Brasiliens. Er studierte Philosophie, brach aber das Studium wegen der „miserablen Lehre“ wieder ab. 1967 begann er für große Zeitungen zu schreiben. Er wandte sich der Astrologie zu, einer, in seinen Augen, „Grunddisziplin“: „Diejenigen, die sie nicht studiert haben, wissen nichts. Es sind Analphabeten.“1

Carvalho brachte es zum gutbezahlten konservativen Leitartikler, der das „Gutmenschentum“ geißelte, das sich seit Ende der Diktatur (1964–1984) des Landes bemächtigt habe. So erklärt sich der Titel eines seiner wichtigsten Bücher, das 1996 erschien: „O imbecil coletivo. Atualidades inculturais brasileiras“ (Das dumme Kollektiv. Neuigkeiten zur brasilianischen Unkultur).

Dass sich Carvalho als Intellektueller einen Namen machen konnte, verdankt sich auch der Unterstützung von Ronaldo Levinsohn. Dem Bankier, der auf wundersame Weise eine Reihe von Finanzskandalen überstand, gehört die private Universität UniverCidade, an der Carvalho zwischen 1997 und 2001 Philosophie lehrte und zudem von 1999 bis 2001 den Universitätsverlag leitete.

1998 startete er eine Internetseite, auf der er seine Gesellschaftsanalysen veröffentlichte und um Spenden bat. Seine Thesen, die er 2009 erneuerte, lauten in etwa so: Da „der bürgerliche ‚ideologische Apparat‘, von dem die Marxisten reden, nicht existiert“, seien die oberen Klassen „wehrlos“ gegenüber der kommunistischen Gefahr. „Wenn sie es wagen, für ihre eigenen Interessen einzutreten, tun sie dies so zurückhaltend und vorsichtig, dass sie den Eindruck vermitteln, gegen den wohlwollendsten und verständnisvollsten Gegner der Welt zu kämpfen und nicht gegen jene ‚Killermaschinen‘, die zu sein sich die Revolutionäre rühmen.“2

Carvalho präsentierte sich zwar als Intellektueller, der sich der Sache der Vermögenden annahm. Doch das Bürgertum, das sich der eigenen Bedrohung wohl zu wenig bewusst war, gewährte ihm nicht die pekuniäre Unterstützung, die er zu verdienen meinte. Plínio Salgado (1895–1975), der historische Anführer des brasilianischen Faschismus, hatte auch jahrzehntelang lamentiert: „Das Bürgertum hilft uns nicht.“ Die Sprache Carvalhos zeichnet sich durch einen Hang zur Vulgarität und einen martialischen Ton aus. Die Aggressivität soll als Authentizität verstanden werden, was an Bolsonaros Stil erinnert. Carvalho behauptet, sein Gefluche drücke lediglich „die schlichte Absage an eine falsche Feierlichkeit“ aus. Für angebracht hält er eine solche Rhetorik „in Situationen, in denen eine zaghafte Reaktion eine Form von Komplizenschaft mit dem Nichttolerierbaren wäre“.3

Eine der bevorzugten Techniken Carvalhos besteht darin, seine Gegner damit zu disqualifizieren, dass er ihnen sexuell oder fäkal konnotierte Spitznamen verpasst. Er behauptet, das „Personal der Linken“ sei prinzipiell bereit zum Völkermord, und empfiehlt für den Umgang mit einem Linken: „Wenn Sie höflich mit ihm sprechen, verleihen Sie nur seinen Ideen Würde.“ Er rät dazu, bloß keine Hemmungen zu haben vor Äußerungen wie „Scheißbildung! Verpiss dich, Arschloch!“4

Doch wenn er sich über die Arroganz der progressiven Intellektuellen aufregt, die ihm vorhalten, keinen Universitätsabschluss zu besitzen, kann er allerdings mit großem Applaus rechnen. 83 Prozent der Bevölkerung haben nämlich ebenfalls keinen Uniabschluss.

2002 gründete Carvalho die Website Mídia Sem Máscara (Medien ohne Masken, MSM). Obwohl er damals regelmäßig Kolumnen für die wichtigsten Zeitungen des Landes schrieb, setzte sich seine Plattform zum Ziel, die Einflussnahme der Kommunisten auf die Presselandschaft zu entlarven. Dieser Kreuzzug, der in einem Land, in dem sich die Medien in der Hand der Oligarchie befinden, einigermaßen albern anmutet, machte Carvalho zur Bezugsgröße für die extreme Rechte, die seinen „Mut“ bewunderte.

In den Augen Carvalhos schließt das Etikett „kommunistisch“ die lauwarmen Reformisten ebenso ein wie die waschechten Sozialdemokraten und die Neoliberalen von der (rechten) Partei der Sozialdemokraten Brasiliens (PSDB). Die Letztgenannten, die sich für eine Öffnung der Wirtschaft und eine gesellschaftliche Modernisierung einsetzen, sind für Carvalho die zentralen Akteure eines ideologischen Projekts, das er als „Gramsciismus“ bezeichnet und das laut Carvalho darauf abziele, die brasilianische Gesellschaft zu schwächen, um einen Umsturz vorzubereiten.

Klimaleugner unter sich

Seit der Veröffentlichung von „A Nova Era e a Revolução Cultural“ (Die neue Ära und die kulturelle Revolu­tion, 1994) ist Carvalho von den Schriften Antonio Gramscis geradezu besessen. Laut Leonardo Puglia wird der italienische Kommunist – von Carvalho als „Prophet der Dummheit, Führer der dummen Horden“5 tituliert – „318-mal in den vier wichtigsten Werken des Autors“ namentlich zitiert.6 Die Gramsci’sche Revolution verhält sich zur Lenin’schen Revolution wie die Verführung zur Vergewaltigung“, erklärt Carvalho.7

Die Gramsci-Strategie, die sich unmerklich immer mehr verbreite, ziele drauf ab, die christlichen und moralischen Fundamente der Gesellschaft zu unterhöhlen, um den Weg für die kommunistische Revolution freizumachen. Deshalb lieferten „die Kommunisten“ die brasilianische Gesellschaft einem „kulturellen Krieg“ aus, um Abtreibung, Homosexualität und sexuelle Freiheit zu fördern. Diese Argumentation wurde 2011 fast Wort für Wort von der Senatorin Kátia Abreu übernommen: „Die Hegemonie des linken Denkens, die die Gramsci-Strategie der kulturellen Revolution den Universitäten eingeimpft hat, hat eine Gedankendiktatur etabliert.“8 Vier Jahre später integrierte Dilma Rousseff Abreu als Landwirtschaftsministerin in ihre Regierung der „Öffnung“.

Paradoxerweise beruht Carvalhos Erfolg auf Kommunikationsinstrumenten, die denen ähneln, die Gramsci den Kommunisten für den „Stellungskrieg“, das heißt, den Kampf um die Hegemonie der Ideen vorschlug. Carvalho beteiligte sich an einer Art kulturellen Revolution von rechts, die Bolsonaro an die Macht brachte. Dessen Regierung entspricht nun tatsächlich Carvalhos zentralen Positionen – mit ihrem Antikommunismus, ihrer Leugnung des Klimawandels, ihrer Infragestellung der Menschenrechte und ihren Attacken gegen Frauen, Farbige und sexuelle Minderheiten.

Inzwischen ist bekannt, dass Carvalho bei der Ernennung des Bildungsministers und des Außenministers eine zentrale Rolle gespielt hat. Sein Einfluss auf den Präsidenten und dessen Söhne Flávio (Senator), Eduardo (Bundesabgeordneter) und Carlos (Stadtverordneter von Rio de Janeiro) ist groß.

Unter den Regierungen von Luiz Iná­cio Lula da Silva (2003–2010) und Dilma Rousseff (2011–2016) gelang es den verschiedenen rechten Randgruppen, sich zu verbünden, um gemeinsam die linken Präsidenten zu stürzen: Mit der Inhaftierung (ohne klare Beweise) Lulas und der (zweifelhaften) Amtsenthebung Rousseffs erreichten sie ihr Ziel.9

Doch als Bolsonaro gewählt war, traten die Unterschiede und Unstimmigkeiten wieder zutage, auch innerhalb der Regierung.10 Grob gesagt gibt es drei Fraktionen: die Militärs (die acht Ministerien leiten), die Ultraliberalen (angeführt von Finanzminister Paulo Guedes) und die ideologischste Fraktion aus dem Umfeld von Carvalho, zu der etwa die Ministerin für Menschenrechte, Familie und Frauen, die Pastorin Damares Alves, gehört, die zum Beispiel der Ansicht ist, dass Jungen blaue und Mädchen rosa Kleidung tragen sollen.

Vizepräsident General Antônio Hamilton Mourão hat die Cavalho-Anhänger ebenso im Visier wie die ultra­libe­ralen Gruppen – etwa die Bewegung Freies Brasilien (MBL). Cavalho wütet seinerseits gegen die „Moderaten“ in der Regierung, deren Zaghaftigkeit Bolsonaro daran hindere, sein Programm durchzuziehen. Der größte Hemmschuh ist laut Carvalho General Mourão, ein „ungebildeter Kerl“.11

Carvalho propagiert die politische Radikalisierung. Die großen Demonstrationen in 350 Städten am 26. Mai 2019, bei denen Bolsonaros Unterstützer die Schließung beider Kammern der Legislative und des Verfassungsgerichts verlangten, da sie „nicht den Willen des Volkes“ verträten, unterstützte er ausdrücklich. Ebenso befürwortete er die Kundgebungen vom 30. Juni zur Unterstützung des Justizministers und Ex-Richters Sérgio Moro, der für ­Lula da Silvas Verurteilung nach einem nachweislich politischen Prozess verantwortlich ist.

Bei den Aufmärschen tönte von Lkw-Lautsprechern die Botschaft Carvalhos: „Vier oder fünf Jahrzehnte lang haben die Kommunisten und ihre Mitstreiter Brasilien beherrscht: die Me­dien, die Universität, die Kunstwelt und die Unterhaltungsbranche. Alles, absolut alles!“ Die Demonstranten wurden aufgefordert, sich von den „Hofnarren und Verrätern“ zu distanzieren, „die mit der anderen Seite zu verhandeln begonnen haben und sich gemäßigt nennen“. Jetzt sei die Stunde gekommen, „diesen Pennern die Knochen zu brechen“.

1 „Um acerto de contas com a astrologia“, Porto do Céu, Recife, Juni 2000.

2 Diário do Comércio, São Paulo, 17. August 2009.

3 „Coleção de frases com Cu e cia“, Olavo de Carvalho, 20. April 2015, olavodecarvalhofb.wordpress.com.

4 Zitiert nach: Lucas Patschiki, „Os litores da nossa burguesia: o Mídia Sem Máscara em atuação partidária (2002–2011)“,Magisterarbeit in Geschichte, Universidade Estadual do Oeste do Paraná, 2012.

5 Olavo de Carvalho, „A Nova Era e a Revolução Cultural“, Kapitel 2: www.olavodecarvalho.org.

6 Leonardo Seabra Puglia, „Gramsci e os intelectuais de direita no Brasil contemporâneo“, Teoria e Cultura, Juiz de Fora, Bd. 13, Nr. 12, Dezember 2018.

7 „A nova era e a revolução cultural“, siehe Anmerkung 5.

8 Zitiert nach: Lucas Patschiki, „Os litores da nossa burguesia“, siehe Anmerkung 4.

9 Siehe Laurent Delcourt, „Hexenjagd in Brasilien“, LMd, Mai 2016.

10 Siehe Raúl Zibechi, „Bolsonaro und das Militär“, LMd, Februar 2019.

11 „Olavo de Carvalho retruca Mourão via redes so­ciais; Carlos Bolsonaro apoia“, Poder 360, 23. April 2019, www.poder360.com.br.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Gilberto Calil lehrt Geschichte an der Universidade Estadual do Oeste do Paraná (Unioeste).

Le Monde diplomatique vom 13.02.2020, von Gilberto Calil