Der lachende Dritte
Taiwans Tech-Industrie profitiert vom Handelsstreit zwischen Peking und Washington
von Alice Hérait
Wohin können US-amerikanische Unternehmen ausweichen, die ihre Produkte bislang in China herstellen? Nach Taiwan. Dies empfahl im Juni 2019 mitten im Handelsstreit zwischen Peking und Washington der Chef des taiwanischen Unternehmens Foxconn, Terry Gou.1 Wie zahlreiche andere multinationale Unternehmen, die in China aktiv sind, ist es für den Elektronikteile-Hersteller und wichtigsten Apple-Zulieferer Foxconn verlockend, einen Teil seiner Fabriken vom Festland nach Taiwan zu verlagern.
Terry Gou ist laut Forbes Asia der viertreichste Mann Taiwans und wollte ursprünglich bei der Präsidentschaftswahl am 11. Januar antreten, zog seine Kandidatur aber im vergangenen Oktober überraschend zurück. Im Wahlkampf hatte er versprochen, seine Fabriken wieder in die Heimat zu holen und ausländische Investoren ins Land zu locken. Seine Ankündigungen waren auch ein Hinweis darauf, wie Taiwan dank seiner Schlüsselposition in der globalen Logistikkette die im Januar 2018 begonnene Konfrontation zwischen US-Präsident Donald Trump und seinem chinesischen Gegenüber Xi Jinping zu seinem Vorteil nutzen könnte.
Die Welthandels- und Entwicklungskonferenz (Unctad) stellte Terry Gous Strategie der Standortverlagerung in einen größeren Zusammenhang. In einem Bericht, der in den Medien große Beachtung fand, berechnete die Unctad, dass Chinas Exporte in die USA wegen der Anhebung der Zölle durch Washington um 35 Milliarden Dollar (31 Milliarden Euro) zurückgegangen seien und sich im ersten Halbjahr 2019 auf 95 Milliarden Dollar beliefen. Taiwans Exporte in die Vereinigten Staaten seien hingegen um 4,2 Milliarden Dollar gestiegen – das entspricht einem Plus von 20 Prozent.
Auch die Medien rufen bereits die lang ersehnte Heimkehr der „Taishang“ aus. So werden die taiwanischen Unternehmer genannt, die wie Terry Gou im Ausland und vor allem in China investiert haben. Im ersten Jahrzehnt des neuen Millenniums verlagerten die Taishang die einheimische Industrieproduktion – ausgenommen die Halbleitertechnik – mehr oder weniger komplett in die Volksrepublik.
„Das klassische Modell sieht so aus: Ein taiwanisches Unternehmen bekommt Aufträge aus den USA, macht die Entwicklungsarbeit in Taiwan und lässt in China fertigen“, erläutert Roy Lee vom Chung-Hua-Institut für Wirtschaftsforschung (CIER) in Taipeh, das die taiwanische Regierung mit Studien beliefert. „90 Prozent unserer Exporte sind Zwischenerzeugnisse, und 40 Prozent gehen nach Festlandchina.“
Die offiziellen Wirtschaftsprognosen sind optimistisch. Die taiwanische Zentralbank geht für dieses Jahr inzwischen nicht mehr – wie noch im September 2019 – von 2,4 Prozent, sondern von 2,6 Prozent Wachstum aus. Nach Auskunft der Agentur Invest Taiwan, die dem Wirtschaftsministerium untersteht, sagten 300 Unternehmen des Inselstaats zu, im Rahmen eines Anfang 2018 angelaufenen Rückkehrförderprogramms umgerechnet 25 Milliarden Euro zu investieren und 69 374 Arbeitsplätze zu schaffen. Im vergangenen Jahr brachen die taiwanischen Investitionen in China um 54 Prozent ein.
„Seit zehn Jahren will die Regierung die Taishang dazu bewegen, im eigenen Land zu investieren. Die gehorchen aber lieber dem Markt als den Ratschlägen der Regierung“, sagt Roy Lee. Seit Beginn des Handelskonflikts kämen sie nun jedoch von allein zurück. Der chinesische Markt sei zwar weiterhin auf Wachstumskurs und biete nach wie vor ein Riesenpotenzial. Die Investoren zögen sich auch nicht aus Festlandchina zurück, „aber sie überdenken ihre Standortentscheidung für die Produkte, die für den US-Markt bestimmt sind“.
Auch die Unctad konstatiert in ihrem Bericht, dass nur bestimmte Aktivitäten verlagert und unter dem Strich keine Investitionen nach Taiwan zurückfließen. „Wir haben unseren Sitz in Taiwan, aber die gesamte Fertigung findet in China statt“, bestätigt Herr Chen, ein früherer Mitarbeiter des Biotech-Start-ups VesCir. „Als Trump seine Zölle verhängte, beschloss die Firmenleitung kurzerhand, die Montage in ein Werk in Taiwan zu verlegen, um sich das Siegel ‚Made in Taiwan‘ zu sichern.“
Kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 11. Januar lebte angesichts der wirtschaftlichen Perspektiven die Debatte über die Unabhängigkeit von China neu auf. 2016 hatte die Wahl von Tsai Ing-wen, einer Befürworterin der taiwanischen Unabhängigkeit, zur Staatspräsidentin den chinesischen Staats- und Parteichef Xi Jinping erzürnt. Der pocht bei jeder Gelegenheit darauf, dass Taiwan laut Verfassung ein untrennbarer Teil Chinas sei.
Im Rahmen ihrer „Neuen Südpolitik“ (New Southbound Policy) versucht Tsai Ing-wen Unternehmen dazu zu bewegen, in den südostasiatischen Ländern zu investieren. Mit ihrem Innovationsplan „5+2“ will sie außerdem fünf Spitzentechnologie-Branchen stärken: Biotechnologie, grüne Energien, das Internet der Dinge, intelligente Maschinen und Verteidigungsgüter. Hinzu kommen die Kreislaufwirtschaft und die Landwirtschaft.
Ziel ist es, Innovation zu fördern, die Industrie wettbewerbsfähiger und die Unternehmen profitabler zu machen und damit – so heißt es offiziell – für höhere Löhne zu sorgen, mehr Beschäftigung zu schaffen, die Entwicklung gleichmäßiger auf die Regionen zu verteilen und Taiwans Abhängigkeit von den Produktionsketten in Festlandchina zu verringern. Erste zaghafte Erfolge wurden bereits vermeldet, bevor die Programme durch den Handelsstreit eine neue Bedeutung gewannen.
Manche Taishang, die sich in der Regel eher für die Annäherung zwischen Taiwan und China starkmachen und zur treuen Wählerschaft der nationalistischen Kuomintang (KMT) zählen, ließen sich von der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) der Präsidentin überzeugen. „Wir begleiten die industrielle Umstellung, die durch den Handelskonflikt erforderlich wird“, erklärt DPP-Sprecher Liao Tai-xiang und freut sich, dass weniger Investitionen nach China wandern und mehr Kapital in die Länder der New Southbound Policy fließt: Anfang Januar stieg Taiwan zum fünftgrößten ausländischen Investor in Vietnam auf.
Taiwans politische Landschaft, die weitgehend vom Verhältnis zum übergroßen Nachbarn geprägt ist, wurde durch den Handelskrieg und die Proteste in Hongkong kräftig durcheinandergewirbelt. Der große Verlierer dabei war Tsai Ing-wens Hauptkontrahent Han Kuo-yu von der KMT. Nach der krachenden Niederlage ihrer DPP bei den Kommunalwahlen im November 2018 bekam die Präsidentin wieder Aufwind. Am 11. Januar wurde sie mit einem noch besseren Ergebnis als 2016 wiedergewählt: Nachdem sie vor vier Jahren 6,9 Millionen Stimmen holte, konnte sie diesmal 8,2 Millionen Wählerinnen und Wähler überzeugen (57,1 Prozent der abgegebenen Stimmen).
Dennoch bekennen sich die meisten Taishang nach wie vor zur Anbindung an Peking. „Alle großen taiwanischen Unternehmen unterhalten die meisten ihrer Fabriken in China. Wenn Taiwans Beziehungen zu China brüchig werden, wird niemand bei uns investieren“, betont Lee Suen-cheng von der National Policy Foundation (NPF), die die KMT in Rechts- und Finanzfragen berät. Er ist der Meinung, dass es für taiwanische Firmen derzeit immer noch profitabler sei, auf dem Festland zu investieren als in Vietnam.
Besondere Sorge bereitet Lee Suen-cheng, dass demnächst das Rahmenabkommen über wirtschaftliche Zusammenarbeit (ECFA) ausläuft. Die 2010 vom taiwanischen Parlament ratifizierte Vereinbarung sorgt für einen weitgehend zollfreien Warenverkehr zwischen den beiden Seiten der Taiwanstraße und kurbelt den Handel an. Sollte das Abkommen im Juni 2020 auslaufen, könnte dies der Petrochemie und dem Maschinenbau einen schweren Schlag versetzen. Präsidentin Tsai Ing-wen spricht sich klar für die Verlängerung des Abkommens aus. Allerdings hat auch Xi Jinping dabei ein Wörtchen mitzureden.
Medienberichten zufolge könnte Chinas Staats- und Parteichef versucht sein, das ECFA nicht zu verlängern – auf die Gefahr hin, die taiwanischen Investoren zu verprellen.3 Roy Lee meint: „Sollte Taiwan sich politisch feindselig verhalten, wird die chinesische Regierung Anreize für die Taiwaner auf dem Festland schaffen.“ Mit solchen Anreizen wolle man taiwanische Unternehmen für sich gewinnen und ihre Identifikation mit China stärken.4
Die 26 neuen Maßnahmen, die Peking am 4. November 2019 ankündigte5 , um taiwanischen Unternehmen aufs Festland zu locken, umfassen die Möglichkeit, an dem Programm „Made in China 2025“ zu partizipieren. Mit Made in China 2025 will Peking bestimmte Schlüsselindustrien vor allem im Hightech-Bereich fördern, um künftig weniger auf ausländische Zulieferer angewiesen zu sein.
Donald Trump sieht in diesem Programm eine Bedrohung. Der US-Präsident führt einen Technologiekrieg gegen den Telekommunikationsriesen Huawei, der den amerikanischen Tech-Giganten Konkurrenz macht, und befürchtet, mit der neuen 5G-Technologie des chinesischen Unternehmens könnten Daten – insbesondere militärische Daten – illegal abgezapft werden.
Im Mai 2019 verhängte der US-Präsident einen Exportstopp für Bauteile, die Huawei dringend für die Herstellung seiner Smartphones braucht. Daraufhin beschloss das chinesische Unternehmen, seine Produktionskette zu „entamerikanisieren“. Davon profitiert vor allem Taiwan, das bei der Produktion der für die Herstellung elektronischer Geräte unentbehrlichen Halbleiter weltweit führend ist. 70 Prozent der in China verbauten Halbleiter kommen mittlerweile aus Taiwan. Ende 2019 avancierte Huawei zum größten Kunden der Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC), die den Weltmarkt für hochentwickelte Halbleiter anführt.
Seit Juni 2019 zeigt die Wachstumskurve von TSMC, das weitgehend in Taiwan fertigt, steil nach oben: „TSMC hat beinahe eine Monopolstellung und ist in einer starken Position, weil China auf seine Produkte angewiesen ist“, kommentiert Mathieu Duchâtel, Leiter des Asienprogramms am Pariser Institut Montaigne.
Duchâtel hat Chinas 5G-Angebot im Hinblick auf die amerikanischen Sanktionen unter die Lupe genommen: „Wenn 5G Einzug hält, wird der weltweite Bedarf nach hochwertigen Vorprodukten noch weiter steigen. TSMC wird auf absehbare Zeit seinen Vorsprung in diesem Bereich halten.“ Damit hätte Taipeh ein mächtiges Druckmittel in der Hand.
Das Programm Made in China 2025 könnte für diese Industrie allerdings zur Zeitbombe werden. Bereits jetzt hat China 3000 taiwanische Halbleiterspezialisten abgeworben, das sind 10 Prozent aller Fachleute, die in Taiwan in diesem Bereich arbeiten. Der Wirtschaftswissenschaftler Roy Lee warnt: „Dieser Braindrain ist schon seit Jahren eine Gefahr. Der Handelsstreit beschleunigt allerlei globale Entwicklungen, die bereits vorher im Gange waren.“
Die Chinesen haben nicht vor, bis in alle Ewigkeit von taiwanischen Technologien abhängig zu sein. Für Peking gehe es um die nationale Sicherheit: Das Land wolle, was überlebenswichtige Technologien angeht, nicht mehr auf Drittländer angewiesen sein. Denn was würde passieren, wenn Taiwan seine Lieferungen von einem Tag auf den anderen einstellt? Peking gehe jedenfalls davon aus, dass sich Taipeh früher oder später auf die Seite der USA schlagen wird, meint Lee.
4 Siehe Alice Hérait, „Kommt doch rüber“, LMd, Juni 2019.
Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld
Alice Hérait ist Journalistin.