Indien macht sich stark
von Olivier Zajec
Indien ist zu einer globalen Macht aufgestiegen. Dank seines Wirtschaftswachstums hat das Land einen Rang erreicht, den ihm zuvor weder seine Bevölkerungszahl verschaffen konnte noch sein 1981 erlangter Status einer halboffiziellen Atommacht. Freilich hat auch die veränderte Weltlage – und vor allem das Scheitern des US-amerikanischen Unilateralismus – erheblich dazu beigetragen, dass Indien heute eine Rolle beanspruchen kann, die ihm quasi von Natur aus zusteht: als ein weiteres globales Macht- und Einflusszentrum neben den USA, China, Russland, der Europäischen Union, Japan und – vielleicht – Brasilien.
Diesen neuen Status einer aufstrebenden Weltmacht wollen die Inder nun auch im allgemeinen Bewusstsein verankern. Sie müssen also das Image einer quasi ewigen Regionalmacht loswerden, die sich noch immer der „moralischen Außenpolitik“1 verpflichtet fühlt, wie sie die (heute äußerst kritisch betrachtete) Nehru-Zeit geprägt hat. Erst dann wird man Indien am „ewigen Fest der Großmächte“ teilnehmen lassen, wie es der Schriftsteller Sunil Khilnani2 mit milder Ironie ausgedrückt hat.
Aber schon heute ist nicht mehr denkbar, was sich US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld noch vor acht Jahren herausnahm, als er – noch gefangen in den Kategorien des Kalten Krieges und erzürnt über die enge nukleare Zusammenarbeit zwischen Moskau und Neu-Delhi – so weit ging, Indien als eine „Bedrohung für andere Völker wie die Vereinigten Staaten, Westeuropa und die westasiatischen Länder“ zu bezeichnen.3 Kein US-Politiker würde sich heute einen solchen Fehltritt leisten.
Weil die Inder von allen Großmächten mit Ausnahme Chinas umworben werden, sind sie inzwischen in der komfortablen Lage, sich ihre Verbündeten aussuchen zu können, wobei sie nie ihr Ziel eines ständigen Sitzes im UN-Sicherheitsrat aus dem Blick verlieren. In Neu-Delhi kann man es heute kaum erwarten, Genaueres über die Absichten der Regierung Obama zu erfahren, die im Vergleich mit der Bush-Administration als weniger indienfreundlich gesehen wird, vor allem was den Dauerkonflikt mit Pakistan in der Kaschmirfrage betrifft.
Eine „verantwortungsvolle“ Atommacht – dank Bush
Der Politologe und Indien-Experte Christophe Jaffrelot konstatiert einen tiefgreifenden kulturellen Wandel: „Während sich Indien früher als Großhändler in Sachen Ethik gab, wird es jetzt eher zum Herold einer realistischen Auffassung von Außenpolitik.“4 Und der Indienspezialist Harsh V. Pant, der am Londoner King’s College lehrt, betont das international neu gewonnene „Selbstbewusstsein Indiens.“5
Drei Grundpfeiler sind es, auf denen dieser Status gründet. Da ist erstens die ökonomische Entwicklung, die durch die Weltwirtschaftskrise in Gefahr geraten ist. Da ist zweitens der enorme diplomatische Erfolg des 2005 zwischen George W. Bush und Manmohan Singh ausgehandelten Abkommens über die zivile Nutzung der Atomkraft, das 2008 vom US-Kongress ratifiziert wurde. Mit diesem Abkommen, das die unverbrüchlichen Regeln des Atomwaffensperrvertrags revidiert, wird Indien (mit seinen 150 Atomsprengköpfen) quasi zu einer „verantwortungsvollen“ Atommacht ernannt.6
Der dritte Pfeiler sind die indischen Streitkräfte (Bharatiya Sashastra Senae). Dabei kommt der konventionellen Militärmacht eine besondere Bedeutung zu, weil in ganz Asien der Rüstungswettlauf voll entbrannt ist. Auf diesen konventionellen Sektor konzentrieren sich die meisten Debatten und Fragestellungen der indischen Strategen.
Bei den Nuklearwaffen hat Indien offenbar das erwünschte Niveau erreicht. Im Februar 2008 wurde die U-Boot-gestützte atomare Mittelstreckenrakete K-15 getestet. Indien hat so die Zweitschlagfähigkeit erworben und ist zu einer Nuklearmacht der ersten Kategorie aufgestiegen. Dennoch gilt für die indischen Nuklearwaffen nach wie vor das Prinzip der minimalen Abschreckung und ein Erstschlagverbot.
Sehr viel stärkere Veränderungen sind dagegen auf dem Gebiet der konventionellen Waffen denkbar. In Konkurrenz mit den westlichen Armeen und China, das seine Streitkräfte mit Riesenschritten und auf breiter Front – von der Gefechtsfeldkommunikation bis zur Raumfahrt – modernisiert, verfolgt Neu-Delhi seinen eigenen Weg, um seine konventionelle Schlagkraft zu erhöhen. Zwar ist man immer noch von operationellen Konzepten aus der Zeit des Kalten Krieges und von den seit langer Zeit maßgeblichen Waffenlieferungen aus Russland abhängig (von dort stammen 80 Prozent der Waffenimporte), aber nun wollen die Inder mehr und mehr eigene Waffensysteme entwickeln. Zumal die wichtigsten Komponenten militärischer Macht sich in weniger als 15 Jahren grundlegend verändert haben: als Folge der technologischen Revolution der Kontroll- und Kommunikationssysteme, der Herausforderungen durch irreguläre oder „asymmetrische“ Kriege, der Aufrüstung im Weltall, der vielen neuen Maßnahmen zur inneren Sicherheit und der hektisch ausgebauten Überwachung und Sicherung der Schifffahrtsrouten.
An diese Trends anknüpfend bemühen sich die zivilen und militärischen Eliten, ein den indischen Verhältnissen angepasstes Sicherheitsmodell zu entwerfen. Dabei hoffen sie, durch eine stärkere Diversifizierung der Rüstungslieferungen7 und einen fortschreitenden Mentalitätswandel eine revolutionäre Veränderung ihrer Streitkräfte zu bewerkstelligen, die nach Meinung einiger Beobachter der Tradition der kolonialen Army of India noch immer nicht ganz entwachsen ist. Zur Finanzierung dieses Programms wurde der Verteidigungshaushalt im Haushaltsjahr 2009/2010 um 23,7 Prozent auf 29 Milliarden Dollar aufgestockt.8
Mit mehr als 1 300 000 Frauen und Männern in Uniform besitzt Indien die drittgrößte Streitmacht der Welt nach China und den USA. Die weitaus stärkste Waffengattung ist das Heer (siehe Kasten). Doch die Ausrüstung der Landstreitkräfte ist, trotz seiner renommierten Eliteeinheiten, in einem bedenklichen Zustand. Zu den Grundübeln gehören die überalterten Waffensysteme und Transportmittel samt den Schwierigkeiten, die Geräte überhaupt einsatzfähig zu halten. Das verstärkt das Gefühl der Frustration bei den Angehörigen der Landstreitkräfte, denen ohnehin weniger Geld für Forschung und Entwicklung und für neue Waffensysteme zur Verfügung steht als ihren Kollegen von der Luftwaffe und der Kriegsmarine.
Die Indian Navy zählt zu den wichtigsten Kriegsflotten der Welt. Symbol des neu gewonnenen Status als global operierende Marine ist die Anschaffung zweier Flugzeugträger, von denen der eine aus Russland stammt und von Grund auf modernisiert wird, der andere von indischen Werften gebaut wird. Im Juli 2009 lief das erste (von fünf geplanten) nukleargetriebene U-Boot „INS Arihant“ vom Stapel, das allerdings nicht vor 2012 einsatzbereit sein wird.
Die Indian Air Force (IAF) ist zweifellos die brillanteste und auch verwöhnteste Waffengattung. Die 1933 von den Briten gegründete Luftwaffe war von den vorsichtigen Kolonialherren zunächst nur für taktische Einsätze ausgestattet worden. Als die IAF nach der Unabhängigkeit US-amerikanische Jagdflugzeuge vom Typ F-104 anschaffen wollte, stand dem das Militärbündnis zwischen Pakistan und den USA im Wege. Das trieb die indische Luftwaffe für lange Zeit in die Arme der russischen Rüstungsindustrie, was zugleich die Übernahme der eher defensiven Strategie der russischen Luftwaffe bedeutete, deren Symbol die MiG-21 als Rückgrat der indischen Luftverteidigung ist. Heute strebt die indische Luftwaffe die Fähigkeit zum strategischen „Angriff in die Tiefe“ (deep attack) an und fordert deshalb Flugzeuge, die mit denen moderner westlicher Streitkräfte vergleichbar sind. Für die IAF hat diese Anschaffung so hohe Priorität, dass sie heute weltweit der einzige Kunde ist, dem die Russen Systeme verkaufen, die moderner sind als die ihrer eigenen Luftwaffe, und dass die Russen gemeinsam mit den Indern Prototypen der fünften Generation entwickeln.9
Doch das reicht der IAF nicht mehr aus. Heute umwirbt sie vor allem Israel, Frankreich und – trotz des nach wie vor starken traditionellen Antiamerikanismus – sogar die Vereinigten Staaten. Zum Beispiel hat die indische Luftwaffe einen Bieterwettbewerb für 26 Rüstungsprogramme ausgeschrieben. Das wichtigste ist das Medium Multi-Role Combat Aircraft (MMRCA) als Kampfflugzeug der vierten Generation, von dem Indien 126 Stück für fast zwölf Milliarden Dollar anschaffen will. Um diesen „Jahrhundertvertrag“ bewerben sich die europäischen Hersteller Dassault, Saab und European Aeronautic Defence and Space (EADS), der russische MiG-Konzern und die US-amerikanischen Flugzeugbauer Boeing und Lockheed Martin.10
Allerdings sitzt das Trauma der „technologischen Apartheid“ des Kalten Krieges – wie es IAF-Luftwaffengenerals V. K. Verna nennt – so tief, dass die Inder letzten Endes eine vollkommen unabhängige Luftfahrtindustrie aufbauen wollen. Sie wollen also ihre engen Verbindungen zu den Russen, mit denen sie inzwischen sehr vertraut sind, nicht Hals über Kopf gegen eine Abhängigkeit von westlichen Lieferanten eintauschen, die zu unberechenbaren Kehrtwendungen neigen. Das Unternehmen, das die MMRCA-Ausschreibung gewinnt, muss deshalb strenge Auflagen in Sachen Technologietransfer einhalten: Die ersten 18 Flugzeuge müssen bis 2012 ausgeliefert werden, die übrigen 108 werden dann in Indien von Hindustan Aeronautics Limited (HAL) gebaut. Zudem muss das ausgewählte Unternehmen die Hälfte des Auftragsvolumens wieder in die indische Wirtschaft investieren, das sind mindestens sechs Milliarden Dollar.
Die Luftwaffe will eine nationale Flugzeugindustrie
Zumindest die Luftwaffe und die Marine haben das berühmte Improvisations- und Bastlergeschick (jugaad), auf das die indischen Militärs früher so stolz waren, weit hinter sich gelassen. Ihr Drang nach neuen Waffensystemen und Reformen belegt vielmehr den Ehrgeiz der indischen Regierung, die Fähigkeit zu Operationen über große Entfernungen zu erwerben. Diese neue Fähigkeit war erstmals 1999 von dem damaligen Außenminister Jaswant Singh propagiert worden.11 Dieser reflexhafte, von Technikfaszination geprägte Drang nach expansiver Machtentfaltung zur See und in der Luft mutet im Fall von Indien noch etwas künstlich an. Und das nicht nur wegen der kulturellen Prägung (die kalapani, die „schwarzen Wasser“ des Ozean, wurden in Indien lange Zeit für etwas Böses gehalten), sondern vor allem angesichts der gewaltigen Herausforderungen, die schon durch die unmittelbare geografische Umgebung des Landes gegeben sind.
In dem nuklear aufgerüsteten süd- und südostasiatischen Raum liegen eine ganze Reihe regionaler Konfliktherde von globaler Bedeutung: von Taiwan über die Spratley-Inseln bis nach Kaschmir. Indien mag noch so sehr darauf aus sein, die Fähigkeit zum „Sicherheitsexport“ über größere Entfernungen zu entwickeln (nach dem ermutigenden oder abschreckenden Vorbild der USA) – das Land muss stets das Konfliktpotenzial mit seinen beiden Nachbarn Pakistan und China im Auge behalten. Dabei sind jede dieser beiden miteinander verbündeten Mächte für sich allein imstande, in Neu-Delhi obsessive Ängste zu mobilisieren. Zwar sehen die indischen Strategen in Pakistan nach wie vor eine Marionette Pekings – eine Sichtweise, die eigentlich der historisch geprägten, aber immer noch lebendigen Fixierung auf den feindlichen Bruderstaat widerspricht –, doch sie verfolgen ganz genau die technologischen und militärischen Entwicklungen in China, die sie weit mehr beunruhigen, die sie aber auch meistens überinterpretieren.
Der Indien-Experte Harsh V. Pant kommt zu dem Schluss: „Die geopolitische Lage in Asien macht eine ‚brüderliche Beziehung‘ der beiden Länder in der Zukunft sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Wenn Indien und China in den kommenden Jahren weiter aufrüsten, dann werden sie auf sicherheitspolitischer Ebene unausweichlich zu Konkurrenten.“12
Bestätigt wird das wachsende Misstrauen durch die Entscheidung Neu-Delhis, das chinesische Militär nicht zum zweiten Indian Ocean Naval Symposium (IONS) im Mai 2009 einzuladen.13 Offenbar ist es für die indische Regierung nicht hinnehmbar, dass die Chinesen an diesem von ihr ins Leben gerufenen Forum teilnehmen, bei dem die Führungsstäbe aller Seestreitkräfte der Anrainer des Indischen Ozeans vertreten sind. Der Protest aus Peking war entsprechend heftig, die offiziellen Zeitungen spotteten über den „Ozean der Inder“ und zogen eine Parallele zur ursprünglichen Weigerung Neu-Delhis, China den Beobachterstatus im Südasiatischen Verband für Regionale Zusammenarbeit (SAARC) zu verweigern.14
Indien ist besorgt über die Kette von Marinebasen, die Peking vom Chinesischen Meer über den Indischen Ozean bis zur afrikanischen Küste (Seychellen) aufzubauen versucht. Neu-Delhi bemüht sich hartnäckig, die Chinesen aus der Region fernzuhalten, die Indien entschieden als seinen Vorhof betrachtet.15 Doch die Dichte der globalen Schiffsbewegungen in dieser Gegend begünstigen die wachsende Präsenz der chinesischen Volksbefreiungsarmee auf einem Meer, das längst nicht mehr der Ozean der Inder ist – wenn er es denn jemals war. Wobei China auch zugutekommt, dass die übrigen Anrainerstaaten – vor allem Pakistan, Sri Lanka, Birma und bis vor kurzem auch die Malediven – gegenüber Indien gemischte Gefühle hegen. Diese maritime Rivalität zwischen Indien und China zeigt sich auch im Wettlauf um die Entsendung von Kriegsschiffen ans Horn von Afrika, wo sie somalische Piraten bekämpfen sollen.
Hinzu kommen die Dauerkonflikte um territoriale Fragen jenseits der Meere. Die Strategie und Logistik der indischen Armee ist mehr denn je auf Grenzkonflikte ausgerichtet. Der größte Unruheherd ist nach wie vor Kaschmir. Ebenfalls im Nordwesten gibt es noch den eingefrorenen Streit mit China um das kleine Gebiet Aksai Chin.16 Für diese gesamte Nordwestfront ist das Northern Command zuständig, das über die stärksten Truppen verfügt.
In Konkurrenz mit China auch bei der Weltraumrüstung
Im Nordosten ist der Streit mit China um Arunachal Pradesh nach wie vor ungelöst. Die acht Bundesstaaten dieser Region, die nur durch den (maximal 40 Kilometer breiten) Korridor von Siliguri mit dem übrigen indischen Territorium verbunden sind, bleiben das Sorgenkind des Generalstabs in Neu-Delhi. In dieser Region sind zahlreiche separatistische Bewegungen aktiv, zum Beispiel die United Liberation Front of Asom (Ulfa), die der Zusammenarbeit mit Peking verdächtigt wird, weil sie die indische Oberherrschaft ablehnt.
Weiter im Süden sorgt die beständige Zuwanderung aus Bangladesch für Probleme, die der schwierigen demografischen und wirtschaftlichen Lage des muslimisch geprägten Nachbarlandes geschuldet ist. Die indische Armee versucht den Zustrom mit 50 000 Soldaten einzudämmen. Außerdem hat sie die Grenze trotz internationaler Proteste mit 4 000 Kilometern Stacheldraht gesichert und die Grenzüberwachung durch Aufklärungsdrohnen verstärkt. Hier zeigt sich erneut, dass trotz der entscheidenden Hilfe, die Indien den Bangladeschern 1971 bei ihrer Abspaltung von Westpakistan gewährte, keine besondere Zuneigung zwischen den beiden Staaten entstanden ist. Chittagong, der wichtigste Hafen von Bangladesch, ist heute ein Anlaufpunkt für die chinesische Marine, nachdem Peking kräftig in den Ausbau des militärischen Teils der Hafenanlagen investiert hat.
Diese Unruheherde an den Landgrenzen bestimmen die Überlegungen zur indischen Verteidigungspolitik im gleichen Maße wie die maritime Dimension. All diese Themen werden leidenschaftlich diskutiert. In den letzten zehn Jahren sind viele Publikationen und Thinktanks zu militärischen Fragen entstanden: etwa das Centre for Air Power Studies der IAF, die Strategic Foresight Group oder die South Asia Analysis Group von Bahukutumbi Raman, dem früheren Chef der indischen Antiterrorbehörde, der auch außenpolitisch eine harte Linie vertritt.
Diese Debatten verlaufen lebhaft und teils polemisch, mitsamt den auch anderswo üblichen Rivalitäten zwischen den Lobbyisten von Heer, Marine, Luftwaffe und Raumfahrtindustrie. Dabei beziehen sich die Experten auch auf frühere operationelle Erfahrungen der indischen Armee: auf konventionelle Kriege wie den Kaschmir-Feldzug von 1947/1948, den indisch-chinesischen Grenzkrieg von 1962 und die indisch-pakistanischen Kriege zwischen 1965 und 1971, aber auch auf „begrenzte“ Einsätze wie die der indischen UN-Truppen im Kongo 1961/1962 oder der indischen Friedenstruppen in Sri Lanka (1987) und auf den Malediven (Operation „Cactus“ 1988) sowie auf „gemischte“ Operationen wie in Kaschmir („Gletscherkrieg“ von 1999).
Die Erfahrung mit Grenzkonflikten und auch die historische Tradition begünstigen nach wie vor die Dominanz mechanisierter Infanteriedivisionen. Dennoch hat sich die indische Armee technologisch wie taktisch weiterentwickelt. Auch die Luftwaffe hat für ihre Einsätze gegen die Naxaliten17 in Zentralindien und die Unabhängigkeitsbewegungen im Nordosten18 einige Lehren aus den Luftkämpfen von 2008 über Sri Lanka gezogen und neue Rezepte für die Aufstandsbekämpfung entwickelt (Koordination von Land- und Bodentruppen, Einsatz von Drohnen). Beim Manöver des Heeres vom Mai 2009 im Punjab wurde ein „Blitzkrieg“ gegen Pakistan simuliert, der von den kühnen Angriffstaktiken der russischen Panzerwaffe inspiriert war.
Bei diesem Manöver konnte Indien auch von den Errungenschaften in der Raumfahrt profitieren: Im April 2009 wurde der von Israel gekaufte Beobachtungssatellit Risat-2 zur Dauerüberwachung der pakistanischen Grenze in seine Umlaufbahn gebracht. Die indischen Generäle wollen von den Fortschritten der eigenen Raumfahrtindustrie profitieren und die Weltraumrüstung vorantreiben, um gegenüber Peking nicht ins Abseits zu geraten.19
In diesem Sinne fordern die indischen Militärs neue Investitionen in eine offensive, weltraumgestützte Abschreckungswaffe, deren militärische Logik so formuliert wird: „Im möglichen Szenario eines begrenzten Konflikts würde China nicht zögern, ausgewählte Beobachtungssatelliten zu stören oder zu beschädigen, um die indischen Kräfte zu schwächen und uns an der dringend notwendigen Aufklärung des Schlachtfelds zu hindern.“20
Durch all diese internen Debatten über Kriegführung hoher und niedriger Intensität ziehen sich zwei miteinander verknüpfte Diskussionsstränge, die auf die geopolitischen Herausforderungen für das neue Indien reagieren.
Die erste Diskussion kreist um die Alternative zwischen einer Strategie der Grenzverteidigung und einem ambitionierteren Konzept globaler Machtprojektion. Die Vertreter dieser zweiten Position haben mit Verweis auf China und dessen maritime Ambitionen im Generalstab an Boden gewonnen. Die Konkurrenz der beiden Schulen zeigt sich besonders deutlich in der Marine: Die Anhänger der alten, noch sowjetisch inspirierten Schule sehen die Flotte nur als einen Faktor, der zum atomaren Gleichgewicht in der Region beiträgt. Die Vertreter der anderen Schule, vorwiegend Absolventen der US-Militärakademien, wollen der chinesischen Expansion mit einer aggressiveren maritimen Strategie entgegentreten.
In der zweiten Diskussion geht es um die Verwundbarkeit des multikulturellen Indiens durch terroristische Aktionen. Dabei wird unter Verweis auf die islamistischen Attentate vom November 2008 in Bombay eine bessere Zusammenarbeit zwischen Verteidigungs- und Innenministerium (nach dem Vorbild der militarisierten „homeland security“ in den USA) gefordert. So erklärte Finanzminister Pranab Mukherjee Anfang Juli 2009: „Mit den Attentaten von Bombay hat der grenzüberschreitende Terrorismus eine neue Dimension gewonnen. Hier wurde eine Schwelle überschritten. Unsere Sicherheitslage hat sich stark verschlechtert.“
Diese Ansicht hat sich inzwischen durchgesetzt. In den nächsten drei Jahren will die Regierung für mehr als 10 Milliarden Dollar die Grenzsicherung verstärken.21 Die Zahl der indischen Spezialeinheiten soll stark ansteigen. Damit soll ein Gleichgewicht zwischen den Elitetruppen des Innenministeriums und der Armee hergestellt werden, wobei die neuen militärischen Spezialtruppen im Antiterrorkrieg und bei Häuserkämpfen einsetzbar sein sollen.
Trotz all dieser Debatten bleibt die indische Armee bei aller Hinwendung zu modernen Technologien weiterhin ein dickfelliges Wesen mit sehr begrenzter Reformbereitschaft. Zudem stellt sich die Frage, ob die Finanzkrise die militärischen Ambitionen Neu-Delhis zurückwerfen kann. Offiziell wird dies verneint. Nach Aussage von Verteidigungsminister Pradeep Kumar, der bis Juli 2009 für die Rüstungsproduktion zuständig war, geht die Modernisierung der indischen Armee weiter, unbeeinträchtigt von der Finanzkrise.22 Wenn es so kommt, wird das Nehru’sche Prinzip einer „moralischen“ und blockfreien Außenpolitik endgültig ausgedient haben.
Olivier Zajec ist Berater der Compagnie Européenne d’Intelligence Stratégique (CEIS), einer privaten Consultingfirma mit Sitz in Paris und Brüssel.