Genossen, Bürger, Rebellen
Identitätsentwürfe im chinesischen Roman von Shi Ming
Von sechs Uhr nachmittags bis tief in die Nacht wurde der Thread im Internetforum „Jugendthema“ bei www.cyol.net immer facettenreicher: „Man muss auch was vom Kaffeetrinken verstehen“, schrieb jemand mit einem weiblich klingenden Nickname. Kaffeetrinken ist eins von mehr als hundert Merkmalen, die bei dieser Diskussion 1999 zusammengetragen wurden und nach denen unterschieden wurde, wer zur „petite Bourgeoisie“ (xiaozi) in China zu rechnen sei und wer nicht. Zu den Wesenszügen des schicken „Kleinbürgertums“ gehörten vor allem Sentimentalität, umschrieben als „Empfindsamkeit“, und ein genussvoller Lebensstil. Zu den Ausschlusskriterien zählte die Bereitschaft, sich über öffentliche Belange aufzuregen, vor allem politische. Wer sich fürs Gemeinwohl engagiert, erhielt die Gruppenbezeichnung „wütende Jugend“ (fenqing), egal wie alt er oder sie sein mochte.
Kaum jemand von den tausenden Teilnehmern an dem Forum hat in den folgenden drei Monaten je danach gefragt, woher diese Stereotype kommen; und kaum einer der zumeist jungen Netizen wusste, dass die aufgelisteten Merkmale der beiden Gruppen xiaozi und fenqing nahezu identisch dem Revolutionsroman „Das Lied der Jugend“ aus den 1960er-Jahren1 entlehnt sind:
In diesem Roman erzählt die Autorin Yang Mo von einem sentimentalen, gütigen Mädchen namens Lin Daojing, das ein auf ästhetischen Genuss gerichtetes, urban beschauliches Leben führt. Daojing verliebt sich in einen europäisch geprägten, melancholischen Akademiker und entdeckt bald, wie hohl, falsch und egoistisch dieser Kleinbürger in Wirklichkeit ist. Und gut maoistisch erfährt die tief Enttäuschte durch eine neue Liebe zu einem Revolutionär ihre seelische Wiedergeburt und mausert sich im gemeinsamen Kampf zur Idealfigur einer für Gerechtigkeit einstehenden, wütenden und allen Belanglosigkeiten entsagenden Jugend.
Die Umkehrung der Werte über dreißig Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution scheint auf den ersten Blick logisch. 1999 gab es in China schon seit Jahren die kapitalistische Reform und für Chinas Intellektuelle galt das neue Credo: Alles ist erlaubt, nur keine Revolution mehr.
Gerade das brutale Ende der friedlichen Studentenbewegung von 1989 legte nahe, dass kollektive Revolutionsversuche jedweder Couleur hoffnungslos seien, zudem untauglich für die Ausprägung von Individualität. Es verwundert also kaum, dass zehn Jahre nach dem nationalen Trauma vom Platz des Himmlischen Friedens erste Stimmen laut wurden, die den – erzwungenen – Rückzug ins Private als selbstbewusste Suche verklärten. Kein Revolutionär sein hieß: Niemand soll sich mehr für das Gemeinwohl ins Zeug legen.
Das Private, das mit dem ersten materiellen Wohlstand auch bezahlbar wurde, bekam den Heiligenschein des bürgerlich Individuellen verliehen. Jedenfalls im Internet. Dort präsentierten sich Angehörige des xiaozi als individualistische Einzelkämpfer, profiliert durch ihre spezielle Automarke, ihre spezielle Weinsorte, ihre speziell wechselnden Liebes- beziehungsweise Lustentscheidungen und überhaupt Spezielles in allen Aspekten des Lifestyles; jeder für sich und fast schon autistisch auf sich selbst bezogen.
Wie ein Gegenentwurf zu Yang Mos revolutionärem „Lied der Jugend“ mutet der Sittenroman „Shanghai Baby“2 an, der im Jahr 1999 erschien, als die Netizen eifrig ihr xiaozi-Gruppenbild im Internet designten. Akribisch listet die Autorin Wei Hui darin auf, worauf ihre Heldin, eine auf Sex fixierte Emanze, stolz ist. Vor allem sind das Utensilien, die ihr letzter Liebhaber, ein Deutscher mit ungestümer Libido, hinterließ: eine Dose Nescafé, eine Zigarillo-Etui aus argentinischem Kalbsleder, eine Ikea-Sitzgarnitur und so weiter.
Doch diese Internetdebatte samt ihrer literarischen Radikalisierung qua Skandalroman gehört bereits der Vergangenheit an. Kaum jemand bezeichnet sich noch gern als xiaozi, obwohl das Gegenbild der fenquing erhalten blieb. Leidenschaftlich attackierten diese 2008 die westlichen Medien wegen der Berichterstattung über den Olympia-Fackellauf. Die „Bourgeoisie“ nahm kaum Anteil an der massiv bekundeten politischen Passion – bis Vertreter der „wütenden Jugend“ anregten, die französische Supermarktkette Carrefour in China zu boykottieren. Prompt kam die Ablehnung: Rote Fahnen in Paris entlang den Laufrouten schwenken, Droh-E-Mails an ausländische Korrespondenten in Peking schicken – das war irgendwie okay. Nicht mehr bei Carrefour shoppen zu gehen – das war zu viel, wenn man nicht zu den Vollidioten gehören wollte, die sich gegen eine urbane, zivilisierte Bürgerlichkeit stellten.
Das Verhältnis der KP zu beiden Identitätsbildern ist gespalten. Die Partei war schließlich ebenso Urheberin der nunmehr fast verachteten Revolution wie Urheberin für deren Ersatz: das materielle Aufstreben des Einzelnen und den nationalen Zusammenschluss. Auch wenn bereits 1991, nach dem August-Putsch in Moskau, die chinesische KP-Führung geschworen hatte, aus der Revolutionspartei eine Regierungspartei zu machen, auch wenn sie bis 1999 unter Jiang Zemin dreimal das US-amerikanische Forbes-Forum zum Thema „Wie werde ich reich“ ausrichten ließ: Aus dem Dilemma, einerseits die städtische Mitte als Machtbasis für sich zu gewinnen, ohne andererseits die ärmeren Schichten um Revolutionsverheißungen wie Gerechtigkeit zu prellen, kann sie nicht entkommen. Verstrickt in dieses Paradoxon, leidet sie als Kaderpartei zudem propagandistisch unter einem Mangel an glaubwürdigen Heldengestalten, die die Leistungen der Partei „verkörpern“, wie sie während der revolutionären Phasen – zumeist literarisch – produziert wurden. Was für Leistungen das sind und von welchen Charakteren sie dargestellt werden könnten, ist bis dato eine ungelöste Frage.
2004 startete das Chinesische Zentrale Fernsehen (CCTV) einen gewagten Versuch: Es betraute den bekannten Autor Eryue He damit, aus dem historischen Roman des taiwanesischen Schriftstellers Gao Yang „Hu Xueyan, Kaufmann mit roter Hutschleife“ ein Drehbuch für eine vierzigteilige Serie zu machen. Das vorsichtige Kalkül der KP-Propagandaabteilung: Es war ja nicht so, dass ein festlandchinesischer Schriftsteller, schon gar keiner mit Parteibuch, einen Antihelden gegen die marxistische Lehre kreieren sollte. Eryue He war nur Interpret. Im Zweifelsfall war eben der Taiwanese der Sünder.
Der Romanheld Hu Xueyan ist eine historische Figur, aber er lebte vor den Zeiten der ideologischen Revolutionen von 1927 bis 1949. Und ihm haftete nicht der Stallgeruch der Ausbeuterklasse an, denn der heldenhafte Kaufmann war kein reicher Erbe, sondern arbeitete sich vom Gehilfen eines Pfandleihers in die Position eines modernen Bankiers empor. Derart nach allen Seiten abgesichert, mixte Eryue He die passende Heldenidentität. Aus einem innerlich zerrissenen Besitzbürger à la Thomas Buddenbrook wurde ein durchtriebener Altruist. Nicht die Gier, sondern die Erkenntnis der sozialen Not motiviert nun Hu, nach Geld zu jagen. Nicht der Instinkt, mit dem jeder Bankier sein Tagesgeschäft gegen die Konkurrenz betreibt, beseelt ihn, sondern der Wunsch, das himmelschreiende Unrecht mit eigenen Waffen zu schlagen. Bei so viel „Leistung“ sei dem Helden ein wenig Extravaganz erlaubt – Protz, Konkubinen und Vetternwirtschaft. Am Ende scheitert der tragische Held, aber nicht, weil er sich verspekuliert hätte wie Thomas Buddenbrook mit seinem Getreide. Nein, Hu finanziert aus Patriotismus den kaiserlichen Krieg in Xinjiang gegen die rebellischen Uiguren, hinter denen russische Imperialisten stecken; sein Weggefährte, General Zuo, lässt den Kaufmann im Stich und zahlt das für den Sold der Soldaten geliehene Geld nicht zurück. Hu scheitert, so will’s der Maoismus, letztlich an Chinas gierigen Kapitalisten im Bunde mit noch gierigeren westlichen Geldhäusern, die in ihm das größte Hindernis sehen, den chinesischen Markt unter sich aufzuteilen.
Während die parteiideologische Unterhaltungsindustrie die „Leistungen“ der Neureichen mit hermeneutischer Akrobatik verkauft, tun sich die wahren Revolutionsautoren schwer. Etwa die Autorin Zhang Jie. Seit Anbeginn ihrer literarischen Laufbahn hat sie wider die Falschheit der Bourgeoisie und die Ausbeutung angeschrieben. Dieselben nun entsprechend dem schnelllebigen Zeitgeist wieder zu schätzen, fällt ihr schwer – zumal Chinas Intellektuelle um 2003 begannen, die „Erbsünde“ des Kapitalismus neu zu debattieren. Literarische Reportagen wie der „Bericht über Chinas Bauern“ (Chen Guidi und Wu Chuntao, 2000)3 und „Wovon soll sich unser Volk noch ernähren“ (Zhou Qing, 2004)4 deckten die Misere der neuen industriellen Gesellschaft auf: die Ausbeutung der Landbewohner oder die Lebensmittelskandale, an denen das Besitz- und Leistungsbürgertum nicht weniger beteiligt ist als der korrupte Parteiapparat.
Für Zhang Jie oder jemanden wie den ehemaligen Kulturminister und Romanschriftsteller Wang Meng wurde die Überzeugung, dass epische Fiktionen die gesellschaftliche Realität wie Seismografen widerzuspiegeln haben, zur Last. Zhang Jie hat nicht die Unverfrorenheit, die neue Bürgerlichkeit als Grundlage eines breiten Fortschritts zu feiern, und ebenso wenig wagt sie es, der Emanzipation von der Bürgerlichkeit, also der „Revolution“, treu zu bleiben. Mit ihrem Roman „Ohne ein einziges Zeichen“ (2006) gestaltet Zhang Jie5 die seelischen Wirren einer gespaltenen Persönlichkeit.
Ihre Romanheldin, die Schriftstellerin Wu Yun, längst von der Revolution desillusioniert, glaubt an die Emanzipation nach bürgerlichem Ideal: an die monogame Liebesehe, die allen Verführungen durch Geld oder Macht lebenslang standhielte. So, wie es einst das „Lied der Jugend“ gepredigt hatte. Doch ihr Mann, ein kriegserprobter Geheimdienstler der KP im Ministerrang, enttäuscht sie: Der hartgesottene Revolutionär neigt zu freier Liebe, ist ein Machtmensch und Macho. Im Laufe der kapitalistischen Wirtschaftsreform verblassen seine Verdienste zusehends.
Die Parabel ist komplex: Um die Bourgeoisie als Feind der alle befreienden Revolution zu qualifizieren, bemühten sich die Revolutionsautoren jahrzehntelang, das Bürgertum zu diskreditieren: als durch und durch bigott und wankelmütig. Der Antibürger hingegen bleibt standhaft, wenn nicht gar eisern, in der Liebe wie in der Revolution. Bis sie ihn zwingt, aus derselben Prinzipientreue heraus die Liebe aufzugeben.
In drei Bänden spart die Revolutionsautorin Zhang Jie nicht mit gut recherchierten Einzelheiten über die Gehirnwäsche, der sich Wu Yun und ihr Mann während der revolutionären Säuberungskampagnen unterziehen, auch im Zuge der Kulturrevolution. Die Revolution, findet die Romanheldin, zwingt ihre Helden zur Heuchelei. Wenn selbst der höchst vertrauenswürdige Geheimdienstler der KP als Ergebnis dieser Gehirnwäsche beim Tanzen keine Empfindungen für die in Hauchnähe schwebende Schönheit zeigt, sondern das richtige Gesicht für irgendeinen in der Nähe lauernden Aufpasser macht: Wäre nicht doch das Bürgerliche, das die Revolution mit solcher Strenge bekämpft, die wahre, freie Liebesempfindung ohne Posen? Jene Liebe mag egoistisch sein. Aber hat die in der Revolution inflationär missbrauchte Allegorie „die Liebe zur Revolution gleicht der ewigen Liebe zwischen Mann und Frau“ noch irgendetwas Freies, wenn diese Liebe besitzergreifend und notorisch-hysterisch wird, ähnlich wie die Revolution gegenüber Revolutionären? Auf diese Parabel mit Fragezeichen erhält Zhang Jies Romanheldin keine Antwort. Sie landet in der Psychiatrie.
Draußen – jenseits kleinbürgerlichen Internetgeflüsters, jenseits medial aufgepeppter Lobpreisungen des Besitzbürgertums und jenseits einer über das Sein oder Nichtsein wahrer Befreiung reflektierenden Revolutionsliteratur – formiert sich seit 2000 eine Alternativszene, die immer mehr den Anspruch erhebt, das Bürgerrechtliche als das eigentlich Bürgerliche zu zeigen. Aus der Perspektive der Revolutionsopfer jeglicher Couleur wird hier das unterdrückte Bürgerliche erzählt und neu erfunden. Doch auch die Opfer können sich auf keine verbindliche Gestalt des Bürgerlichen einigen.
Das Vergangene vergeht nicht wie Rauch
In einem Erzähl- und Essayband von 2004 zeichnet die Autorin Zhang Yihe6 die Lebensbilder von kulturellen und politischen Größen außerhalb der kommunistischen Bewegung nach. Zum Teil stark idealisierend beschreibt sie diese Elite als aufgeklärt, gebildet, kosmopolitisch und doch in der chinesischen Kultur tief verwurzelt: Diven der Peking-Oper, Kalligrafen, Siegelschneider, Maler oder Wissenschaftler pflegen in ihrer Umgebung eine kunst- und geistvolle Konversation. Das für sie Selbstverständliche aber bringt diesen Großbürgern viel Leid unter einem sie zutiefst demütigenden Zwangsregime.
In Zhang Yihes Memoiren findet sich keine Spur von der viel gescholtenen „Ausbeutung“. Hier wenden sich die Großbürger auch nicht von der sozialen Not in China ab. Im Gegenteil, sie suchen Anschluss an die Erneuerung Chinas, bieten sich unterwürfig als ideologisch umerziehbar und für die neue Gesellschaft nützlich an und geben sich größte Mühe, ihr Wesen zu begreifen. Am Ende lernen sie: Sie sind und bleiben Fremde, nicht mehr zu retten und doch gerettet. In gesicherter Verzweiflung dürfen und müssen sie sich nicht mehr beweisen, weder durch Eigentum, das ideologisch verfemt und ihnen sowieso genommen wurde, noch durch Leistung. Solange die Ausgegrenzten am Leben gelassen, solange sie nicht als Zielscheibe für die Massen hervorgezerrt werden, gehen sie ihren eigenen Dingen nach: Die Diven geben Privatkonzerte, Kalligrafen tauschen sich im kleinsten Kreis aus, dazu gesellen sich die Überreste der Mandschu-Aristokratie in stilvoll gestalteten Höfen, von denen es in der alten Hauptstadt Peking einst so viele gab.
Das Novum bei der Entdeckung des Großbürgertums als Opfer der Revolution ist nicht allein seine charakterliche Rehabilitierung. Bei Zhang Yihe verstecken die Großbürger auch ihre politischen Ambitionen nicht. Die 1957 während der Kampagne gegen die Rechtsabweichler in Ungnade gefallenen Führungsfiguren der Blockparteien, zu denen Zhang Yihes Vater Zhang Bojun gehörte, befragen gemeinsam die Vergangenheit: Ab wann war der Spuk der kommunistischen Diktatur in China nicht mehr zu stoppen? Warum haben sie, die Politiker der „demokratischen Parteien“, so lange versucht, mit dem Teufel zu paktieren, in dem Glauben, die Kommunisten unter Mao würden ihr erklärtes Ziel der Demokratisierung Chinas irgendwann verwirklichen? Auf solche unter Hausarrest geflüsterten Unterredungen folgt dann im Buch stets ein großes Essen, mit höfischer Kochkunst und Peking-Oper-Darbietung.
Betrogene Revolutionäre oder unterdrückte Großbürger kümmern den Romancier Wang Xiaobo (1950–1997) herzlich wenig. Im Roman „Das goldene Zeitalter“ (1996)7 gab er einer urbanen Generation eine Stimme, die einen Ausweg aus der Dichotomie „Revolution versus Bourgeoisie“ sucht. Ihre Strategie heißt: seelische Entpolitisierung durch Sinnenrausch. Der Held heißt in den diversen Episoden des Romans immer „Wang’er“ (gleich dem deutschen Meier oder Schmidt), aber er hat immer ganz unterschiedliche Lebensläufe. Egal aber welches Leben es ist, wie verwoben auch immer mit ideologischen Massenbewegungen in die eine oder die andere Richtung: Wang’er folgt seinen Sinnen, und alles andere prallt an ihm ab, ist für ihn bloße Kulisse eines grandios absurden Welttheaters.
1974 zum Beispiel überredet Wang’er die schöne Landärztin Chen Qingyang mit kühnen Worten zum Sex. Dafür nimmt er in stoischem Gleichmut den Titel „schlechtes Element“ in Kauf und geht als solches – begleitet von der „Hure“ Chen Qingyang – durchaus amüsiert zu der Massenkundgebung, auf der die beiden öffentlich geschmäht werden sollen; als biete er auf Bestellung „ein Abendprogramm für gelangweilte Dörfler und aufgegeilte Kader“. Um danach wieder mit Chen Qingyang „unsere grandiose Freundschaft körperlich zu zelebrieren, denn Paarung mit Eheglück steht uns ja nicht zu“.
1975 wird ein anderer Wang’er wegen einer freundschaftlichen Rauferei als Übeltäter abgestempelt und dem Psychoterror einer Sekretärin des Kommunistischen Jugendverbands ausgeliefert. Wie ein Dackel „joggt Wang’er hinter dem Fahrrad von X-Haiying hinterher“, so schnurgerade aufrecht, wie es nur Laufprofis können, und plärrt eine Melodie aus der Oper „Aida“ so in den schneidenden Wind hinein, dass niemand, auch nicht Wang’er selbst, ein Wort davon versteht. Genauso wenig versteht er, warum er kurze Zeit später, im Mai, mit der von ihm so innig gehassten X-Haiying ins Bett steigt. Vielleicht weil die Qual so unentrinnbar ist, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als sich in die Qual selbst zu verlieben …“
In den 1990er-Jahren verwehrt ein US-Professor dem angehenden Mathematiker Wang’er die Mitarbeit an der Entwicklung einer sensiblen Software, wobei dieser akademische Kapitalist seine billige Arbeitskraft aus Fernost sonst gern ausbeutet. Das Rechengenie rächt sich, indem es seine Teilprogramme mit Cao Ni Ma (motherfucker) 1, Cao Ni Ma 2 bis Cao Ni Ma X durchnummeriert: „Dichter bin ich, Fantast! Immer schon, während der Kulturrevolution, als ich für Rotgardisten zeitgemäße Waffen konstruierte; jetzt erst recht. Aber der blutleere Kapitalismus duldet nun mal keine Dichtung, so what!“
Lange traf Wang Xiaobo mit seiner scheinbar apolitisch witzelnden jungen Figur den Nerv der modernen Städter. 2008, elf Jahre nach seinem Tod, fand Wang’ers fiktiver Gag mit dem US-Professor eifrige Nachahmer, als Chinas Netizen den Aufstand gegen die staatliche Internetzensur probten. Sie kreierten die Flash-Figur „cao(Gras)-ni(Schlamm)-ma(Pferd)“ (motherfucker), die gegen die misstrauischen Apparatschiks, dargestellt als „hexie“ (Harmonie, auf Chinesisch gleichlautend wie Flusskrebs), in die virtuelle Schlacht zieht. Die Internetjugend wirkt bei alledem eher belustigt denn verbittert und schon gar nicht wütend.
Doch Wang Xiaobos romantisierende Lesart liberal-privater Bürgerlichkeit findet umso weniger Zustimmung, je mehr Chinas neoliberales Wirtschaftswunder implodiert und je mehr die Bürgerrechtler ihre gesellschaftlichen Forderungen in und außerhalb Chinas auf der Grundlage des humanistischen Wertekanons formulieren. Besonders in der jungen Exilliteratur findet das neue Verständnis des Bürgerrechtlichen seine mitunter scharfe Formsprache – ganz im Stil einer „wütenden Jugend“, wie sie sich im Roman von Ma Jian8 „Peking-Koma“ (2008) aus dem Londoner Exil zu Worte meldet.
Ma Jians Romanheld, Dai Wei, ist Student. Auf dem Platz des Himmlischen Friedens hat er 1989 für Bürgerrechte demonstriert und wurde mit einer Maschinengewehrkugel ins Wachkoma geschossen. Quasi aus dem Sterbebett heraus beobachtet der für tot gehaltene Dai, wie China immer bürgerlich-kapitalistischer wird und der Mensch immer mehr seine Würde verliert. Fast plakativ wählt Ma Jian den 1. Juli 1997 als Datum der Handlung: An diesem Tag kehrte Hongkong unter Chinas Hoheit zurück. Der Roman schildert die Staatsfeierlichkeiten, bei der die jungen Menschen weniger aus Überzeugung denn in nationaler Massenhysterie johlend mitfeiern.
Derart euphorisiert und vom Alkohol berauscht, entdeckt einer der Feiernden den Komapatienten und missbraucht ihn sexuell. „Das war fantastisch! Ich wusste gar nicht, dass lebende Leichen einen Steifen kriegen können. Jetzt blase ich dir jeden Tag einen.“ Und Ma Jian lässt den Wachkomapatienten denken: „Die wilden Schreie der Menschen draußen hallen immer noch durch die Nacht. Lichtblitze von Feuerwerkskörpern und Knallfröschen, die vor meinem Fenster explodieren, zucken über meine trockenen, schrumpeligen Augenlider. (...) Obwohl mein Körper nur noch ein verrotteter Haufen Knochen ist, klammert er sich nach wie vor an diese Welt. Der Tod ist eine ewige Straße geworden, deren Ende ich nie erreichen werde. Mein Sperma, der einzige Beweis meiner Lebendigkeit, erregt und erniedrigt mich zugleich. Es hat meinen Körper verlassen und klebt jetzt zwischen Xue Qins Zähnen … Was war dies für ein jämmerlicher Tag!“
Noch findet die Exilliteratur aus China im Land selbst kaum Beachtung. Das neue „Bürgerliche“ erscheint widersprüchlich, wie das Selbstbild der Schreibenden und der Leserschaft in den Städten. Klar ist, dass dieses wie auch immer definierte „Bürgerliche“, sich in der modernen Erzählliteratur Chinas über ihr Verhältnis zur „Revolution“ definieren müsste – weniger zur ideologisch-kommunistischen Revolution als zur kollektivistisch-erzieherischen oder nationalistischen, die Chinas Nomenklatur als neues Ziel propagiert: China müsse aufsteigen. Genauso der chinesische Mensch.
Bezeichnend für dieses neue Ziel und für seine breite Akzeptanz unter städtischen Lesern ist der Bestsellerroman von Jiang Rong9 „Der Zorn der Wölfe“ (2004). Hauptfigur darin ist ein Städter, der während der Kulturrevolution zur Umerziehung, also zur Zwangsarbeit in die Innere Mongolei geschickt wird. Der junge Mensch lernt die weite Steppe kennen. Er lernt, dass die chinesische Rasse für ihren Aufstieg in der Welt das Fabeltier Drachen zu ihrem Totem gemacht hat und dass dies für ihren Aufstieg in der Welt ein Hindernis, ein Fehler im kulturellen Erbgut ist; während die Mongolen das reale Raubtier Wolf verehren:
„Das Wolfstotem ist älter als der Konfuzianismus der Chinesen. Es ist dauerhafter und hat mehr Kraft. Viele Ideen im Gedankengebäude des Konfuzianismus, etwa die drei Pflichten und die fünf Tugenden, sind längst veraltet, während der Geist des Wolftotems so jung und lebendig ist wie ehedem, weil er von den vorzüglichsten Völkern der Erde weitergetragen wurde.“
Shi Ming studierte von 1978 bis 1982 Germanistik und Jura in Peking und lebt seit 1989 als freier Journalist in Köln. © Le Monde diplomatique, Berlin