12.03.2020

Urbane Labore

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Urbane Labore

Das neue Selbstbewusstsein großer Städte

von Benoît Breville

Şakir Gökçebağ, ohne Titel, 2012, Stuhl und Teppich, 194 x 85 x 52 cm
Urbane Labore
Diplomatie der Städte

Wer 2020 Bürgermeisterin oder Bürgermeister einer französischen Großstadt werden will, muss ein paar Regeln beachten – zum Beispiel die Baumpflanzpflicht. Im Wahlkampf um das Pariser Rathaus verspricht Amtsinhaberin Anne Hidalgo (PS) innerhalb von sechs Jahren 170 000 neue Bäume. Ihr Konkurrent Cédric Villani von La République en Marche (LREM) setzt sich für ein gigantisches Grünflächenprojekt ein.

In Marseille will Martine Vassal, Kandidatin der Républicains (LR), für jedes neugeborene Kind einen Baum pflanzen – bleibt die Zahl der Geburten auf dem Niveau der letzten Legislaturperiode, wären das 70 000 Bäume und damit das Dreifache dessen, was ihre sozialistische Mitbewerberin Samia Ghali verspricht. In Lille überbieten sich die Kandidatinnen und Kandidaten gegenseitig mit „Stadtwäldern“ und „begrünten Plätzen“.

Mit Urban Gardening allein ist allerdings noch kein Blumentopf zu gewinnen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in spe müssen außerdem versprechen, dass sie umweltfreundliche Häuser bauen, den Radverkehr und das Carsharing fördern, Schulmensen auf Biokost umstellen, die Kultur fördern und die Energiewende voran­treiben. Ihr Programm müssen sie mit Schlagwörtern wie „Innova­tion“, „Transparenz“ und „Mitmachdemokratie“ würzen und möglichst oft das Adjektiv „nachhaltig“ einstreuen: nachhaltige Entwicklung, nachhaltige Stadt, nachhaltiger Tourismus, nachhaltiges Bauen und so weiter.

Alle Kandidatinnen und Kandidaten hantieren mit denselben Begriffen, Floskeln und Ideen, die scheinbar städte- und länderübergreifend von Seatt­le über Montreal bis Berlin anwendbar sind. Als sei Kommunalpolitik nur ein Katalog pragmatischer Antworten und vernünftiger Lösungen für konkrete Probleme.

„Die Nationen reden, die Städte handeln“, verkündete New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg (2002–2013) einst als Vorsitzender der einflussreichen Cities Climate Leadership Group (C40), in der die 94 größten Städte der Welt mit vereinten Kräften den Klimawandel bekämpfen. Bloombergs Slogan hat Schule gemacht. Viele städtische Entscheidungsträger halten die Staaten für unfähig, wirksam zu handeln, weil sie von ideologischen Grabenkämpfen gelähmt werden. Darum müssten sich die Städte zusammentun und für die überforderten Regierungen in die Bresche springen.

Dieser Gedanke bildet den Unterbau der „Städtediplomatie“, die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreicht, als zum Zeichen der Aussöhnung deutsch-französische Städtepartnerschaften gegründet wurden. Seitdem haben sich Städte in allen Teilen der Welt in immer mehr Bündnissen, Foren und Netzwerken zusammengeschlossen. 1985 waren es 55, heute gibt es schon mehr als 200 solcher Städtebündnisse:1 neben den C40 zum Beispiel Eurocities, den Globalen Bürgermeisterkonvent für Klima und Energie, den Internationalen Rat für lokale

Umweltinitiativen (ICLEI), die Vereinigten Städte und lokalen Gebietskörperschaften (CGLU), das Netzwerk der Unesco-Kreativstädte, Mayors for Peace („Bürgermeister für den Frieden“) und das Gesunde-Städte-Netzwerk der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

„Bei Themen wie Ungleichheit, Einwanderung, Gesundheit, Sicherheit, Regierungsführung, Menschenrechte und vielen anderen wichtigen Fragen setzen die Städte sich zunehmend über ihre nationalen Regierungen hinweg und organisieren sich untereinander, um gemeinsam Lösungen zu finden“, freut sich der Politikwissenschaftler Ivo Daalder, der früher US-Präsident Obama im Weißen Haus beriet.2

Die Städtebündnisse genießen die Unterstützung von Weltbank, UN und etlichen multinationalen Konzernen – zu den Sponsoren der letzten C40-Tagung zählten unter anderem Ikea, Microsoft, Google, Velux und Dell Technologies. Die Privatwirtschaft verfolgt inzwischen ihre eigene global vernetzte „Städtediplomatie“: IT-Gigant Cisco gründete City Protocol und die Rockefeller Foundation das „100 Resilient Cities Network“.

Die urbanen Netzwerke surfen nicht nur auf der Welle des grünen Kapitalismus, sie empfehlen auch „Best Practices“, die auf Weltkongressen von Kommune zu Kommune weitergereicht werden. Zwischen 2012 und 2018 verkündete jüngst etwa die C40, habe sie über 14 000 Maßnahmen gegen die Erderwärmung angestoßen.

Die besten Ideen werden alljährlich mit den „C40 Bloomberg Philanthropies Awards“ prämiert. 2019 gab es sieben Preisträger: Londons Ultra Low Emis­sion Zone (ULEZ), Medellíns 30 über die ganze Stadt verteilte „Corredores Verdes“ (Grünkorridore), Accras informelle Müllsammler, Kalkuttas Programm zur Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs, San Franciscos Förderprogramm für erneuerbare Energien (CleanPowerSF), Seouls Solar City Expansion und Guangzhous konsequente Umrüstung auf E-Busse. „Diese Projekte sind so vorbildlich, dass sich Bürgermeister und Stadträte aus der ganzen Welt damit befassen sollten“, erklärte C40-Präsidentin Anne Hidalgo bei der Preisverleihung.

Für Städte, die ihr internationales Profil schärfen wollen, sind derlei Auszeichnungen ein echter Joker. Und Ehrungen gibt es mehr als genug: Jedes Netzwerk, jede Zeitschrift, jede Kommunal-, Regional- oder Landesregierung zeichnet die jeweiligen Musterschüler aus. Die EU-Kommission kürt alljährlich mehrere Städte zu Europäischen Hauptstädten für Umwelt, Kultur, Jugend oder Innovation. Metropolen, die besonders auf die Belange älterer oder körperlich beeinträchtigter Menschen achten, belohnt sie mit dem Access City Award. In Frankreich vergibt das Wirtschaftsministerium den Titel „Tech Champions“, der ausländische Investoren anlocken soll.

Städte, die eine solche Auszeichnung erhalten, können sicher sein, dass sie in der Fachpresse gefeiert werden. Sie werden zu „trendsetting cities“3 , die bestimmen, wo die Entwicklung hingeht: Porto Alegre mit seinem partizipativen Bürgerhaushalt, Singapurs Innenstadtmaut, Bilbaos Strategie der Wirtschaftsbelebung durch Kultur (der berühmte „Guggenheim-Effekt“), Hamburg mit seinem Hochwasserrisikomanagement, Seattle und seine Start-up-Szene, Londons Kompetenz bei der Austragung von sportlichen Großereignissen, Vancouver und sein nachhaltiges Entwicklungsmodell.

Yves Viltard, einer der wenigen französischen Spezialisten für Städtediplomatie, beobachtet einen wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zwischen den Metropolen, „bei dem es auf das Markenimage und ein entsprechendes ‚Branding‘ ankommt“.4 Die Mitgliedschaft in einem Forum wie C40 ist für Großstädte eine ausgezeichnete Möglichkeit, ihr Image aufzupolieren und den Bekanntheitsgrad der eigenen Marke zu steigern. Dies wiederum ist unerlässlich im urbanen Wettrennen um Investoren, Unternehmen und hochqualifizierte Fachkräfte. „Es gibt vielleicht 50 oder 100 Städte, die intellektuell, kulturell oder ökonomisch treibende Kräfte für die ganze Welt sind“, erklärt Rahm Emanuel, der von 2011 bis 2019 Bürgermeister von Chicago war. „Wir müssen unsere Städte wettbewerbsfähig machen. Die Unternehmen, über die wir hier sprechen, agieren nicht nur global, sie sind auch sehr mobil.“5

Um Investoren zu imponieren, lassen sich die Stadträte von Consultingfirmen beraten, die auf Stadtentwicklung spezialisiert sind. Und diese Branche boomt. Mit ihrer standardisierten Sprache helfen die Berater den Kommunen die Bewerbungsunterlagen für die diversen Gütesiegel und Fördermittel gemeinnütziger Stiftungen auszufüllen. Sie kreieren Logos und Werbeslogans – vorzugsweise auf Englisch („Only Lyon“, „So Toulouse“, „My Rodez“) –, die dann auf jeder Broschüre und jeder Website erscheinen und bei Großereignissen plakatiert werden.

Der Wettbewerb zwingt den Städten eine seit den 1990er Jahren als „Benchmarking“ bezeichnete Logik auf. Um Defizite aufzudecken, werden Managementpraktiken, Produkte und Dienstleistungen verglichen. Jede Stadt versucht sich als möglichst innovativ und modern zu präsentieren – unabhängig davon, in welcher Liga sie spielt (national, kontinental oder global).

Preise für Grünanlagen, Solarzellen und Elektrobusse

So präsentierte sich Aix-en-Provence den Investoren kürzlich als zweites San Francisco: „Die Stadt des berühmten Malers Paul Cézanne hat sich gewandelt. Sie wurde mit dem Label ‚French Tech‘ ausgezeichnet und bietet ein attraktives Umfeld für Projektleiter und Firmengründer. Als intelligente vernetzte Stadt, die konsequent auf digitale Innovation und Internationalität setzt, ist Aix-en-Provence modern, kosmopolitisch, reich an Kultur, dynamisch und weltoffen“, heißt es hochtrabend in einer Rathaus-Broschüre der Stabsstelle „Attraktivität und internationale Zusammenarbeit“.

Dass die Metropolen sich gegenseitig Konkurrenz machen, hindert sie nicht daran, zur Verteidigung ihrer Interessen Allianzen zu schmieden und die Städtediplomatie für ihre Lobbyarbeit zu nutzen. Das Netzwerk Eurocities sieht seine Aufgabe darin, „die europäische Politik dahingehend zu beeinflussen, dass bei der Politikgestaltung die Stimme der Großstädte gehört wird“.

Der CGLU rühmt sich seiner „politischen Lobbyarbeit“ in Brüssel, bei der Weltbank und der UNO und fordert „einen europäischen Fonds für die ‚Städtediplomatie‘ “. Der ICLEI will vor allem den Weltklimarat (IPCC) dazu bewegen, die zentrale Rolle der Städte im Kampf gegen die Erderwärmung stärker zu betonen. Und die C40 gründeten 2017 den Verbund „Urban20“, ­dessen ­Zielgruppe die G20-Minister sind.6

Indem sich Kapital und Wertschöpfung mehr und mehr in den Metropolen konzentrieren, verschafft die Globalisierung ihnen auch mehr politisches und kulturelles Gewicht. Egal ob New York oder Peking, sie ziehen die gleichen wohlhabenden und gut ausgebildeten Schichten an und werden sich immer ähnlicher.

Überall entstehen die gleichen Wolkenkratzer, die gleichen sterilen Malls, die gleichen „Kreativcluster“. Vereint kämpfen sie für ihre Interessen, beeinflussen die Zentren der Macht und stellen die politischen Weichen zu ihrem Vorteil. Damit stärken sie ein Entwicklungsmodell der räumlichen Ungleichheit, in dem ländliche Regionen und kleine Gemeinden sich selbst überlassen werden.

Die Kluft zwischen Stadt und Land ist nicht neu, aber sie war selten so groß wie heute. Die einen begrünen Gebäude und stellen die Busse auf Elektroantrieb um, während die anderen ihrem Wohnraum beim Verfallen zuschauen und sich mit ausgedünnten Fahrplänen und mit Bussen begnügen müssen, die nur unregelmäßig und abends, an Feiertagen und am Wochenende überhaupt nicht fahren. Dieser Riss zwischen Stadt und Land, der durch die meisten westlichen Länder geht, ist seit der Krise von 2008 deutlich tiefer geworden.

Im Großraum Paris stieg zwischen 2008 und 2016 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner um 3 Prozent; im übrigen Frankreich stagnierte es. In den USA stieg im gleichen Zeitraum die Erwerbsquote in den Metropolregionen um 4,8 Prozent, während sie abseits der Großstädte um 2,4 Prozent sank. Noch eklatanter ist der Unterschied in Großbritannien: Dort befinden sich 70 Prozent aller seit 2008 neu geschaffenen Jobs in London.7

Für Paris, New York, London oder auch Amsterdam und Toronto war die Krise nur eine flüchtige Episode: Zehn Jahre danach ist die Beschäftigungslage gut, der Immobilienmarkt befindet sich im Höhenflug, die Investitionen sprudeln und die räumliche Konzentration höherer Einkommensklassen ist dichter denn je – auch wenn es natürlich weiterhin Armut gibt, insbesondere in den Sozialbauvierteln.

Die nicht so dicht besiedelten und weniger beliebten Regionen leiden immer noch unter den Auswirkungen der Rezession. Hier hat der Rückgang von Industriearbeitsplätzen für Geringqualifizierte zu einem Bevölkerungsschwund geführt, der wiederum die Immobilienpreise drückt und die Kommunen an den Rand der Pleite geführt hat.

Weniger Einwohner, weniger Jobs, ein zusammenbrechender Wohnungsmarkt – das heißt zugleich weniger Handlungsspielraum für die Kommunen, die die öffentliche Daseinsvorsorge und die Instandhaltung der Infrastruktur vernachlässigen. So verlieren die Regionen weiter an Attraktivität und noch mehr Menschen wandern ab: ein Teufelskreis.

In diesen Regionen haben die ex­treme Rechte und generell nationalistische Parteien, die gegen die Globalisierung und den freien Waren- und Personenverkehr polemisieren, den stärksten Rückhalt. Bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016 feierte Donald Trump seine Triumphe in den Wahlkreisen mit den geringsten Einkommenszuwächsen, einer schwindenden Bevölkerung und hohen Sterberaten. Das Rassemblement Na­tio­nal (vormals Front National) und die Brexit-Befürworter in Großbritannien erzielten ihre besten Ergebnisse dort, wo die Immobilienpreise besonders schnell gesunken sind.8

Umgekehrt holen die Parteien, die sich selbst „progressiv“ nennen und für Freihandel, Öko-Kapitalismus und eine offene Gesellschaft eintreten, die meisten Stimmen in den Metropolen. Hillary Clinton, die damalige Präsidentschaftskandidatin der US-Demokraten, gewann 2016 in 88 der 100 bevölkerungsreichsten Gemeinden, zu denen auch die Großstädte gehören, während ihr Kontrahent zum Beispiel in Washington, D. C., nur 4 Prozent der Wählerstimmen bekam.

Das gleiche Bild zeigt sich in Ungarn. Budapest wird seit Oktober 2019 von Gergely Karácsony regiert, einem Umweltschützer und erbitterten Gegner von Ministerpräsident Viktor Orbán. In Prag wurde im November 2018 mit Zdeněk Hřib ein Mitglied der Piratenpartei zum Bürgermeister gewählt. In acht Jahren will er 1 Million Bäume pflanzen. Außerdem setzt er sich für Geflüchtete ein, im Unterschied zu Tschechiens umstrittenen Ministerpräsidenten Andrej Babiš, der wettert, dass in Europa „die Einwohnerzahl durch Einwanderung stabilisiert“ werde.

Sogar in Istanbul, wo vor 25 Jahren der Aufstieg des islamisch-konservativen Recep Tayyip Erdoğan begann, kam im vergangenen Jahr mit Ekrem İmam­oğlu ein laizistischer Sozialdemokrat ans Ruder. „Die Koalition der säkularisierten Städter – die Geschäftsleute, die Jugend, die Frauen und die Minderheiten – hat aktiv mobilgemacht. Türken, Kurden, Usbeken leben Tür an Tür mit Senegalesen, Katarern oder Syrern. Istanbuler der siebten Generation leben mit Migranten, Expats und Geflüchteten zusammen. Sie sind durch die gemeinsame urbane Identität verbunden“, begeisterte sich die Washington Post.

Auf dem Davoser Weltwirtschaftsforum zeigt man sich besonders enthusiastisch und sieht in den Metropolen sogar ein „Antidot gegen den Populismus“: In den meisten Städten der Welt werde Politik, Wirtschaft und ökologisches Handeln neu erfunden. Einige von ihnen entwickelten eine positive, inklusive und pluralistische Vision der Zukunft, während die nationalistischen Führungsfiguren Angst säen, Grenzen dichtmachen und Mauern hochziehen. Das Millionärstreffen in den Schweizer Bergen konstatiert, dass „die Werte und Prioritäten der Stadt- und der Landbevölkerung immer weiter aus­ein­anderdriften“, und ruft die Metropolen dazu auf, ihre „Städtediplomatie zu intensivieren“.9

Der ehemalige Obama-Berater Daalder empfiehlt den Städten sogar, an wichtigen Schaltstellen „Minibotschaften“ einzurichten, um dort ihre Interessen wahrzunehmen und sich gegebenenfalls über die Blockadehaltung ihrer Zentralregierungen hinwegzusetzen. São Paulo, London und Toronto haben schon Versuche in diese Richtung unternommen, ernteten jedoch Protest aus der Bürgerschaft, die eine Verschwendung von Steuergeldern witterte. Eine mögliche Lösung wären laut Daalder Public-private-Partnerships.

Manche Städte haben ihren Kreuzzug gegen den Rechtsnationalismus bereits eingeläutet. Im vergangenen Dezember unterzeichneten die Bürgermeister von Prag, Bratislava, Warschau und Budapest einen „Pakt der freien Städte“. Sie stellten sich gegen ihre Zentralregierungen und warfen ihnen vor, sie würden jenen fremdenfeindlichen Nationalismus verbreiten, der Europa im vergangenen Jahrhundert in zwei Kriege gestürzt hat: „Wir klammern uns nicht an veraltete Souveränitäts- und Identitätsvorstellungen. Wir glauben an eine offene Gesellschaft, die auf unseren kostbaren gemeinsamen Werten aufbaut: Freiheit, Menschenwürde, Demokratie, Nachhaltigkeit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Toleranz und kulturelle Vielfalt“, schreiben die vier Stadtoberhäupter.

Auch in den USA haben sich die Metropolen als Widersacher des Präsidenten in Stellung gebracht. Kaum war Trump ins Weiße Haus eingezogen, kündigten im Januar 2017 die Rathäuser von San Francisco, Los Angeles, Seatt­le, Boston, New York, Washington, Detroit und Chicago an, dessen Erlasse zur verschärften Bekämpfung der illegalen Einwanderung nicht umzusetzen. Marty Walsh, der Bürgermeister von Boston, empörte sich über die „destruktive“ und „antiamerikanische“ Gesetzgebung und bezeichnete sie als „Angriff auf die Bürgerinnen und Bürger von Boston, auf Bostons Stärke und seine Werte“.

Seine Washingtoner Amtskollegin Muriel Bowser zürnte, „unsere Stadt und unsere Werte haben sich nicht mit dem Wahltag geändert. Wir sind nicht die Bediensteten des Weißen Hauses.“10 Einige Monate später machten die Metropolen Front gegen Trumps Umweltpolitik und erklärten, dass sie sich ungeachtet des von Trump beschlossenen Ausstiegs an das Pariser Klimaabkommen halten werden.

In Großbritannien wirkte der Brexit als Brandbeschleuniger. Kurz nach dem Referendum vom Juni 2016 unterzeichneten 180 000 Menschen eine Petition für Londons Unabhängigkeit. Vier Tage nach Bekanntgabe der Resultate schrieb Bürgermeister Sadiq Khan gemeinsam mit Anne Hidalgo einen offenen Brief, der in der Financial Times und im Le Parisien erschien: „Unsere Städte sind Orte, an denen jeder Mensch sich unabhängig von seiner Herkunft zu Hause fühlen kann. Als Bürgermeisterin von Paris und Bürgermeister von London sind wir fest entschlossen, noch enger zusammenzuarbeiten und noch festere Bündnisse zwischen den Städten Europas und der Welt zu schmieden. Gemeinsam können wir ein Gegengewicht zur Lethargie der Nationalstaaten und zum Einfluss der Lobbyisten bilden. Gemeinsam werden wir das vor uns liegende Jahrhundert gestalten.“

Zur Beruhigung der Touristen und Investoren startete Khan außerdem eine Kommunikationsoffensive unter dem Hashtag #LondonIsOpen. Mit Unterstützung der Industrie- und Handelskammer, der Gebietskörperschaft der City of London sowie etlicher Thinktanks und multinationaler Konzerne forderte er die Einführung eines nur in London gültigen Arbeitsvisums und einen ex­tra­territorialen Sonderstatus der Hauptstadt für den EU-Binnenmarkt.

Londons Sonderweg in Zeiten des Brexit

Keine dieser Forderungen wurde erfüllt, aber durch seine unbeugsame Haltung erreichte Khan einen für Bürgermeister ungewohnten internationalen Status und teilt inzwischen regelmäßig das Podium mit Ministern und Regierungschefs aus aller Welt wie Justin Trudeau, Mauricio Macri und Emma­nuel Macron.

Bei der linken Presse stößt derlei Widerstand auf Begeisterung. In ihrem aktuellen Sonderheft „Les villes prennent le pouvoir“ (Die Städte übernehmen die Macht) wertet das Monatsmagazin Regards den Aufstand der US-Metropolen als Beweis dafür, „dass es Handlungsspielräume für den Widerstand gegen US-Präsident Trumps repressive Politik gibt“.

Solche Überlegungen reißen die Gräben zwischen Stadt und Land jedoch noch weiter auf. Zugleich tragen sie dazu bei, sozio­geografische Unterschiede zu Werte­konflikten umzudeuten. Die Trennlinie verläuft nicht mehr zwischen Regionen, die von Globalisierung, Freihandel, dem Zuzug von Fachkräften und Arbeitsmigration profitieren, und anderen Regionen, die unter diesen Phänomenen leiden, sondern zwischen zukunftsorientierten offenen Lebensräumen und traditionsverhafteten geschlossenen Lebensräumen.

2014 veröffentlichte der einflussreiche Politologe Benjamin Barber, ehemals Berater von US-Präsident Clinton, ein Buch mit dem Titel „If Mayors Ruled the World“ (Wenn Bürgermeister die Welt regieren).11 In dem bei Politikern beliebten Werk, das seinem Autor zahlreiche Interviews, Einladungen und Vortragsangebote bescherte, stellt Barber eine Liste von Merkmalen auf, die auf unfreiwillig komische Weise illustriert, wie die urbanen Eliten ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger sehen. In den Metropolen und Großstädten sind die Menschen laut Barber „offen“, „kreativ“, „kosmopolitisch“, „mobil“, „flexibel“ und „progressiv“. Das ländliche und kleinstädtische Nordamerika charakterisiert er hingegen als „verschlossen“, „konventionell“, „unbeweglich“, „konservativ“ oder „einfach“.

Der Politikwissenschaftler Lawrence R. Jacobs blickt über den Tellerrand solcher Klischees. Im Bundesstaat Minnesota, in dem er lehrt und wo Donald Trump fast 20 Landkreise gewann, die 2008 und 2012 mehrheitlich für Barack Obama gestimmt hatten, forschte er nach den Ursachen für die große Kluft zwischen Stadt und Land.12 Er verweist zunächst auf die großen Gehaltsunterschiede zwischen Minneapolis und dem Rest des Bundesstaats. 2017 beschloss die Metropole, den Mindestlohn schrittweise auf 15 Dollar pro Stunde anzuheben – eine Maßnahme, mit der inzwischen viele Großstädte bewirken wollen, dass sich gering qualifizierte Arbeitskräfte trotz explodierender Immobilienpreise eine Wohnung leisten können; meistens gelingt das mehr schlecht als recht.

Anderswo in Minnesota zahlen große Unternehmen 10 Dollar und Kleinbetriebe 8,15 Dollar Mindestlohn – sofern die Landbewohner überhaupt einen Job finden. Die von Jacobs befragten Menschen empfinden die Lohnschere als Ausgrenzung. „In Minneapolis sieht man auf Schritt und Tritt Schilder mit der Aufschrift ‚Wir stellen ein‘, mit Stundenlöhnen ab 15 Dollar aufwärts“, erzählt ein Kleinstadtbewohner, der händeringend einen Job sucht.

Jacobs dokumentiert auch, wie die abgehobene Rhetorik, mit der das „progressive“ Lager bei der urbanen Oberschicht von Minneapolis punkten will, auf die übrigen Bewohner in dem Bundesstaat wirkt. Insbesondere führt er an, das Mandatsträger in Minneapolis und die Anhänger der Demokraten bei jeder Gelegenheit ihren Kampf gegen rassistische Diskriminierung und das „white privilege“ (Weißsein als Privileg) im Munde führen. In einigen der ärmsten Landkreise Minnesotas seien jedoch bis zu 95 Prozent der Bevölkerung weiß.

Die Menschen, die dort leben, arbeiten zu Niedriglöhnen, erfahren so­zia­le Unsicherheit und fühlen sich alles andere als privilegiert, zumal wenn sie nach Minneapolis schauen. Sie reden nicht vom „white privilege“, sondern vom „Privileg der Großstadt“, von dem Angehörige ethnischer Minderheiten ebenso profitierten wie weiße Büroangestellte, die ihren Lebensunterhalt verdienen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen.

Während Großstädte über Landesgrenzen hinweg immer engere Bande knüpfen, koppeln sie sich von Teilen des eigenen Landes ab. Ihre immer gleichen Formeln von Innovation, Offenheit, Nachhaltigkeit und Kreativität können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich auf eine nie dagewesene Art und Weise auf Kosten anderer Regionen bereichern. Ob sie sich damit als besonders wirksames „Heilmittel gegen Populismus“ empfehlen, darf bezweifelt werden.

1 Michele Acuto, „Give cities a seat at the top table“, Nature, Bd. 537, Nr. 7622, London, 28. September 2016.

2 Ivo Daalder, „Why cities need their own foreign policy“, Politico, 6. Juni 2017, www.politico.com.

3 Vincent Béal, „ ‚Trendsetting cities‘: les modèles à l’heure des politiques urbaines néolibérales“, Métropolitiques, 30. Juni 2014, www.metropolitiques.eu.

4 Yves Viltard, „Diplomatie des villes: collectivités territoriales et relations internationales“, Politique étrangère, Nr. 3, Paris, Herbst 2010.

5 Zitiert nach Ronald Brownstein, „The growing gap between town and country“, The Atlantic, 22. September 2016.

6 Michele Acuto und Simon Curtis, „The foreign policy of cities2, The RUSI Journal, Bd. 163, Nr. 6, London, Dezember 2018.

7 Roberto Stefan Foa und Jonathan Wilmot, „The West has a resentment epidemic“, Foreign Policy, Washington, D. C., 18. September 2019; Thomas B. Edsall, „Rea­ching out the voters the left left behind“, The New York Times, 13. April 2017.

8 David Adler und Ben Ansell, „Housing and populism“, West European Politics, Bd. 43, Nr. 2, Abingdon-on-­Thames (Großbritannien) Juni 2019.

9 Robert Muggah und Misha Glenny, „Populism is poison. Plural cities are the antidote“, Weltwirtschaftsforum, Davos, 4. Januar 2017, www.weforum.org.

10 Zitiert nach Nicolas Maisetti, „Le Retour des villes dissidentes“, Bericht für den Minister für ökologischen und solidarischen Wandel, Paris, Oktober 2018. www.urbanisme-puca.gouv.fr/IMG/pdf/ouvrage_maisetti_web.pdf.

11 Benjamin Barber, „If Mayors Ruled the World: Dysfunctional Nations, Rising Cities“, Hew Haven (Yale University Press) 2014. Vgl. den Essay auf Deutsch: „Wenn Bürgermeister die Welt regieren“, Internationale Politik, November/Dezember 2017. internationalepolitik.de/de/wenn-buergermeister-die-welt-regieren.

12 Lawrence R. Jacobs, „Minnesota’s urban-rural di­vide is no lie“, Star Tribune, Minneapolis, 26. Juli 2019.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Diplomatie der Städte

Als Geburtsstunde der „Städtediplomatie“ gilt die frühe Nachkriegszeit. Im Zeichen der Versöhnung entstanden damals die ersten deutsch-französischen Städtepartnerschaften. Den Anfang machten im Mai 1950 Ludwigsburg und Montbéliard (Region Bourgogne-Franche-Comté). Als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle am 22. Januar 1963 im Pariser Élysée-Palast den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag unterschrieben, gab es bereits 130 solcher Städtepartnerschaften. Und inzwischen machten auch andere Länder mit: Das französische Troyes und das belgische Tournai besiegelten ihre Partnerschaft 1951, Paris und Rom 1956. „In einer Städtepartnerschaft finden sich zwei Städte oder Gemeinden zusammen, die im Sinne der europäischen Idee zusammenwirken wollen, um ihre Probleme anzugehen und immer engere freundschaftliche Bande zu knüpfen“, erklärte der 1951 gegründete Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE).

Das Ideal der europäischen Freundschaft gehört bis heute zum Leitbild der Stä­dte­diplomatie. Im Mai 2015 erklärte das Pariser Stadtparlament, der Conseil de Paris, in einer Verlautbarung zum internationalen Engagement der Hauptstadt: „Wir haben heute die Aufgabe, für Europa zu werben, indem wir es den Pariserinnen und Parisern näherbringen und den Austausch mit anderen europäischen Städten intensivieren. Dabei stützen wir uns auf unsere engen Beziehungen zu Rom, Amsterdam, Wien oder Lissabon und auf einen verstärkten Dialog mit der Europäischen Kommission in Brüssel.“

In den USA knüpfen die Städte, die heute gegen Donald Trumps Migrationspolitik opponieren, an eine Protesttradition, die aus der Zeit des Vietnamkriegs (1961–1975) stammt. Damals forderten zahlreiche Stadträte in Resolutionen ein Ende des US-Militäreinsatzes in Nordvietnam. Später engagierten sich nach dem Vorbild von Missoula (Montana) 1978, Takoma Park (Maryland) 1983 oder Berkeley (Kalifornien) 1986 viele Städte im Kampf gegen die zivile und militärische Nutzung der Atomenergie. Sie erklärten sich zu „denuklearisierten Zonen“ oder weigerten sich, öffentliche Aufträge an Unternehmen zu vergeben, die mit der Nuklearbranche verbandelt waren.

In den 1980er Jahren wandten sich rund 100 Städte und Gemeinden gegen die Südafrikapolitik von US-Präsident Reagan und boykottierten Unternehmen, die mit dem Apartheidregime Geschäfte machten. Etwa zur gleichen Zeit kam die Bewegung der „sanctuary cities“ auf, die Migranten aus Mittelamerika Zuflucht boten.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2020, von Benoît Breville