Die Kulturrevolution
Peking am 1. Oktober 1966, dem siebzehnten Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China. Auf dem Tiananmen-Platz vor den Toren der Verbotenen Stadt defilieren zwischen eineinhalb und zwei Millionen Rotgardisten an der Tribüne vorbei. In Sprechchören bringen sie ihre Unterstützung für die Kulturrevolution und ihren „Vorsitzenden“ zum Ausdruck.
Umgeben von den später „Viererbande“1 genannten Leuten setzt der alternde und seit dem gescheiterten „Großen Sprung nach vorn“2 geschwächte Mao einiges daran, um mithilfe seines Propagandaapparats und der Armee unter Führung von Lin Biao die Macht zurückzuerobern. An der Partei und den Institutionen vorbei wendet er sich im Namen der Revolution und des Kampfs gegen Bürokratie, Mandarinat und bourgeoise Dekadenz direkt an die junge Generation und versucht, alle Überbleibsel der Vergangenheit wegzufegen. Dem „Großen Steuermann“ geht es dabei auch darum, die drohende „Entwicklung sowjetischen Typs‘“ abzuwenden und den „chinesischen Weg“ der Revolution weiter zu verfolgen.
„Feuer frei auf das Hauptquartier!“ Welche Jugend würde sich einer solchen Aufforderung widersetzen? Eine Aufforderung an das ganze Land, aber auch eine durch die zunehmende Kritik an bestimmten Führungskräften3 sorgfältig vorbereitete Manipulation. Seit Frühjahr 1966 hatten begeisterte Schüler und Studenten mit Märschen, Slogans, Trommeln und Zymbalen mobilgemacht – es war der Anfang der großen Inszenierungen und Paraden. Die graue, topfebene Stadt wurde von Rot überzogen. Im Herbst gab es gigantische Aufmärsche in der Chang’an-Straße und auf dem Tiananmen-Platz, wo Mao achtmal Millionen Jugendliche aus dem ganzen Land „empfing“, die gekommen waren, um ihm ihre Verehrung zu bezeugen. Allgegenwärtig, auswendig gelernt und im Chor vorgetragen, bestimmt das Kleine Rote Buch, in dem die „Gedanken des Präsidenten Mao“ stehen, das Verhalten sowie die Hoffnungen und Ziele der Menschen.
Aber dieser 1. Oktober ist besonders. Keine Militärparade, keine blumengeschmückten Panzer oder farbenfrohe Darbietungen, stattdessen stundenlang nichts als der ununterbrochene Marsch der Roten Garden. Blaue oder kakifarbene Jacken mit Armbinde, weiße Hemden; Frauen in Hosen, die ihre Zöpfe schon abgeschnitten haben. Alle schwingen im Takt der Sprechchöre das Kleine Rote Buch – ein gigantisches rotes Meer, über dem ebenfalls rote Fahnen und Transparente flattern. Wer das sieht, behält den Eindruck einer Endlosschleife in Erinnerung.
Der 30-Prozent-Irrtum des Mao Tse–tung
Doch schon bald kommt es zu Exzessen und Denunziationen, Gewalttätigkeit und Chaos. Nach dem mörderischen Jahr 1967 wird die Armee eingeschaltet, um der Unruhe ein Ende zu setzen. Millionen von Studenten werden aus den Städten aufs Land geschickt, wo sie „umerzogen“ werden sollen, auf dass sie künftig das „richtige Wort Maos“ in die Welt tragen. Auf diese Weise sollte dem Aufruhr der sogenannten Generation gebildeter Jugendlicher4 Einhalt geboten werden. Exil, auseinandergerissene Familien, gebrochene Leben … Was folgte, ging als die „zehn katastrophalen Jahre“ in die Geschichte ein.
1949 musste ein rückständiges Land wachgerüttelt werden. Die elementaren Bedürfnisse konnten nicht befriedigt werden, die stark wachsende Bevölkerung5 litt unter ständiger Hungersnot. In dieser Situation haben die „Barfußärzte“ viel beigetragen, um auch in abgelegenen Ortschaften einfache Hygienemaßnahmen und eine medizinische Grundversorgung einzuführen.
In Sachen Gesundheitswesen, Alphabetisierung, Schulbildung und Gleichberechtigung der Frauen ist damals einiges erreicht worden. Durch brutalen sozialen und politischen Druck gelang es, übliche Praktiken wie Diebstahl, Glücksspiel, Prostitution und Korruption weitgehend auszumerzen. Diese wenigen Jahrzehnte des „revolutionären“ China, die zwischen dem jahrtausendealten Reich der Mitte und dem Ende des 20. Jahrhunderts einsetzenden Kampf um den Status einer Weltmacht lagen, markieren einen der radikalsten Brüche, den die Welt je erlebt hat, erst recht in einer solchen Größenordnung.
Noch vor vierzig Jahren war dieser Staat mit seinen damals 600 Millionen Menschen von den Vereinten Nationen völkerrechtlich nicht anerkannt.6 Ausgeblutet nach einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg und dem Druck der Westmächte und Japans ausgesetzt, stand China Mitte des 20. Jahrhunderts gedemütigt und isoliert da, es gehörte zu keinem der verfeindeten Blöcke der bipolaren Welt. Das erklärt zu weiten Teilen den heutigen Nationalismus, den neu entdeckten, gelegentlich übertriebenen Stolz und die Aura, die den großen Vorsitzenden bis heute umgibt. Nach seinem Tod erklärte die Kommunistische Partei, dass Mao zu siebzig Prozent richtig und zu dreißig Prozent falsch gelegen habe – eine lapidare Formel, die es seinen Nachfolgern ermöglicht, sich an der Macht zu halten und jede Diskussion über ihre eigene Legitimität im Keim zu ersticken.
Im Nachhinein gilt die Kulturrevolution als die große nationale Katastrophe. Offiziell bekam die Viererbande die Verantwortung in die Schuhe geschoben, wodurch die Rolle des „Großen Steuermanns“ im Unklaren bleibt. Deng Xiaoping hat jene Zeit als Negativbeispiel angeführt, um seine Politik der Öffnung zur Marktwirtschaft zu rechtfertigen. Er ging sogar so weit, die Forderungen der nachfolgenden Generation durch Repression zu unterdrücken, als diese sich nicht mehr mit der Parole „Bereichert euch!“ abspeisen lassen wollte.7 Solange Brand
Aus dem Französischen von Eliane Hagedorn