Kulturkampf in Brasilien
von Rafael Cardoso
Als Jair Bolsonaro am 1. Januar 2019 Staatspräsident von Brasilien wurde, schaffte er in einer seiner ersten Amtshandlungen das Kulturministerium ab. Das war zwar nichts unbedingt Neues – 1990 verzichtete für zwei Jahre Staatspräsident Fernando Collor darauf, 2016 ganz kurz Michel Temer –, aber es war hochsymbolisch. Denn seit Präsident José Sarney (1985–1990) nach dem Ende der Militärdiktatur das Kulturministerium aus dem vorherigen Ministerium für Bildung und Kultur herausgelöst hatte, spielte es eine zentrale Rolle für die Demokratisierung der brasilianischen Gesellschaft nach 21 Jahren Repression und Zensur. Als bekennender Bewunderer des Militärregimes zeigte Bolsonaro unverblümt, dass er mit der Abschaffung des Kulturministeriums die Uhr zurückzudrehen gedenkt.
Der berühmteste Kulturminister des Landes, der Sänger und Komponist Gilberto Gil, der unter Präsident Luis Inácio Lula da Silva von 2003 bis 2008 amtierte, sorgte durch seine Bekanntheit für ein nie da gewesenes Maß an medialer Aufmerksamkeit. Seine Ernennung war ein machtvolles Bekenntnis zur Diversität. Als einer der ersten afrobrasilianischen Minister in der Geschichte des Landes und Mitglied der kleinen Grünen Partei stand Gil für das Engagement, mit dem sich die regierende Arbeiterpartei (PT) dem Thema Minderheiten widmete. Unter Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff wurden die Bürgerrechte für Frauen, Homosexuelle und People of Color hochgehalten und gestärkt. Solch Fortschrittlichkeit bot Bolsonaro eine willkommene Angriffsfläche. Die Rolle von Minderheiten sei es, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen, erklärte er in seinem Präsidentschaftswahlkampf.
Die Abwertung der Kultur in der Regierungsarbeit – indem man das zuständige Ministerium zu einem zweitrangigen Staatssekretariat herabstufte – zeigt, wie tief das neue Regime Künstler und Intellektuelle verabscheut, die in Brasilien weitgehend mit Anliegen der Linken identifiziert werden. Teils aus purer Bosheit, teils aus Gleichgültigkeit brauchte Bolsonaro geschlagene zehn Monate, um den Posten des Kulturstaatssekretärs zu besetzen. Im November 2019 berief er den Theaterdirektor Roberto Alvim, der jedoch kaum zwei Monate später, am 17. Januar 2020, seine Stelle schon wieder los war. Bei der Ankündigung eines neuen Nationalpreises für Kunst hatte er, untermalt von Klängen aus Wagners „Lohengrin“, zur Erschaffung „heroischer“ und „nationaler“ Kunst aufgerufen und sich in der Wortwahl eng an eine Rede von Goebbels angelehnt.1
Die ungenierte Bezugnahme auf den Nationalsozialismus entfachte helle Empörung bei Presse, jüdischen Gemeinden und sogar politischen Verbündeten aus dem Mitte-rechts-Lager. Aber der Ausrutscher war nur ein Fehler im Ton, nicht im Tenor. Denn Alvims Einstellung entspricht genau dem Denken Bolsonaros, der nur Stunden vor der Veröffentlichung des anstößigen Videos in den sozialen Medien von sich gab: „Nach Jahrzehnten haben wir endlich einen echten Kulturstaatssekretär, der den Interessen der Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung dient, einer konservativen, christlichen Bevölkerung.“2
Der Aufstieg des nun in Ungnade gefallenen Staatssekretärs ist bezeichnend für das Vorgehen der Regierung gegen die Kultur. Alvim wurde im Juni 2019 zum Direktor der Abteilung Darstellende Künste in der Nationalen Kunststiftung Brasiliens ernannt. Alsbald nutzte er mit dem Eifer eines Kreuzfahrers seine Facebook-Seite, um „konservative Künstler“ aufzufordern, ihm beim Bau einer „Kriegsmaschine für den Kulturkampf“ zu helfen.3
Drei Monate später machte er landesweit Schlagzeilen, als er die allseits verehrte Schauspielerin Fernanda Montenegro attackierte. Aus Protest gegen die zunehmenden Angriffe auf Kunst und Kultur hatte sich die 90-jährige große alte Dame des brasilianischen Theaters für einen Zeitschriftentitel fotografieren lassen, auf dem sie, schwarz gekleidet und gefesselt mit einem schweren Tau, auf einem Bücherstapel zu sehen ist. Stinkwütend über die Anspielung auf Hexenjagden und Bücherverbrennungen, schmähte Alvim, wieder über die sozialen Medien, die Schauspielerin als „verkommen“ und die Theaterzunft als „verrottet“. „Jetzt herrscht Krieg. Unwiderruflich!“, ließ er seine Follower wissen.4 Die Welt des Theaters, des Films und Fernsehens stellte sich geschlossen hinter Fernanda Montenegro, doch Alvims Attacke kam bestens beim Regime an, und er wurde prompt befördert.
In seiner zwei Monate währenden Amtszeit besetzte er die Verwaltung mit Getreuen, die seine Vision eines Kulturkriegs teilten. Verwaltungsämter und strategisch wichtige Institutionen wie die Nationale Filmbehörde, das Nationalinstitut für das historische und künstlerische Erbe und sogar die 210 Jahre alte Nationalbibliothek, vermutlich die ehrwürdigste kulturelle Einrichtung Brasiliens, wurden Personen anvertraut, die fast ausnahmslos weder im öffentlichen Dienst noch in den Bereichen, in denen sie nun leitende Positionen bekleideten, Erfahrung hatten.
Fast alle aber haben Verbindungen zu konservativen Wirtschaftskreisen und christlichen Gruppen. Manche sind Influencer, die ihre fragwürdige Berühmtheit mit der Verbreitung von Verschwörungstheorien erlangt haben. Der derzeitige Direktor der Nationalen Kunststiftung hängt allen Ernstes der Überzeugung an, Rockmusik sei gleichbedeutend mit Propagierung von Abtreibung und Satanismus.5
Diese neuen Beamten kommen übrigens zum großen Teil nicht aus den Eliten der Metropolen wie São Paulo und Rio de Janeiro, was bedeutet, dass sie Loyalität nur ihren politischen Herren in Brasilia schulden. Trotz aller Empörung im kulturellen Establishment war die allgemeine Reaktion verhalten, die meisten Berufungen gingen glatt über die Bühne. Jedoch nicht die des neuen Präsidenten der Fundação Palmares, der bundesstaatlichen Organisation zur Förderung der afrobrasilianischen Kultur. Da erfolgte geradezu ein Aufschrei, als er verkündete, dass die Schwarzen von der Sklaverei profitiert hätten.6
Und als der neue Direktor der Fundação Casa de Rui Barbosa – eines Forschungszentrums zu Geschichte, Literatur und Recht in Rio de Janeiro – fünf der verdientesten Forscher aus leitenden Positionen entfernte, wurde das als politische Säuberung angesehen und führte sofort zu einem entsprechenden Echo in Presse und sozialen Medien.7 Aber alle Proteste waren bisher nicht sehr effektiv, und die Regierung fährt fort, bewährte Beamte durch ideologisch überprüfte Neulinge zu ersetzen.
Künstler werden als Parasiten beschimpft
Eines haben Alvim und praktisch alle, die er berufen hat, ebenfalls gemein: Sie sind Anhänger desselben Internet-Gurus. Der Rasputin hinter Bolsonaros Kulturpolitik ist Olavo de Carvalho, ein Knarre schwingender, Kraftausdrücke liebender Irrer, der sich als Philosoph geriert und seinen Lebensunterhalt mit Onlinekursen verdient, die Brasilianer auf ideologischer Sinnsuche in immer größeren Scharen belegen. Er lebt in den USA und verbringt die meiste Zeit damit, über einen eingebildeten Feind zu schimpfen, den er „kulturellen Marxismus“ nennt. Den Westen sieht er bedroht, und er findet auch nicht abwegig, dass die Erde eine Scheibe sei.8
Wie Bolsonaro war Carvalho jahrzehntelang eine Randerscheinung und wurde bis vor Kurzem als intellektueller Witz gehandelt. Doch mit dem Aufkommen der sozialen Medien hat er sich eine neue Fangemeinde geschaffen, die zu ihm als ihrem Führer aufsieht (siehe auch den Artikel auf Seite 18).
Schon vor der Internet-Ära war er das analoge Pendant zum digitalen Troll. Heute sind seine Bücher Bestseller: etwa „Wie wenig du wissen musst, um kein Idiot zu sein“ oder „Wie man eine Debatte gewinnt, ohne Recht zu haben“. Zu seinen prominentesten Jüngern gehört Eduardo Bolsonaro, Kongressabgeordneter und Präsidentensohn, dessen Einfluss auf seinen Vater bewirkte, dass andere Olavistas in noch einflussreichere Positionen gehievt wurden.
Der derzeitige Außenminister Ernesto Araújo – der den globalen Klimawandel für eine chinesische Erfindung hält und einen jüdisch-christlichen Kreuzzug gegen den Islam predigt – wurde von Carvalho selbst erwählt. Ebenso der ehemalige Bildungsminister, dessen vollkommene Inkompetenz aber dann doch dafür sorgte, dass er nur drei Monate im Amt blieb. Kürzlich hat Steve Bannon sein Interesse bekundet, den streitbaren Brasilianer als Ideologen der Alt-Right-Bewegung aufzubauen.9
Das kulturelle Milieu Brasiliens ist tief gesunken seit jenem Höhepunkt im September 2003, als Gilberto Gil die UN-Generalversammlung mit seinem Hit „Toda menina baiana“ mitriss, begleitet von Generalsekretär Kofi Annan an der Percussion.10 Damals war George W. Bush Präsident der USA, nur wenige Leute außerhalb von Illinois hatten von Barack Obama gehört, und der Anblick zweier schwarzer Männer aus dem globalen Süden, die sozusagen auf der Bühne der Welt musizierten, schien anzuzeigen, dass Macht im 21. Jahrhundert vielleicht anders ausgeübt werden würde.
Damals waren die Veränderungen der politische Landschaft schwerlich vorauszusehen: die Dominanz eines separatistischen Nationalismus, die Renaissance der Ideologie von der überlegenen weißen Rasse, den wachsenden Einfluss des religiösen Fundamentalismus und die zunehmend autoritären Regierungssysteme. Ein aggressiver Urfaschismus ist im Kommen, und das wird nirgends so deutlich wie im Brasilien Bolsonaros, wo eine antikommunistische Hysterie gedeiht und Künstler immer öfter als Parasiten und Feinde des Volkes angeschwärzt werden.
Am 24. Dezember 2019 flogen Molotowcocktails in die Räume der Produktionsgesellschaft des Comedy-YouTube-Kanals Porta dos Fundos (Hintertür) in Rio de Janeiro. Der Anschlag war insofern nicht erfolgreich, als die Räume nicht ausbrannten; ein Sicherheitsmann löschte das Feuer. Porta ist einer der brasilianischen Renner im Internet. Bei jedem der wöchentlich zweimal auf YouTube eingestellten Sketche gibt es durchschnittlich eine Million Aufrufe. Dabei geht es um ein breites Spektrum an Themen – von eher leichtgewichtigen bis zu existenziell wichtigen und politischen –, die aber stets in schöner Respektlosigkeit daherkommen.
Der Humor der Truppe äußert sich seit Langem in beißenden Satiren über Religion, zum Beispiel in den alljährlichen Weihnachtsspecials, wobei das von 2019 mit einem schwulen Jesus in der Hauptrolle nicht respektloser war als frühere, mit dem Unterschied allerdings, dass es über Netflix ein Massenpublikum erreichte.
Am ersten Weihnachtstag postete eine obskure Gruppe, die sich „Nationales Volksaufstandskommando der Integralisten-Großfamilie Brasiliens“ nennt, ein Video, in dem sie die Verantwortung für den Anschlag übernahm. Zu sehen waren drei Gestalten, eine saß und verlas die Verlautbarung, zwei standen, alle trugen schwarze Schlupfmützen, grüne Militärjacken und Armbinden mit den Zeichen des brasilianischen integralismo, einer faschistischen Bewegung der 1930er Jahre.11
Hinter dem Trio hing ein Banner mit dem integralistischen Symbol, den Tisch vor ihnen bedeckte die Flagge des Kaiserreichs Brasilien, das 1889 von einer Republik abgelöst wurde. Die krude Ästhetik erinnerte an Videos der baskischen Separatistengruppe ETA, die Botschaft war unmissverständlich: Sich im Namen der Redefreiheit über religiöse Werte lustig zu machen, werde nicht mehr geduldet.
Und das in einer Gesellschaft, die eine reichhaltige Komiktradition aber keinen einheimischen Terrorismus hervorgebracht. Doch in diesem Brasilien gibt es heute humorlose Fanatiker, die bereit sind, in ihrem Rachefeldzug gegen alles, was sie als blasphemisch ansehen, Bomben zu werfen.
In diesem Fall war ein Verdächtiger bald gefasst: ein Anhänger Bolsonaros, eingetragenes Mitglied der Partido Social Liberal (PSL), für die der Präsident kandidiert hatte und mit der er jetzt zerstritten ist. Der Brandstifter wurde schnell ausgeschlossen, und selbst Vertreter der Frente Integralista Brasileira, die heutigen Erben der faschistischen Bewegung, distanzierten sich öffentlich von ihm.
Doch Bolsonaro, der sich sonst bei jeder Bedrohung der öffentlichen Sicherheit unverzüglich zu Wort meldet, hat zu dem Vorfall bislang beredt geschwiegen. Ähnlich peinlich verhält sich sein Minister für Justiz und Öffentliche Sicherheit, Sergio Moro.
Die Art der Attacke ist so weit von dem entfernt, wie sich die Brasilianer gern selbst sehen, nämlich als warmherzig und unbekümmert, dass anfangs manche Leute glaubten, das Video sei ein Fake. In Wirklichkeit ist es der jüngste Beweis dafür, dass Brasilien eben keine sorglose Gesellschaft mehr ist (wenn sie das überhaupt je war). Seit den Ereignissen, die 2016 zur Amtsenthebung von Dilma Rousseff führten – und denen in einflussreichen Medien der Mainstream-Presse eine jahrelange fanatische Kampagne gegen die PT vorausgegangen war –, sind die Brasilianer in feindliche politische Lager gespalten.
Die eine Hälfte ist überzeugt, dass Rousseffs Entfernung aus dem Amt ein Coup des Parlaments war und dass Lula zu Unrecht ins Gefängnis geworfen wurde, damit er 2018 nicht bei den Wahlen kandidieren konnte. Die andere Hälfte glaubt, die PT habe nicht nur einen riesigen Korruptionsapparat aufgebaut, sondern auch eine Verschwörung angezettelt, um die Moral der Nation zu untergraben. Anhänger beider Lager finden sich quer durch alle Geschlechter und Klassen, unabhängig von Hautfarbe, Bildung, Einkommen und Wohnort.
Bolsonaro ließ sich im Jordan taufen
Wer sich wo tummelt, ist am verlässlichsten vielleicht an der Einstellung gegenüber Homorechten abzulesen. Wer für sexuelle Freiheit und Diversität ist, bewegt sich wohl eher im Lager der „Roten“. Diejenigen, die in den Nationalfarben Grün und Gelb auf die Straße gehen, sind eher der Meinung, Homosexualität sei eine Sünde, eine Geißel der Menschheit und Grund zur Scham. Die Behauptung, dass die PT-Regierung Gehirnwäsche betrieben habe, um die traditionellen Geschlechterkonzepte auszuhöhlen, trifft bei ihnen auf offene Ohren.
Oft verächtlich gemacht als „Genderideologie“, war diese Anschuldigung eine von Bolsonaros wirksamsten Waffen im Wahlkampf. Er setzte sie vor allem über WhatsApp ein und verbreitete massenhaft Fake News wie die, dass die PT plane, Familien ihre Kinder wegzunehmen und sie vom Staat erziehen zu lassen; dass in Kinderkrippen der PT Babyflaschen mit Schnullern in Form eines Penis in Gebrauch seien; oder dass Fernando Haddad, der PT-Kandidat, der gegen Bolsonaro kandidierte, ein Kinderschänder sei.
Der berüchtigt niedrige Bildungsstand der Brasilianer war für die primitive Propaganda ein fruchtbarer Boden. Und Bolsonaro nutzte dabei die neuesten Methoden der Desinformation, die von Cambridge Analytica auch woanders in der Welt angewendet wurden.
Es besteht wohl kaum ein Zweifel daran, dass Organisationen auf der extremen Rechten wie der Movimento Brasil Livre oder die Escola sem Partido (Schule ohne Partei) eifrig die öffentliche Aufregung um sensible Themen schüren – mit finanzieller Unterstützung durch zahlreiche Konzernchefs im In- und Ausland.12
Und doch wäre der Schluss, dass die ideologische Kluft in Brasilien erst im Wahlkampf erzeugt und ausgebeutet wurde, ein großer Irrtum. Diese Kluft ist tiefer und existiert schon seit Längerem. Ähnlich wie in Europa und den USA ist sie auch Resultat des vollkommenen Auseinanderdriftens derjenigen, die Kosmopolitisches als wünschenswert, und derer, die es als Bedrohung ansehen. Die Spaltung verläuft auch entlang religiöser Vorgaben.
Die spektakuläre, immer weitere Verbreitung von Pfingstgemeinden während der letzten drei Jahrzehnte verändert die politische Landschaft.13 Von den 513 Mitgliedern der derzeitigen Legislative gehören 91 Kongressabgeordnete zur sogenannten evangelikalen Fraktion, darunter auch ein paar aus der PT. Evangelikale – also fundamentalistische, „wiedergeborene“ Christen – stimmten 2018, ganz unabhängig von anderen demografischen Faktoren, massenhaft für den jetzigen Präsidenten.
Bolsonaro, der sich als Katholik bezeichnet, hat keine Mühe gescheut, um sich bei ihnen anzubiedern. So hat er sich im Jordan taufen lassen, ist bei allem dabei, das proisraelisch ist, und veranstaltet evangelikale Gottesdienste im Präsidentenpalast. Darüber hinaus hat er sich mit Edir Macedo zusammengetan, dem allmächtigen Führer der Universalkirche des Königreichs Gottes, einer der größten brasilianischen Pfingstkirchen und allemal der umstrittensten, weil sie die sogenannte Wohlstandstheologie, den Zusammenhang von Reichtum und rechtem Glauben, predigt.
Derzeit zählen etwa 20 bis 25 Prozent der Brasilianer zu den Evangelikalen. Aber sie nehmen an Zahl unaufhörlich zu, und manche Fachleute prophezeien, dass sie bis 2030 die Katholiken überflügeln werden. Wenn sich die Anhänger der verschiedenen Kirchen für eine Sache verbünden, sind sie eine beachtliche politische Kraft. Evangelikale und Katholiken sind sich bei Themen wie Abtreibung und Homosexualität ja auch durchaus einig.
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Fundamentalisten beider Konfessionen ist der Widerstand gegen künstlerische Ausdrucksformen, die sie als Gefahr für religiöse und Familienwerte ansehen. Antônio Obá, der 2015 in einer Performance einen Gipsabdruck von „Unserer Lieben Frau von Aparecida“ zerraspelte und das weiße Pulver über seinen nackten schwarzen Körper streute, bekam so viele Todesdrohungen, dass er das Land verlassen musste. Auch Wagner Schwartz’ Performance „La Bête“, bei der das Publikum zur Interaktion mit dem Künstler aufgefordert wurde (es sollte seinen nackten Körper in verschiedene Posen rücken), zog eine Flut von Todesdrohungen und Beschimpfungen im Internet nach sich, zumal Schwartz auch noch fälschlicherweise beschuldigt wurde, zur Pädophilie zu animieren.
Die religiöse Intoleranz in Brasilien wächst, besonders in Form von Überfällen auf terreiros (Orte für afrobrasilianische religiöse Riten). Ebenso wächst die Gewalt gegen Frauen, Homo- und Transsexuelle und ebenso die Zensur von Künstlern und Museen, Büchern, Filmen und Sendern, die konservative Ideale von Nation und Religion antasten. Diese drei Aspekte brasilianischer Bigotterie – die sich bisweilen überschneiden, aber, analytisch betrachtet, verschieden sind – verschmelzen zunehmend im öffentlichen Bewusstsein und werden als Kampf zwischen Freiheit und Familie, Diversität und Patriotismus, Demokratie und Gottesfurcht oder jedem anderen schlau zurechtgedrechselten Gegensatzpaar geschluckt.
Als Folge verschanzt man sich auf beiden Seiten des ideologischen Grabens immer tiefer in seinen jeweiligen Vorstellungen von Identität und identitärer Haltung. Das eine Lager hat seinen Helden in Bolsonaro gefunden, dessen intellektuelle Schlichtheit und moralische Leere ihn geradezu prädestinieren, den Anführer eines imaginären Kreuzzugs zu spielen. Das andere Lager stolpert umher bei der Suche nach einer Botschaft, die seine disparaten Kräfte, die bei jeder kleinen Kurve schon auseinanderfliegen, irgendwie zusammenhalten könnte.
Roberto Alvims Rauswurf und die Reaktion auf seine unverhohlen nationalsozialistischen Anleihen könnten einen Hoffnungsschimmer andeuten. Doch einerlei, wer Alvims Platz einnimmt, die Regierung Bolsonaro steht fest zu ihrem Bekenntnis, die „künstlerische und kulturelle Wiedergeburt“ – mit den Säulen Gott, Vaterland und Familie – zu fördern und den „Kampf gegen all diese Entarteten“ zu führen.
So hat sie es in ihren Plänen und Zielen für 2020 festgelegt.14 Und das war ja auch Sinn und Zweck der Übung mit dem neuen Nationalpreis für Kunst, dessen Ankündigung dermaßen schief ging. Für die olavistischen Kader, die Alvim als seine Erben hinterlässt, sind die Worte aus dem Erlass eherne Glaubenssätze, die verwirklicht werden müssen. Der Krieg „gegen den Kulturmarxismus“ tobt in Brasilien weiter, und es sieht nicht danach aus, als werde er in nächster Zeit abflauen.
10 www.youtube.com/watch?v=C5-33YIVYC4.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier
Rafael Cardoso ist Kunsthistoriker und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm „Das Vermächtnis der Seidenraupen. Geschichte einer Familie“, Frankfurt am Main (S. Fischer) 2016. In diesem Jahr erscheint „Modernity in Black and White: Art and Image, Race and Identity in Brazil, 1890–1945“, Cambridge University Press.
© LMd, Berlin