Die andere jüdische Lobby
von Eric Alterman
Als Barack Obama im Juli 2009 die Vorsitzenden von 16 jüdischen Organisationen zu einem Gespräch einlud, standen auf der Gästeliste nur die üblichen Verdächtigen – mit einer Ausnahme. Neben den Präsidenten der strammen alten Gruppen – wie der Anti Defamation League (ADL), der American Jewish Committee (AJC) und des einflussreichen America Israel Public Affairs Committee (Aipac) – war auch Jeremy Ben-Ami geladen. Er vertritt die neu gegründete Friedensorganisation J Street.1
Dass Ben-Ami ins Weiße Haus eingeladen war, kam bei den übrigen Teilnehmern nicht durchweg gut an. Bei Publikationen, die neokonservativ geprägten jüdischen Organisationen nahestehen, genießt J Street in etwa den gleichen Ruf wie die Hamas. In der Zeitschrift The New Republic bezeichnete James Kirchick die Gruppe als „Kapitulationslobby“. Und im Weekly Standard warf Michael Goldfarb ihr eine „unterwürfige“ Haltung gegenüber Terroristen und „Feindseligkeit“ gegenüber Israel vor. Die Kommentare aus dieser Ecke verraten die Angst der traditionellen Lobbygruppen, dass das Auftreten einer Organisation wie J Street den Anfang vom Ende ihres Quasimonopols bedeuten könnte, mit dem sie bislang die öffentliche Debatte über die Nahostpolitik der USA geprägt haben.
Wie kommt es, dass die USA eine ganz andere Haltung zum israelisch-arabischen Konflikt haben als der Rest der Welt, zumal die europäischen Partner Washingtons? Das traditionell enge Verhältnis zu Israel ist für die US-Amerikaner mit nicht nur materiell unvergleichlich hohen Kosten verbunden. Die Steuerzahler finanzieren jährlich drei Milliarden Dollar an Militär- und Wirtschaftshilfe. Und die bedingungslose Unterstützung Israels empört große Teile der islamischen Welt und heizt die antiamerikanische Stimmung an, was häufig zu Gewalttaten führt.
In keinem anderen Land – außer Israel – wird der Nahostkonflikt so gesehen wie in den USA, wo die Palästinenser als irrationale Angreifer und die Israelis als deren Opfer gelten. So umstritten und kostspielig diese Politik auch sein mag, bislang hat jede Regierung und jeder Kongress an ihr festgehalten.
Diejenigen in den USA, die den israelischen Hardlinern den Rücken stärken – darunter sehr viele Evangelikale –, übersehen ein wichtiges Problem. Sie erklären die „neutrale“ Haltung der Europäer zum einen mit deren traditionellem Antisemitismus, zum anderen mit ihrem Bestreben, die ölreichen arabischen Regime in Schach zu halten. Sie behaupten außerdem, die „antisemitischen Medien“ in Europa hätten eine propalästinensische Schlagseite, da sie immer gern mit den Schwächeren sympathisieren, und das sind in diesem Fall die Palästinenser. Ergo läge das Problem nicht bei den USA, sondern beim ganzen Rest der Welt.
Aber das erklärt nur zu einem (kleinen) Teil, warum im US-Kongress stets die Kräfte dominieren, die kompromisslos hinter der Politik Israels stehen. Ein weiterer Faktor ist das America Israel Public Affairs Committee (Aipac) samt seinen Unterorganisationen, die im Kongress mehr Einfluss haben als jede andere außenpolitische Lobby.
Das Aipac hat in letzter Zeit zwar einige Rückschläge erlebt, wie etwa die (später zurückgezogene) Anklage gegen zwei seiner ehemaligen Mitarbeiter wegen Spionage für Israel oder die Publikation des Buchs von John Mearsheimer und Stephen Walt.2 Aber der Einfluss des Aipac ist nach wie vor groß, wie das Schicksal von Charles („Chas“) Freeman zeigt, der von der Obama-Regierung als Vorsitzender des National Intelligence Council (NIC)3 vorgesehen war, aber fallen gelassen wurde, weil ihm eine „arabistische“ Sicht auf das Palästinaproblem nachgesagt wurde.
Zwar beteuerte das Aipac, es habe mit der Pressekampagne gegen Freeman nichts zu tun gehabt, gleichwohl bleibt die traurige Tatsache, dass diejenigen Kräfte, die glaubten, Freeman abschießen zu müssen, ihre guten Gründe hatten: Sie wollten ihm nicht einen Posten überlassen, bei dem sämtliche Informationen der US-Geheimdienste zusammenlaufen. Denn der NIC-Vorsitzende könnte einem Angriff der USA oder Israels auf den Iran entgegentreten, so wie es 2006 geschehen war, als ein NIC-Report behauptete, dass der Iran nicht mehr an einem militärischen Atomprogramm arbeite.
Jedenfalls wollten die Freeman-Gegner allen Aspiratnen auf ein öffentliches Amt klarmachen, dass sie in Sachen Israel besser keine Positionen vertreten, die von ihrer eigenen Sicht der Dinge abweichen. Die „proisraelische Gemeinde“ wollte den Kopf Freemans, und sie hat ihn bekommen. Offenbar ist es so, dass das Aipac die Pläne des US-Präsidenten durchkreuzen kann, ohne selbst aktiv werden zu müssen.
Dass das Aipac so mächtig ist, hat viele Gründe. An einer breiten Unterstützung für seine harte Linie kann es aber nicht liegen. Eine neuere Meinungsumfrage von J Street brachte folgendes Ergebnis: 76 Prozent der US-amerikanischen Juden sind für eine Zweistaatenlösung nach den Richtlinien, auf die sich Israelis und Palästinenser vor acht Jahren fast geeinigt hatten.4 Nur 24 Prozent sind gegen dieses Lösungsmodell, das vom Aipac immer wieder verurteilt worden ist.
Bezeichnenderweise schwieg die Lobbyorganisation auch, als der Rassist Avigdor Liebermann zum Außenminister in der Regierung Netanjahu ernannt wurde. Die Umfragen von J Street zeichnen auch hier ein anderes Bild: Auf die Frage, was sie von Liebermans Vorschlag halten, die arabischen Israelis sollten einen Treueeid auf den jüdischen Staat ablegen, oder wie sie seine Drohungen gegen die arabischen Knesset-Abgeordneten einschätzen, sprachen sich 69 Prozent der US-amerikanischen Juden dagegen und nur 31 Prozent dafür aus.
Während im Aipac also die neokonservativen Kräfte das Sagen haben, stehen US-amerikanische Juden mehrheitlich im progressiven Lager. Sie haben die Demokratische Partei bei den letzten Wahlen zuverlässiger unterstützt als jede andere Wählergruppe – 80 Prozent stimmten für Obama. Das führt zu der paradoxen Situation, dass eine Organisation wie das Aipac von fortschrittlichen Juden finanziert wird, sich aber mit konservativen Republikanern zusammentut, um eine Verleumdungskampagne gegen liberale Demokraten zu organisieren.
Das Drohen mit dem Holocaust funktioniert nicht mehr
Dies ist ein guter Zeitpunkt, um beim Kongress und bei der jüdischen Community neue Auffassungen einzubringen. Wie MJ Rosenberg5 erläutert, dominiert im Aipac zwar noch die ältere Generation, aber deren Kinder und Enkel vertreten mittlerweile andere Ansichten: „Je länger der Zweite Weltkrieg zurückliegt, desto weniger gelingt es, die Ängste der jungen Leute so zu schüren, dass sie Israel unterstützen. Das werden sie nur tun, wenn sie an Israel glauben und ihnen dieses Land sympathisch ist. Aber diese Angstmacherei: ‚Schick uns deinen Spendenscheck, sonst kommt der nächste Holocaust‘ – das funktioniert bei den unter Sechzigjährigen nicht mehr. Die Generation, die in den 1960er-Jahren gegen den Vietnamkrieg demonstriert hat, nimmt diese Ein-neuer-Hitler-vor der Tür-Geschichten einfach nicht mehr ernst.“
Rosenberg zufolge hat die Israelbegeisterung der US-amerikanischen Juden schon seit 1977 nachgelassen, also mit dem Antritt der Regierung Begin: „Was man bis dahin propagiert hatte, war das Israel von Leon Uris,6 das Israel der Kibbuzim, das sozialistische Paradies. Und das ist heute völlig anders.“
Israel genießt bei den US-Bürgern immer noch weit mehr Unterstützung als die Palästinenser. Laut einer Umfrage, die das Pew Research Center während der Kämpfe in Gaza zu Beginn dieses Jahres durchführte, waren 49 Prozent der Befragten auf Seiten Israels und nur 11 Prozent für die Palästinenser.7 Aber diese Sympathie ist im konservativen Lager weit stärker verbreitet als bei Leuten, die sich selbst als „liberals“ bezeichnen: Bei der ersten Gruppe überwiegen die proisraelischen Sympathien mit 7 zu 1, bei den Progressiven ist das Verhältnis 3 zu 2.
J Street will mit Hilfe der Marketingstrategien von zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich bei der Kampagne für den Präsidentschaftskandidaten Obama bewährt haben, dem jüdischen Einfluss auf die Politik ein neues Gesicht geben, das dem tatsächlichen Meinungsprofil der us-amerikanischen Juden eher entspricht. Wie erfolgreich die junge Organisation sein wird, lässt sich noch nicht absehen, aber ihre bisherige Bilanz kann sich sehen lassen. Schon 18 Monate nach seiner Gründung hatte J Street ein Budget von 3 Millionen Dollar und 22 feste Mitarbeiter. Das ist zwar nicht viel im Vergleich zu den 70,6 Millionen Dollar von Aipac, aber doch ein vielversprechender Anfang.
Eine Million Dollar konnte J Street allein für die Kongresswahlen 2008 organisieren. Mit dem Geld wurden Kandidaten unterstützt, die sich für einen Frieden im Nahen Osten einsetzen. Koordiniert werden solche Bemühungen mit kleineren Organisationen, von denen viele unter dem dramatischen Spendenrückgang leiden, der insbesondere linksgerichtete Gruppen im Krisenjahr 2009 getroffen hat.
Einige haben sich bereits mit J Street zusammengetan. An der ersten nationalen Konferenz, die vom 25. bis 28. Oktober stattfinden soll, werden sich elf weitere Friedensgruppen beteiligen, darunter etablierte Organisationen wie Americans for Peace Now, das Israel Policy Forum und der New Israel Fund. Schon im Oktober 2008 trat die Union of Progressive Zionism – ein kleines, engagiertes Studentennetzwerk – J Street bei. Auch die Gruppe Brit Tzedek v’Shalom (Jüdische Allianz für Gerechtigkeit und Frieden), die explizit für eine Zweistaatenlösung eintritt, soll demnächst in J Street aufgehen.
Auf der Washingtoner Bühne hat die Organisation ihren Ruf dadurch verbessert, dass sie Hadar Susskind für sich gewinnen konnte. Der prominente Veteran der israelischen Armee war bis vor kurzem Vizepräsident des Jewish Council for Public Affairs, der Dachorganisation der offiziellen jüdischen Gemeinschaften, die diese in innenpolitischen Fragen vertritt. Solche Bemühungen sowie der starke Rückhalt, den J Street bei ehemaligen Generälen und Geheimdienstleuten hat, erschweren es den Neokonservativen, die Organisation als „rot“ und damit proarabisch zu hinzustellen. Manche Beobachter gehen sogar davon aus, dass das Israel Policy Forum irgendwann in J Street aufgehen wird. Dessen Zeitung The Forward berichtete vor kurzem, dass die Spenden seit 2007 dramatisch zurückgegangen seien und man sich nur noch mit Mühe über Wasser halten könne.
Viel wird jetzt davon abhängen, wie die jüdischen und die nichtjüdischen Medien über die Jahreskonferenz von J Street berichten. Hier will man vor allem demonstrieren, dass das jüdische Friedenslager, „nicht nur aus zehn Leuten besteht, die sich in einem Keller versammeln“, wie es Jeremy Ben-Ami formuliert. Die Mitglieder sollen einander kennenlernen und sich nicht mehr wie früher nur als „einsame Rufer in der Wüste“ fühlen.
Kurz bevor Ehud Olmert von seinem Amt als israelischer Ministerpräsidenten zurücktreten musste, machte er die Voraussage, dass auf Israel im Fall des Scheiterns der Zweistaatenlösung „ein Kampf für politische Bürgerrechte“ zukomme, der mit den Kampagnen des ANC in Südafrika vergleichbar sein werde. Und dann, so Olmert, sei „der Staat Israel am Ende“.
Ob Israel diesem Schicksal entgehen kann, wird womöglich von Organisationen wie J Street abhängen. Sollte es nämlich dazu kommen, dass die Obama-Regierung, um Israel zu retten, den Palästinensern eine realistische Aussicht auf einen eigenen Staat anbietet und den Israelis die dafür nötigen territorialen Zugeständnisse abverlangt, könnte Obama darauf angewiesen sein, dass sich die einst „einsamen Rufer“ bei den US-amerikanischen Juden mehr Gehör verschaffen.
Eric Alterman lehrt Journalismus am Brooklyn College in New York.