13.02.2020

Enttäuschte Hoffnung auf Frieden

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Enttäuschte Hoffnung auf Frieden

Der Krieg in der Ostukraine droht zu einem eingefrorenen Konflikt zu werden

von Igor Delanoë

Rückkehr nach Luhansk ULF MAUDER/dpa
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Der bewaffnete Konflikt zwischen der ukrainischen Armee und den prorussischen Separatisten im Donbass geht in diesem Februar ins siebte Jahr. Zwei Jahre lang bemühten sich Frankreich, Deutschland, die Ukraine und Russland um eine Lösung, doch seit Oktober 2016 gab es kein Treffen mehr in diesem sogenannten Normandie-Format. Dass die Gespräche im Sommer 2019 wieder aufgenommen wurden, ist sowohl Wolodimir Selenskis Wahlsieg als auch Präsident Emma­nuel Macrons Diplomatie zu verdanken.

Am 21. April 2019 hatte Selenski mit 73 Prozent der Stimmen gegen den bisherigen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko gewonnen. Und bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juli errang Selenskis Partei „Diener des Volkes“ mit 43 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze. Das hatte es seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1991 noch nie gegeben. Das starke Mandat zeigt, dass Selenskis Wähler viel von ihm erwarten, vor allem eine Lösung des Donbass-Konflikts.

Hatte Poroschenko die Separatistengebiete abgeschottet, geht sein Nachfolger mit dem Konflikt anders um. Im Wahlkampf äußerte er sich in ukrainischen Medien auf Russisch,1 und als Präsident verkneift er sich die Bezeichnung „russische Aggression“.2 Gleich nach seiner Wahl signalisierte er aber auch seine Absicht, die abtrünnigen Provinzen in Kiews Schoß zurückzuholen. Im September 2019 präsentierte seine Regierung einen Plan zur Wiederaufnahme wirtschaftlicher und humanitärer Beziehungen. So soll unter anderem die Auszahlung der Renten in den Separatistengebieten erleichtert werden.3

Macron nutzte den Regierungswechsel in Kiew, um sich dafür einzusetzen, dass Russland nach fünf Jahren Pause seit Ende Juni 2019 wieder an der Parlamentarischen Versammlung (PV) des Europarats teilnehmen kann – die Entscheidung, das russischen Stimmrecht zu suspendieren, war in der PV sowieso umstritten gewesen.

Anfang September tauschten Russland und die Ukraine 70 Gefangene aus, und einige Tage später einigte sich die trilaterale Kontaktgruppe aus Vertretern der Ukraine, Russlands und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf drei „Testzonen“ entlang der Demarkationslinie, aus denen schwere Waffen abgezogen werden sollen. In den betroffenen Ortschaften Petriw­ske, Stanyzja Luhanska und Solote war es ohnehin nur sporadisch zu Zusammenstößen gekommen.4

Während in Frankreich die Zuversicht wuchs, sich schon im Oktober zu einem „Normandie“-Gipfel zu treffen, rechnete Moskau frühestens im November damit. Schließlich trafen sich die vier Staatschefs am 9. Dezember in Paris. Zuvor hatte Kiew am 1. Oktober die „Steinmeier-Formel“ akzeptiert, die vorschlägt, dass in den Separatistengebieten unter Aufsicht der OECD gewählt werden kann. Die OECD war schon mit einer Beobachtermission betraut worden, bevor das ukrainische Parlament (Werchowna Rada) ein Gesetz über den Sonderstatus des Donbass beschlossen hatte. Moskau nahm das wohlwollend zur Kenntnis und gab als Zeichen seiner Verhandlungsbereitschaft drei Kriegsschiffe an die Ukraine zurück, die die russische Armee im November 2018 vor der Krim beschlagnahmt hatte.

Der Pariser Gipfel lässt zwar auf Fortschritte hoffen, doch abgesehen von der militärischen Deeskalation sind die Ergebnisse bislang bescheiden. So konnten sich Moskau und ­Kiew immer noch nicht dazu durchringen, wie im Minsker Abkommen vor fünf Jahren vereinbart, die schweren Waffen komplett abzuziehen. Aber sie haben sich immerhin darauf geeinigt, bis März 2020 drei weitere entmilitarisierte „Testzonen“ zu schaffen, und die OECD erhielt den Auftrag, einen neuen Plan zur Beseitigung von Landminen auszuarbeiten.

Neues Gasabkommen zwischen Kiew und Moskau

Ende Dezember wurden noch einmal etwa 200 Gefangene ausgetauscht. Außerdem sollen neue Übergänge geöffnet werden, um die Lebensbedingungen im Donbass zu verbessern und die zwischenmenschlichen Kontakte diesseits und jenseits der Grenze der Separatistengebiete zu erleichtern. Und schließlich soll im April 2020 ein weiterer Normandie-Gipfel in Berlin stattfinden.5

Aus Moskauer Sicht ändert Selenskis Präsidentschaft nichts an den Grundlagen des Konflikts im Donbass: Der Ball bleibt im Feld Kiews, das die Minsker Abkommen umsetzen muss. Putins Beschluss, zu dem Treffen nach Paris zu kommen, hatte wahrscheinlich zwei Gründe: Erstens wollte er sich wohl beim französischen Präsidenten dafür revanchieren, dass dieser sich unermüdlich darum bemüht hatte, das Spiel in Richtung Russland zu öffnen, obwohl er damit einen Teil seines diplomatischen und militärischen Apparats gegen sich aufgebracht hat.

Zweitens wollte Putin die Gelegenheit nutzen, mit seinem ukrainischen Amtskollegen über Gas zu sprechen: Der russisch-ukrainische Zehnjahresvertrag über die Lieferung und den Transit von russischem Gas lief Ende 2019 aus. Der russische Energieminister Alexander Nowak und Gazprom-Direktor Alexei Miller begleiteten den Kremlchef nach Paris.

Neben Lieferumfang und Tarif war vor allem die Laufzeit des neuen Vertrags lange umstritten gewesen. Die Ukraine wollte zehn Jahre, Russland nur ein Jahr. Am 20. Dezember verkündeten beide Parteien, sie hätten sich auf fünf Jahre geeinigt. Gazprom verpflichtete sich außerdem, die 2,9 Milliarden US-Dollar zu begleichen, die es dem ukrainischen Gasunternehmen Naftogaz nach der Entscheidung des ­Stockholmer Schiedsgerichts schul­dete.

Die Überweisung erfolgte am 27. Dezember. Im Gegenzug verzichtet Kiew auf die Fortsetzung eines Gerichtsverfahrens gegen Gazprom wegen Nichteinhaltung des Transitvertrags – hier geht es vor allem um Klauseln zum Mindestvolumen des durch die Ukraine geleiteten russischen Gases. Im Raum standen 12,2 Milliarden US-Dollar Entschädigung. Auf diesem Feld waren die Pariser Gespräche also ganz sicher konstruktiv, haben sie doch dafür gesorgt, dass der Streit nicht wieder in einen „Gaskrieg“ ausartet.

Man hat Russland oft vorgeworfen, nicht genug auf seine Protegés in Luhansk und Donezk einzuwirken, um die Umsetzung der Minsker Abkommen zu erleichtern. Doch auch die Ukraine verhielt sich zögerlich. Meinungsumfragen zeigen, dass zwar eine Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer Frieden will, aber nicht um jeden Preis. Anfang Oktober sprachen sich 56,2 Prozent der Befragten gegen einen Sonderstatus für den Donbass und 59 Prozent gegen jede Amnestie für die Separatistenkämpfer aus.6

Anfang Oktober protestierten in Kiew tausende Ukrainer gegen Kiews Unterschrift unter die Steinmeier-Formel, die offiziell den Weg für den Pariser Gipfel frei gemacht hat. Die von Ex-Präsident Poroschenko auch als „Putin-Formel“ bezeichnete Vereinbarung mache Moskau gewaltige Zugeständnisse und käme für die Ukraine einer Kapitulation gleich. Schließlich habe man Kiew nicht garantiert, dass es die Souveränität über die Grenze zwischen dem Donbass und dem russischen Territorium zurückbekommt. Das sei aber die unverzichtbare Bedingung dafür, dass Kiew die Kommunalwahlen im Donbass anerkennt, sagte Selenski bei seiner Pressekonferenz nach dem Pariser Gipfel.7

Kiew sieht sich nicht dazu verpflichtet, den Minsker Prozess fortzusetzen, wenn dieser vorsieht, dass die EU ihre Sanktionen gegen Russland auch ohne Zugeständnisse des Kremls aufheben könnte. Moskau wiederum pocht darauf, dass die festgelegte Abfolge eingehalten wird. Bei seinem Besuch in Paris wollte Putin außerdem daran erinnern, dass Frankreich und Deutschland das Minsker Abkommen schließlich auch unterschrieben haben.

Während sich Macron und Merkel vor allem als Mittler verstehen, ­betrachtet sie Putin als Kiews Paten und wirft ihnen vor, zu wenig Druck auf den ukrainischen Präsidenten auszuüben, die Verpflichtungen zu erfüllen, die ­Kiew einst mit der Unterzeichnung des ­Minsker Abkommens eingegangen ist.

Im Sommer 2019 wollte sich Kiew einen größeren Handlungsspielraum gegenüber seinen europäischen Paten verschaffen und versuchte – vergeblich –, das Normandie-Format auf die USA und Großbritannien auszudehnen, die gegenüber Moskau eine härtere Haltung vertreten.

Russische Pässe für die Donbass-Bewohner

Seitdem der Inhalt eines Telefongesprächs zwischen Donald Trump und Selenski im Juli 2019 durchgesickert ist, steht der Verdacht im Raum, Trump habe versucht, seinen Amtskollegen zu erpressen, um kompromittierende Informationen über seinen demokratischen Rivalen Joe Biden zu erhalten.

Trotz oder vielleicht sogar wegen des „Ukrainegates“8 haben Kiew und Washington einen neuen Liefervertrag für Javelin-Panzerabwehrraketen abgeschlossen und Kiew bekommt militärische Hilfe im Wert von 300 Millionen US-Dollar.

Angesichts der abwartenden Haltung Russlands stellt sich die Frage, welches Ziel Moskau verfolgt. Es hat sich seit 2014 nicht geändert: Russland will die Ukraine daran hindern, sich der euroatlantischen Gemeinschaft anzuschließen, vor allem aber soll sie nicht Nato-Mitglied werden. Bisher schien Putin davon auszugehen, dass er seinen Einfluss auf die ukrainische Innenpolitik bewahren könne, wenn die Separatistengebiete re­inte­griert würden, aber einen Sonderstatus behielten.

Ob er diesen Kurs noch verfolgt, ist völlig offen, nachdem er im Frühjahr 2019 beschlossen hat, im Donbass russische Pässe auszugeben. Das hatte er schon in den international nicht anerkannten Republiken Trans­nis­trien, Abchasien und Südossetien praktiziert, die sich von der Republik Moldau beziehungsweise Georgien abgespalten haben.

Bis Ende 2019 hatten rund 200 000 von 2 Millionen Einwohnern im Donbass einen russischen Pass erhalten oder beantragt.9 Das entfernt die Separatistengebiete noch weiter vom Rest der Ukraine und schafft eine kontrollierte Instabilität, die ausreicht, um einen Nato-Beitritt zu vereiteln.

Nur wenn die Nato offiziell darauf verzichtet, die Ukraine aufzunehmen – was derzeit unwahrscheinlich ist –, könnte Moskau dafür sorgen, dass sich die Donbass-Gebiete in die Ukraine reintegrieren lassen. Alle anderen Szenarien, etwa dass die Ukraine auf ihren assoziierten Status in der Nato oder auf Donezk und Luhansk verzichtet, erscheinen noch illusorischer. Wenn sich der Status quo nicht ändert, hätte Präsident Macron mit seiner diplomatischen Offensive genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte: Das Normandie-Format würde den Konflikt nicht lösen, sondern à la longue dazu beitragen, dass er einfriert.

1 Siehe Nikita Taranko Acosta, „Ukrainisch für Anfänger“, LMd, Mai 2019.

2 Arkady Moshes, „The Normandy Summit on Ukraine: no winners, no losers, to be continued“, FIIA Comment, Nr. 14, Finnish Institute for International Affairs, Helsinki, Dezember 2019.

3 „Die Ukraine will die Rentenzahlungen für die Bewohner des Donbass wieder aufnehmen“ (Russisch), Nesawissimaja Gaseta, Moskau, 25. September 2019.

4 „Disengagement: OSCE is monitoring how sides in eastern Ukraine deliver on agreement“, OSZE, 19. Oktober 2016.

5 „Sommet de Paris en format ,Normandie‘“, Élysée, Paris, 9. Dezember 2019.

6 Umfrage bei einer repräsentativen Gruppe der ukrainischen Bevölkerung, Krim und Donbass ausgenommen. Fabrice Deprez, „Ukraine remains split over how to achieve peace in contested Donbas region“, Public Radio International, 6. November 2019.

7 „Selenski verlangt die Grenzkontrolle vor Wahlen im Donbass“ (Russisch), Rossiya Segodnia, Moskau, 10. Dezember 2019

8 Siehe Aaron Maté, „Schlammschlacht in Washington“, LMd, November 2019.

9 „Die Zahl der russischen Staatsbürger in der LNR ist bekannt“ (Russisch), Lenta, 13. November 2019.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Igor Delanoë ist Historiker und stellvertretender Leiter des französisch-russischen Beobachtungsdienstes in Moskau.

Le Monde diplomatique vom 13.02.2020, von Igor Delanoë