Schlaraffenland ist abgebrannt
Die Krise ist auch in Dänemark angekommen von Jean-Pierre Séréni
Von außen betrachtet, herrschen im dänischen Wohlfahrtsstaat traumhafte Verhältnisse: landesweit garantierte Krippenplätze ab einem Alter von sechs Monaten; kostenfreies Gesundheitswesen; flächendeckende häusliche Pflege für alte Menschen; nach dem Schulabschluss fünf Jahre staatliche Ausbildungsförderung plus ein bezahltes Sabbatjahr, damit die jungen Leute für eine Weile ins Ausland gehen oder – was häufiger vorkommt – sich auf die Aufnahmeprüfung an der Uni vorbereiten können.
Doch seit der Krise bezweifeln die Dänen, dass das so bleiben wird. Vor allem fragt man sich, ob die im eigenen Land und in ganz Europa so viel gepriesene „Flexicurity“ als Wundermittel gegen Arbeitslosigkeit und gegen eine Rezession taugt, wie sie Dänemark zuletzt in den 1930er-Jahren erlebte.
Der Begriff Flexicurity bezeichnet ein System, von dem beide Seiten gleichermaßen profitieren sollen – zumindest auf dem Papier: Flexibilität für den Arbeitgeber, Sicherheit für den Arbeitnehmer. Wie in den USA und Großbritannien können dänische Chefs ihre Beschäftigten ohne Abfindung oder Sozialplan entlassen. Dafür gibt es mindestens vier Jahre lang Arbeitslosengeld, Fortbildungsangebote und sogar Fitnesstraining im behördeneigenen Studio, wie zum Beispiel beim Arbeitsamt Sydhavnen in Kopenhagen. Bis vor kurzem funktionierte das System so gut wie reibungslos, mit einer verschwindend niedrigen Arbeitslosenquote.
Mogens Lykketoft war unter der 2001 abgewählten Mitte-links-Regierung Finanzminister. Er ist der Erfinder der Flexicurity und hält sie nach wie vor für ein Erfolgsmodell: „Die Unternehmen stellen weniger zögerlich ein, weil sie wissen, dass sie überzähliges Personal bei Bedarf fristlos und ohne weitere Kosten wieder abbauen können.“ Als das System 1994 eingeführt wurde, gab es 300 000 Arbeitslose (eine Quote von 10 Prozent), sieben Jahre später waren es 100 000 und im Juni 2008, bevor die Krise auch den Ostseeraum einholte, sogar nur noch 47 000.
Das dünn besiedelte Dänemark mit seinen 5,6 Millionen Einwohnern gilt als Arbeitgeberparadies, wie die International Management School (IMD) in Lausanne nach einer Umfrage unter 4 000 Führungskräften in 57 Ländern für das World Competitiveness Yearbook 2009 herausfand: eine wirtschaftsliberale Regierung, ein gutes Geschäftsklima und sozialer Frieden. Der Kandidat erreichte 100 Punkte – Deutschland bekam 52,6 und Frankreich sogar nur 28,4. Auch im US-Magazin Forbes stand im März dieses Jahres, dass Dänemark noch vor den USA „the best country for business“ sei.
Eine Studie der Brüsseler Stiftung Eurofound1 aus dem Jahr 2006 stellte fest, dass Arbeitnehmer in Dänemark im Vergleich zu allen anderen 27 EU-Staaten besonders zufrieden sind. Kein Wunder, schließlich herrschte zu diesem Zeitpunkt fast Vollbeschäftigung, die Gehälter stiegen (um 4 Prozent in den Jahren 2007/2008), und Jobhopping war weit verbreitet und auch kein Problem. „Das Flexicurity-Konzept entstand in einer Wachstumsphase. Das ist sicher einer der Gründe für seinen Erfolg“, meint Holger K. Nielsen, Vorsitzender der Sozialistischen Volkspartei. Seine Partei steht links von den Sozialdemokraten und schnitt bei den vorangegangenen Europawahlen ganz gut ab (siehe Kasten).
Keine Servietten mehr für die für die Matrosen von Mærsk
Die dänische Wirtschaft ist stark exportabhängig – 2007 wurde die Hälfte des Bruttoinlandprodukts im Außenhandel erwirtschaftet – und ist deshalb besonders anfällig bei einer Rezession diesen Ausmaßes, stellte auch die Konzernleitung von A. P. Møller-Mærsk fest, dem größten Unternehmen des Landes, das zugleich weltweit die Nummer eins im Containertransportgeschäft ist. „In den Verhandlungen mit den Gewerkschaften ist der Außenhandel das Gesprächsthema Nummer eins“, erklärt Klaus Rasmussen von der Danish Industry, der wichtigsten Arbeitgeberorganisation. Die Exporterlöse sind um rund 20 Prozent innerhalb eines Jahres zurückgegangen. Jeden Monat melden weitere Unternehmen Konkurs an. Besonders spektakulär war die Pleite des Billigfliegers Sterling Airways, dessen 29 Flugzeuge nun am Boden stehen.
Die Unternehmen, nicht nur in der Luftfahrt, treten auf die Bremse, sprechen Kündigungen aus und sparen an allen Ecken und Enden (so gibt es seit dem 1. Januar für die Matrosen auf den 500 Schiffen der Reederei Mærsk keine Papierservietten mehr). Die Zahl der Arbeitslosen hat sich binnen eines Jahres auf 107 000 im Juli 2009 mehr als verdoppelt.
Das öffentliche Bauwesen ist besonders schwer betroffen. 13 Prozent der Bauarbeiter (doppelt so viele wie im Vorjahr), 27 Prozent der Maurer und 13 Prozent der Maler haben laut dem Dänischen Gewerkschaftsverband Fagligt Fælles Forbund, der selbst seit Januar 4 Prozent seiner Mitglieder eingebüßt hat, ihren Job verloren. Auf eine Stellenanzeige als Empfangschef irgendwo in der Provinz bewarben sich kürzlich 900 Personen. Innerhalb von acht Monaten hat sich nach Angaben des dänischen Arbeitsamts die Zahl der Arbeitslosen unter 24 Jahre vervierfacht. Und darunter fallen nur diejenigen, die Unterstützung aus einer der dreißig Kassen erhalten, die an eine Gewerkschaft gekoppelt sind.
In Dänemark wie auch in Schweden gilt nach wie vor das hundert Jahre alte „Genter-System“2 einer freiwilligen und gewerkschaftsnahen Arbeitslosenversicherung. Während des Wirtschaftsbooms und in den Zeiten fast durchgehender Vollbeschäftigung um die Jahrtausendwende hielten es viele Jugendliche nicht für nötig, sich gegen Arbeitslosigkeit zu versichern. In der Folge standen Ende des ersten Quartals 2009 rund 16 000 Jugendliche ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld auf der Straße und müssen heute mit der knapp bemessenen Sozialhilfe auskommen, während nur etwa 5 300 junge Arbeitslose versichert sind.
Die Tarifverhandlungen, die im März begonnen haben, verheißen nichts Gutes. Von Arbeitgeberseite verlautete, dass jeder zweite Beschäftigte im Jahr 2009 keine Gehaltserhöhung bekommen werde und mehr als ein Drittel mit dem gleichen Stundensatz zu rechnen habe wie bisher. Nach Einschätzung des Wirtschaftsrats, einer öffentlichen, aber unabhängigen Institution, werde die Kaufkraft um rund 2 Prozent sinken. Viele junge Familien haben sich, als alles noch gut lief, für ein Eigenheim verschuldet (zwei Drittel der Dänen besitzen die Wohnung oder das Haus, in dem sie wohnen) und sind jetzt besonders stark betroffen von der Krise. Im Mai dieses Jahres erreichte die Zahl der Zwangsversteigerungen den höchsten Stand seit fünfzehn Jahren.
Nach Angaben der Danske Bank, der größten Bank im Land und der zweitgrößten innerhalb Skandinaviens, werden die seit 2007 fallenden Immobilienpreise allein im Jahr 2009 um fast 10 Prozent bei Häusern und um 20 Prozent bei Wohnungen sinken.3 In Europa verzeichnen nur Großbritannien und Irland einen größeren Wertverlust. Der junge Finanzminister Kristian Jensen, die drittwichtigste Figur in der Regierung, bleibt bislang hart. Das Kabinett wird nichts für die Immobilienbesitzer tun. „Sollen sie doch selbst schauen, wie sie klarkommen“, heißt es hinter den Kulissen. Die Mitte-rechts-Regierung muss sich jetzt vor allem mit den Ausgaben beschäftigen. Nach Berechnungen der Regierung aus der Zeit vor der Krise werden im Jahr 2015 rund 15 Milliarden Kronen (2 Milliarden Euro) in der Staatskasse fehlen.
Der „Wirtschaftsplan 2015“ basierte auf einer unrealistischen Strategie – er sah weder Steuererhöhungen noch Absenkungen der Leistungen vor – und hielt der Rezession nicht stand. Die Steuerreform, die nun am 1. Januar 2010 in Kraft treten soll, sieht einerseits eine Senkung der direkten Steuern vor und schiebt andererseits den Termin für eine Erhöhung der „grünen Steuer“ – auf Strom, Heizung, Abwasser, Lkws, Taxis und andere Verursacher von Treibhausgasen – zur Gegenfinanzierung auf die lange Bank. Doch früher oder später müssen die Haushalte damit rechnen, die ohnehin schon unter einer Mehrwertsteuer von 25 Prozent stöhnen. Die vorgesehene jährliche Steuerentlastung von etwa 100 Euro pro Erwachsenem und 40 Euro pro Kind ist da nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Diese seltsame Steuerreform, von den Wählern der rechten Parteien begrüßt, rüttelt an den Grundfesten des dänischen Wohlfahrtsstaats. Sie soll vor allem die wacklige Konjunktur stützen, indem sie die Unternehmen um 15 Milliarden Kronen (mehr als 2 Milliarden Euro) im Jahr 2010 und 8 Milliarden Kronen (1,1 Milliarden Euro) im folgenden Jahr entlastet. Im Übrigen handelt die Regierung nach dem Motto: nach uns die Sintflut. Die nächsten Parlamentswahlen finden spätestens im November 2011 statt.
Die Regierung unter Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen – eine Koalition aus der rechtsliberalen Venske Partei und der Konservativen Volkspartei – verfügt über keine Mehrheit im Folketing, dem Parlament. Ihr fehlen genau 25 Stimmen. Mehrheitsbeschafferin ist regelmäßig die rechtspopulistische Dänische Volkspartei (DF), die ungeniert eine fremden- und europafeindliche Stimmung schürt und gleichzeitig noch als Interessenvertreterin der Rentner auftritt. Für den 28-jährigen Morten Messerschmidt, Spitzenkandidat bei den Europawahlen vom 7. Juni, ist die Einwanderung die größte Bedrohung des dänischen Modells: „Wir müssen es schützen, weil unser Land so klein ist und wir eine besondere Identität haben“, erklärte er anlässlich einer abendlichen Wahlveranstaltung, zu der das konservative Traditionsblatt Berlingske Tidende geladen hatte. Am 7. Juni bekam kein anderer von den dänischen Kandidaten so viel Wählerstimmen wie Messerschmidt.
Seine Partei kann auch ohne eigenen Minister mitregieren. In Dänemark bestimmt nämlich immer noch das Parlament die Richtlinien der Politik. Sämtliche Entscheidungen fallen im Folketing und seinen 25 Ausschüssen, die die Minister eins zu eins umzusetzen haben. „Bei den Treffen in Brüssel muss sich der dänische Minister genau an die Vorgaben halten und sich jede Änderung wieder von seinem Ausschuss absegnen lassen“, erklärt Gunnar Rieberholdt das dänische System. Rieberholdt war dänischer Botschafter in Paris und ist einer der Architekten des EU-Beitritts der drei baltischen Staaten im Jahr 2004.
Als Zünglein an der Waage hetzt die Dänische Volkspartei im Parlament gezielt gegen die rund 400 000 Einwanderer und Dänen mit muslimischem Hintergrund aus der Türkei, Pakistan oder Somalia, die Ende der 1960er-Jahre als politische Flüchtlinge ins Land kamen.
Und sie greift zu gezielten Provokationen: So bestand die DF einmal partout darauf, dass in den Schulkantinen das Hähnchenfleisch durch original „dänisches“ Schweinefleisch ersetzt wird. Die rechtspopulistische Partei verfolgt vor allem ein Ziel: Einwanderern soll der Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen erschwert werden. Seit 2002 verliert beispielsweise die Ehefrau eines Migranten ihren Anspruch auf Sozialhilfe, wenn sie in den vergangenen zwei Jahren nicht mindestens 300 Stunden gearbeitet hat. Damit, so die DF, unterstütze man die Befreiung der von ihren Männern unterdrückten muslimischen Frauen. Um sie noch ein bisschen mehr zu befreien, plant die Regierung jetzt eine Ausweitung dieser Mindestanforderung auf 450 Stunden. Von der neuen Regelung sind vor allem kürzlich eingewanderte Migranten betroffen. Jedes zehnte Kind aus diesen Einwandererfamilien lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Es ist nicht einfach, dänischer Staatsbürger zu werden. Erst nach neun bis zehn Jahren Aufenthalt kann überhaupt ein Antrag auf Einbürgerung gestellt werden. Und die Sprachprüfung ist in Dänemark ausgesprochen anspruchsvoll. Seit 2002 wurden die Anforderungen an die Dänischkenntnisse auf Betreiben der DF zudem noch viermal verschärft. Wie hoch die Hürden inzwischen gesetzt wurden, illustriert ein Blindtest unter dänischen Abiturienten, den die Berlingske Tidende initiiert hatte. Er führte zu dem Ergebnis, dass jeder Zweite durch den Sprachtest durchgefallen wäre.
Auch die Familienzusammenführung wurde erschwert: Ehepartner dürfen erst nachkommen, wenn sie mindestens 24 Jahre alt sind und wenn sich „eine stärkere Bindung an Dänemark als an das Herkunftsland“ nachweisen lässt. Mit jeder Maßnahme, die nach außen hin Entschiedenheit und Stärke vermitteln soll, weist die Regierung den Einwanderern einen Status zu, der fast schon an den der Metöken im antiken Griechenland erinnert, die zwar Steuern zahlen durften, aber keine Bürgerrechte besaßen.
Ravi Chandran, der 1992 aus Singapur kam, ist heute Vorsitzender eines Vereins, der sich um Dänen mit Migrationshintergrund kümmert, die an Aids erkrankt sind: „Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Dänemark ist ihre Heimat; sie wüssten nicht, wo sie sonst hingehen sollten. Sie hören ihre Eltern darüber klagen, wie schlecht sie hier behandelt werden. Sie sehen im Fernsehen, wie der gewaltsame Tod eines Dänen für Empörung sorgt, aber der Tod von anderen ignoriert wird. Sie selbst haben das Gefühl, ständig gegen eine unsichtbare Wand zu rennen. Und manchmal macht sich dieser Frust Luft, wie im Februar 2008 in Nørrebro.“4 Lally Hoffmann, Starjournalistin beim öffentlichen Sender TV2 und spezialisiert auf außenpolitische Themen, ist entsetzt über dieses Klima der Intoleranz: „Ich erkenne das Dänemark meiner Kindheit nicht wieder, sein Ansehen in der Welt ist bedenklich gesunken.“
Wahlen gewinnen mit ausländerfeindlichen Parolen
Als Ende September 2005 Dänemarks auflagenstärkste Tageszeitung, der Jyllands-Posten, zwölf Karikaturen über Mohammed veröffentlichte, kam es wegen des Bilderverbots nicht nur in zahlreichen muslimischen Ländern zu heftigen Protesten, sondern es wurde auch zum ersten Mal außerhalb der Grenzen Dänemarks wahrgenommen, welch großen Einfluss die rechtspopulistische DF auf die Regierung hat. „Das Problem war aber eigentlich nicht so sehr die Veröffentlichung der Karikaturen selbst, sondern dass sich der damalige Ministerpräsident und heutige Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen monatelang weigerte, die muslimischen Botschafter aus zwölf Ländervertretungen in Kopenhagen zu empfangen“, erklärt Tøger Seidenfaden, Chefredakteur von Politiken, einer eher linksliberalen Tageszeitung, die in Sachen Zuwanderung und Umgang mit Minderheiten traditionell liberale Positionen vertritt. „Erst danach hat sich die Krise international ausgeweitet, bis sie völlig außer Kontrolle geriet.“
Rasmussens Weigerung war bewusst kalkuliert. Auch wenn er damals davon sprach, dass hier das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigt werden müsse, dann war das nur ein ziemlich durchsichtiger Versuch gewesen, um zu vertuschen, was in den politischen Kreisen Kopenhagens längst ein offenes Geheimnis war: Die einflussreiche DF-Vorsitzende Pia Kjærsgaard, die seit 1984 im Folketing sitzt, hatte gegen den Empfang der Botschafter ihr Veto eingelegt.
Der Rechtsruck macht der Linken schwer zu schaffen. Sozialdemokraten, Linkssozialisten und Sozialliberale haben sich zwar darauf geeinigt, dass sie ein Regierungsbündnis eingehen würden, aber nach drei Wahlschlappen innerhalb von acht Jahren zögern sie, die fremdenfeindliche Politik der Parlamentsmehrheit entschlossener anzufechten. „Die Regierung hat die Wahlen mehrfach gewonnen, nachdem sie uns im Wahlkampf als Ausländerfreunde hingestellt hat“, klagt Mogens Lykketoft, der den Vorsitz bei der Sozialdemokratischen Partei nach der Wahlniederlage vom November 2007 abgeben musste. „Die Dänen haben vergessen, dass wir in sozialen Fragen immer aktiver waren als die Rechten. Das müssen wir ihnen wieder besser vermitteln.“
Sozialneid von oben
Stellt sich die Frage, ob das dänische Modell wie in den 1960er-Jahren überhaupt noch Konsens ist, nachdem das Land so ungewöhnlich schnell zu Wohlstand gelangte. „Innerhalb von zwei Generationen wurde aus einer öden Sandbank am Rande Europas ein Schlaraffenland“, schreibt Knud J. V. Jesperen, offizieller Hofhistoriograf Königin Margrethes II., in seinem Klassiker über die Geschichte Dänemarks.5 Die Vorstellung, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, ist nicht mehr selbstverständlich. Es gibt inzwischen so etwas wie einen Mittelschichtsegoismus. Man will nicht mehr „für die anderen bezahlen“ und fordert dafür lauthals Steuersenkungen.
Mit der Steuerreform haben sie schon ein wenig Genugtuung erhalten. Aber das reicht ihnen nicht. Ende Mai protestierten 98 Bürgermeister gegen die geplante Steuerumverteilung, bei der die reicheren Kommunen den ärmeren unter die Arme greifen sollten. Im dänischen Sozialstaat wird das meiste auf kommunaler Ebene geregelt: Krippe und Kindergarten, Schule, Altenhilfe, Arbeit und Kultur.
Vierzig Kommunen forderten eine Senkung ihres Solidaritätsbeitrags. 27 Bürgermeister ärmerer Kommunen lehnten diesen Vorstoß empört ab. Die wohlhabende Stadt Rudersdal, wo das Pro-Kopf-Einkommen doppelt so hoch ist wie in Kopenhagen, hat angekündigt, nicht zu zahlen. Das Dänische Zentrum für Politik (Cepos) oder das Copenhagen Institute, Filialen neokonservativer Thinktanks aus den USA, die Steuersenkungen als Allheilmittel propagieren, haben großen Einfluss auf die Regierung in Kopenhagen.
Die Unternehmen sind Nutznießer dieser Steuerdebatte. Die Steuer auf Unternehmensgewinne wurde inzwischen auf 25 Prozent gesenkt. Es gibt faktisch so gut wie keine Kapital- und Vermögensteuer. Die Hauptlast tragen im Wesentlichen die Privathaushalte über extrem hohe indirekte Steuern, deshalb ist Dänemark auch so teuer.
Da weder die Rechte noch die Linke den Privathaushalten noch mehr abverlangen wollen, ist ein Abbau der sozialstaatlichen Leistungen über kurz oder lang absehbar. So plante die Regierung bereits jetzt, die Dauer des Arbeitslosengelds von vier auf zwei Jahre zu kürzen, nachdem seine Höhe schon im Jahr 2006 bei 2 000 Euro monatlich gedeckelt wurde. Wegen der Krise hat die Regierung das Vorhaben vorläufig verschoben. „Es ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eine solche Reform“, meint Klaus Rasmussen vom Arbeitgeberverband Confederation of Danish Industry.
Es gibt ja noch andere Möglichkeiten zu sparen, wenn man die Sozialleistungen nicht kürzen kann – nämlich auf der anderen Seite der Flexicurity: der Sicherheit des Arbeitsplatzes. „1993 gab es einen ideologischen Bruch“, erklärt Professor Jørgen Goul Andersen von der Universität Aalborg. „Die soziale Sicherheit ist seither nicht mehr das Thema Nummer eins. Im Mittelpunkt steht stattdessen die Senkung der strukturellen Arbeitslosigkeit.“ An den Bezug von Arbeitslosengeld sind zahlreiche Bedingungen geknüpft: mindestens vier Bewerbungen pro Woche, Teilnahme an Fortbildungen, Pflichttermine beim Jobvermittler, Bereitschaft zum Wohnort- und Berufswechsel.
Das sogenannte aktivering, das Aktivierungsprogramm für Arbeitslose, ist zwar mühselig, aber in der Regel finde jeder eine Stelle, bevor das Programm ausgelaufen sei, meint Jørgen Goul Andersen. Die sozialdemokratischen Initiatoren dieser Maßnahme wollten Arbeitslosen damit die Möglichkeit geben, sich umzuorientieren, ohne in eine längere Phase der Beschäftigungslosigkeit zu geraten. Heute entpuppt sie sich als eine Art List, um Arbeitslose dazu verpflichten, möglichst rasch und ohne viel Aufhebens die erstbeste Stelle anzunehmen. Das Ganze hat etwas zutiefst Abschreckendes. Wenn man nach drei Monaten Aktivierungsprogramm sich weigert, eine Stelle anzutreten, in der man nicht arbeiten möchte, in eine Stadt umzuziehen, wo man nicht leben möchte, oder das Gefühl hat, mit dem zukünftigen Chef nicht zusammenarbeiten zu können, entfällt der Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. Soll also das dänische Modell des Welfare-Staats nun durch das Prinzip des Workfare, eines sanften Arbeitszwangs, abgelöst werden?
Jean-Pierre Séréni ist Journalist.